Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Mcihrheit auf der Bühne

selbst müssen), so fühlt man. wie es in Wahrheit um die Überzeugung be¬
schaffen ist. Der Tag beherrscht alle diese Geister, und sie sind meist so
bereit, sich auch dem kommenden Tage unterzuordnen, wie es die wütendsten
Konvcntsmitglieder waren, sich in Ordnnngsgendarmen und Polizeispitzel des
ersten Konsuls zu verwandeln. Wenn sich nur ein Tausendstel aller derer, die
mit der kritischen Schreckensherrschaft, mit den, gewaltsame" Aufdrängen einer
geistigen Nahrung, die nicht ihre Nahrung ist und niemals sein wird, unzu¬
frieden und die Faust in der Tasche darüber empört sind, regen wollte,
so würden wir bald genug davon erlöst sein. Glaubt man im Ernst, die
Berliner Zeitungen, die gleichgiltig gegen die Fragen der Wissenschaft, der
Kunst und der Litteratur die Bekenner der "Moderne" in ihren Spalten wirt¬
schaften lassen, würden es auf den Verlust ihrer Abonnenten ankommen
lassen, wenn ihnen täglich nnr ein paar Dutzend Postkarten ins Haus
hagelten, die die wahre Gesinnung ihrer Leser ausdrückten? Glaubt mau,
daß diesem ganzen Gesetze und Getreide ein festes Prinzip, das zu Widerstand
und Opfern befähigte, zu Grnnde liege? Wenn je eine Schreckensherrschaft
auf schwachen Füßen gestanden oder vielmehr auf schwachen Köpfen beruht
hat, so ist es die neueste, die uns einschüchtern will, bis wir Rafael und
Goethe für Zöpfe, das Ekelhafte allein für charakteristisch und ein paar
häßliche Erscheinungen eines jämmerlich kleinen Bruchteils der Welt für die
Welt selbst zu halten geneigt sind. Man mache die Probe an jedem be¬
liebigen Tage und warte auf keinen neunten Thermidor!




Die Wahrheit auf der Bühne

le Wohlthäter der Menschheit, die entdeckt haben, was all den
Jahrtausenden vor uns verborgen geblieben war, nämlich was
die Kunst sei, werden von unverbesserlichen Reaktionären (leider
auch in diesen Blättern!) geschmäht und verspottet. Das ist
kein Wunder. Es ist die heutige Form des Kreuzigeus und
Verbrennens, das sogar Goethe', der alte Zopf, den wenigen in Aussicht stellt,
die dem Pöbel ihr Gefühl, ihr Schauen offenbaren. Und wie sollten unsre
Schriftgelehrten und Pharisäer, denen eingeredet worden ist, das Abschreiben
der gemeinen Natur sei so wenig eine Kunst, wie das Abformen eines Reliefs
vermöge des galvanische" Niederschlages, plötzlich ihren Irrtum einsehen und
eingestehen, daß die Kunst um so größer ist, je gemeiner die Natur ist, die


Die Mcihrheit auf der Bühne

selbst müssen), so fühlt man. wie es in Wahrheit um die Überzeugung be¬
schaffen ist. Der Tag beherrscht alle diese Geister, und sie sind meist so
bereit, sich auch dem kommenden Tage unterzuordnen, wie es die wütendsten
Konvcntsmitglieder waren, sich in Ordnnngsgendarmen und Polizeispitzel des
ersten Konsuls zu verwandeln. Wenn sich nur ein Tausendstel aller derer, die
mit der kritischen Schreckensherrschaft, mit den, gewaltsame» Aufdrängen einer
geistigen Nahrung, die nicht ihre Nahrung ist und niemals sein wird, unzu¬
frieden und die Faust in der Tasche darüber empört sind, regen wollte,
so würden wir bald genug davon erlöst sein. Glaubt man im Ernst, die
Berliner Zeitungen, die gleichgiltig gegen die Fragen der Wissenschaft, der
Kunst und der Litteratur die Bekenner der „Moderne" in ihren Spalten wirt¬
schaften lassen, würden es auf den Verlust ihrer Abonnenten ankommen
lassen, wenn ihnen täglich nnr ein paar Dutzend Postkarten ins Haus
hagelten, die die wahre Gesinnung ihrer Leser ausdrückten? Glaubt mau,
daß diesem ganzen Gesetze und Getreide ein festes Prinzip, das zu Widerstand
und Opfern befähigte, zu Grnnde liege? Wenn je eine Schreckensherrschaft
auf schwachen Füßen gestanden oder vielmehr auf schwachen Köpfen beruht
hat, so ist es die neueste, die uns einschüchtern will, bis wir Rafael und
Goethe für Zöpfe, das Ekelhafte allein für charakteristisch und ein paar
häßliche Erscheinungen eines jämmerlich kleinen Bruchteils der Welt für die
Welt selbst zu halten geneigt sind. Man mache die Probe an jedem be¬
liebigen Tage und warte auf keinen neunten Thermidor!




Die Wahrheit auf der Bühne

le Wohlthäter der Menschheit, die entdeckt haben, was all den
Jahrtausenden vor uns verborgen geblieben war, nämlich was
die Kunst sei, werden von unverbesserlichen Reaktionären (leider
auch in diesen Blättern!) geschmäht und verspottet. Das ist
kein Wunder. Es ist die heutige Form des Kreuzigeus und
Verbrennens, das sogar Goethe', der alte Zopf, den wenigen in Aussicht stellt,
die dem Pöbel ihr Gefühl, ihr Schauen offenbaren. Und wie sollten unsre
Schriftgelehrten und Pharisäer, denen eingeredet worden ist, das Abschreiben
der gemeinen Natur sei so wenig eine Kunst, wie das Abformen eines Reliefs
vermöge des galvanische» Niederschlages, plötzlich ihren Irrtum einsehen und
eingestehen, daß die Kunst um so größer ist, je gemeiner die Natur ist, die


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0246" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/211414"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Mcihrheit auf der Bühne</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_763" prev="#ID_762"> selbst müssen), so fühlt man. wie es in Wahrheit um die Überzeugung be¬<lb/>
schaffen ist. Der Tag beherrscht alle diese Geister, und sie sind meist so<lb/>
bereit, sich auch dem kommenden Tage unterzuordnen, wie es die wütendsten<lb/>
Konvcntsmitglieder waren, sich in Ordnnngsgendarmen und Polizeispitzel des<lb/>
ersten Konsuls zu verwandeln. Wenn sich nur ein Tausendstel aller derer, die<lb/>
mit der kritischen Schreckensherrschaft, mit den, gewaltsame» Aufdrängen einer<lb/>
geistigen Nahrung, die nicht ihre Nahrung ist und niemals sein wird, unzu¬<lb/>
frieden und die Faust in der Tasche darüber empört sind, regen wollte,<lb/>
so würden wir bald genug davon erlöst sein. Glaubt man im Ernst, die<lb/>
Berliner Zeitungen, die gleichgiltig gegen die Fragen der Wissenschaft, der<lb/>
Kunst und der Litteratur die Bekenner der &#x201E;Moderne" in ihren Spalten wirt¬<lb/>
schaften lassen, würden es auf den Verlust ihrer Abonnenten ankommen<lb/>
lassen, wenn ihnen täglich nnr ein paar Dutzend Postkarten ins Haus<lb/>
hagelten, die die wahre Gesinnung ihrer Leser ausdrückten? Glaubt mau,<lb/>
daß diesem ganzen Gesetze und Getreide ein festes Prinzip, das zu Widerstand<lb/>
und Opfern befähigte, zu Grnnde liege? Wenn je eine Schreckensherrschaft<lb/>
auf schwachen Füßen gestanden oder vielmehr auf schwachen Köpfen beruht<lb/>
hat, so ist es die neueste, die uns einschüchtern will, bis wir Rafael und<lb/>
Goethe für Zöpfe, das Ekelhafte allein für charakteristisch und ein paar<lb/>
häßliche Erscheinungen eines jämmerlich kleinen Bruchteils der Welt für die<lb/>
Welt selbst zu halten geneigt sind. Man mache die Probe an jedem be¬<lb/>
liebigen Tage und warte auf keinen neunten Thermidor!</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Die Wahrheit auf der Bühne</head><lb/>
          <p xml:id="ID_764" next="#ID_765"> le Wohlthäter der Menschheit, die entdeckt haben, was all den<lb/>
Jahrtausenden vor uns verborgen geblieben war, nämlich was<lb/>
die Kunst sei, werden von unverbesserlichen Reaktionären (leider<lb/>
auch in diesen Blättern!) geschmäht und verspottet. Das ist<lb/>
kein Wunder. Es ist die heutige Form des Kreuzigeus und<lb/>
Verbrennens, das sogar Goethe', der alte Zopf, den wenigen in Aussicht stellt,<lb/>
die dem Pöbel ihr Gefühl, ihr Schauen offenbaren. Und wie sollten unsre<lb/>
Schriftgelehrten und Pharisäer, denen eingeredet worden ist, das Abschreiben<lb/>
der gemeinen Natur sei so wenig eine Kunst, wie das Abformen eines Reliefs<lb/>
vermöge des galvanische» Niederschlages, plötzlich ihren Irrtum einsehen und<lb/>
eingestehen, daß die Kunst um so größer ist, je gemeiner die Natur ist, die</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0246] Die Mcihrheit auf der Bühne selbst müssen), so fühlt man. wie es in Wahrheit um die Überzeugung be¬ schaffen ist. Der Tag beherrscht alle diese Geister, und sie sind meist so bereit, sich auch dem kommenden Tage unterzuordnen, wie es die wütendsten Konvcntsmitglieder waren, sich in Ordnnngsgendarmen und Polizeispitzel des ersten Konsuls zu verwandeln. Wenn sich nur ein Tausendstel aller derer, die mit der kritischen Schreckensherrschaft, mit den, gewaltsame» Aufdrängen einer geistigen Nahrung, die nicht ihre Nahrung ist und niemals sein wird, unzu¬ frieden und die Faust in der Tasche darüber empört sind, regen wollte, so würden wir bald genug davon erlöst sein. Glaubt man im Ernst, die Berliner Zeitungen, die gleichgiltig gegen die Fragen der Wissenschaft, der Kunst und der Litteratur die Bekenner der „Moderne" in ihren Spalten wirt¬ schaften lassen, würden es auf den Verlust ihrer Abonnenten ankommen lassen, wenn ihnen täglich nnr ein paar Dutzend Postkarten ins Haus hagelten, die die wahre Gesinnung ihrer Leser ausdrückten? Glaubt mau, daß diesem ganzen Gesetze und Getreide ein festes Prinzip, das zu Widerstand und Opfern befähigte, zu Grnnde liege? Wenn je eine Schreckensherrschaft auf schwachen Füßen gestanden oder vielmehr auf schwachen Köpfen beruht hat, so ist es die neueste, die uns einschüchtern will, bis wir Rafael und Goethe für Zöpfe, das Ekelhafte allein für charakteristisch und ein paar häßliche Erscheinungen eines jämmerlich kleinen Bruchteils der Welt für die Welt selbst zu halten geneigt sind. Man mache die Probe an jedem be¬ liebigen Tage und warte auf keinen neunten Thermidor! Die Wahrheit auf der Bühne le Wohlthäter der Menschheit, die entdeckt haben, was all den Jahrtausenden vor uns verborgen geblieben war, nämlich was die Kunst sei, werden von unverbesserlichen Reaktionären (leider auch in diesen Blättern!) geschmäht und verspottet. Das ist kein Wunder. Es ist die heutige Form des Kreuzigeus und Verbrennens, das sogar Goethe', der alte Zopf, den wenigen in Aussicht stellt, die dem Pöbel ihr Gefühl, ihr Schauen offenbaren. Und wie sollten unsre Schriftgelehrten und Pharisäer, denen eingeredet worden ist, das Abschreiben der gemeinen Natur sei so wenig eine Kunst, wie das Abformen eines Reliefs vermöge des galvanische» Niederschlages, plötzlich ihren Irrtum einsehen und eingestehen, daß die Kunst um so größer ist, je gemeiner die Natur ist, die

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/246
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/246>, abgerufen am 23.07.2024.