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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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liebsten Werke der Dichtung der Konfiskation und Anklage hätte verfallen
können, um gegen eine Hilfe, die keine wahre Hilfe ist und nie eine sein
kann, gestimmt zu werdeu. Noch ganz abgesehen von der Möglichkeit grober
Mißgriffe steht es doch von vornherein sest, daß sich die angerufnen Polizei-
und Staatsmaßregeln immer nur gegen die Werke richten werden, die in
plumper Sachlichkeit oder herausfordernder Angriffslust allzusehr die schlechten
Gelüste ihrer Verfasser verraten, daß hingegen alle frei ausgehe" müssen, die
eine noch so durchsichtige Maske der gesellschaftlichen Studie oder auch die
bekannte Feigenblattschürzc vorbinden, die überall zu kurz ist, oder die mit so¬
genanntem Humor die eigentlichen letzten Absichten und Wirkungen ihrer Pro¬
duktionen decken. Dazu würde die schreiendste Ungleichheit und der lächer¬
lichste Widerspruch unvermeidlich sein; nicht zwanzig Gesetzvollstrecker würden
auf diesem bedenklichen Gebiete dieselben Begriffe von erlaubt und unerlaubt
haben, das eine, ungeschickte Greuelstück würde ans dem gleichen Theater nach
der ersten Aufführung verboten, das andre viel schlimmere, aber geschicktere,
fünfzigmal gespielt werden, ein von Schmutz leicht angespritztes Vues
würde verboten sein und ein andres schnmtzstarrendes frei umlaufen. Und
zuletzt -- warum sollen Polizei und Gerichte die Geschäfte der öffentliche"
Meinung besorgen, warum wollen wir in trüger Gleichgiltigkeit und unbe¬
rechtigter Furcht nicht selbst die Abschüttlung des Jochs übernehmen, das uns
auferlegt werden soll? Der Schrecken ist nur so lange eine Wirklichkeit, als
wir ihn ertragen, schweigend ertragen und durch irgendwelche Teilnahme an
seinem Gebcchren stärken und befördern.

Wir sprechen mit Absicht von einer kritischen Schreckensherrschaft. Denn
nicht darunter leiden wir in Deutschland, daß eine große Zahl von unerquick¬
lichen und sowohl ihrem innersten Kern als ihrer künstlerischen Ausführung
nach fragwürdigen und schlechthin verächtlichen Produktionen sich mit auf¬
dringlicher Selbstverherrlichung hervordrängt. Im Ernst sind ja die fraglichen
Leistungen überall noch in der Minderheit, auch in den leidlichsten von ihnen
offenbart sich kein großes irreführendes Talent, wie es Ibsen oder Zola zu
Gebote steht. Die Aufnahmefähigkeit unsers Publikums für den Hautgout
der Franzosen-, Russen- und Nvrwegernachahmung, die trotz alles Geschreis nach
Wahrheit unser gesamtes Leben zur Fratze verzerrt, ist verhältmsmäßig gering,
das Bedürfnis nach gesunderer Kunst und anmutigerer Unterhaltung unaus¬
rottbar. Woran wir leiden, das ist recht eigentlich die eliquenhafte, den That¬
sachen ins Gesicht schlagende prinzipielle Verherrlichung der jämmerlichsten
Produkte, der laute und stille Vorsatz, durch unablässige Wiederholung
tausendmal widerlegter Phrasen das deutsche Publikum endlich an die Vor¬
stellung zu gewöhnen, daß alles veraltet sei, was seineu Stoff nicht aus der
Berliner Gosse und seine Anschauungen nicht aus der Pariser Kloake schöpft,
Kritische Schreckensherrschaft ist es, daß den Lesern namentlich reichshaupt-


liebsten Werke der Dichtung der Konfiskation und Anklage hätte verfallen
können, um gegen eine Hilfe, die keine wahre Hilfe ist und nie eine sein
kann, gestimmt zu werdeu. Noch ganz abgesehen von der Möglichkeit grober
Mißgriffe steht es doch von vornherein sest, daß sich die angerufnen Polizei-
und Staatsmaßregeln immer nur gegen die Werke richten werden, die in
plumper Sachlichkeit oder herausfordernder Angriffslust allzusehr die schlechten
Gelüste ihrer Verfasser verraten, daß hingegen alle frei ausgehe» müssen, die
eine noch so durchsichtige Maske der gesellschaftlichen Studie oder auch die
bekannte Feigenblattschürzc vorbinden, die überall zu kurz ist, oder die mit so¬
genanntem Humor die eigentlichen letzten Absichten und Wirkungen ihrer Pro¬
duktionen decken. Dazu würde die schreiendste Ungleichheit und der lächer¬
lichste Widerspruch unvermeidlich sein; nicht zwanzig Gesetzvollstrecker würden
auf diesem bedenklichen Gebiete dieselben Begriffe von erlaubt und unerlaubt
haben, das eine, ungeschickte Greuelstück würde ans dem gleichen Theater nach
der ersten Aufführung verboten, das andre viel schlimmere, aber geschicktere,
fünfzigmal gespielt werden, ein von Schmutz leicht angespritztes Vues
würde verboten sein und ein andres schnmtzstarrendes frei umlaufen. Und
zuletzt — warum sollen Polizei und Gerichte die Geschäfte der öffentliche»
Meinung besorgen, warum wollen wir in trüger Gleichgiltigkeit und unbe¬
rechtigter Furcht nicht selbst die Abschüttlung des Jochs übernehmen, das uns
auferlegt werden soll? Der Schrecken ist nur so lange eine Wirklichkeit, als
wir ihn ertragen, schweigend ertragen und durch irgendwelche Teilnahme an
seinem Gebcchren stärken und befördern.

Wir sprechen mit Absicht von einer kritischen Schreckensherrschaft. Denn
nicht darunter leiden wir in Deutschland, daß eine große Zahl von unerquick¬
lichen und sowohl ihrem innersten Kern als ihrer künstlerischen Ausführung
nach fragwürdigen und schlechthin verächtlichen Produktionen sich mit auf¬
dringlicher Selbstverherrlichung hervordrängt. Im Ernst sind ja die fraglichen
Leistungen überall noch in der Minderheit, auch in den leidlichsten von ihnen
offenbart sich kein großes irreführendes Talent, wie es Ibsen oder Zola zu
Gebote steht. Die Aufnahmefähigkeit unsers Publikums für den Hautgout
der Franzosen-, Russen- und Nvrwegernachahmung, die trotz alles Geschreis nach
Wahrheit unser gesamtes Leben zur Fratze verzerrt, ist verhältmsmäßig gering,
das Bedürfnis nach gesunderer Kunst und anmutigerer Unterhaltung unaus¬
rottbar. Woran wir leiden, das ist recht eigentlich die eliquenhafte, den That¬
sachen ins Gesicht schlagende prinzipielle Verherrlichung der jämmerlichsten
Produkte, der laute und stille Vorsatz, durch unablässige Wiederholung
tausendmal widerlegter Phrasen das deutsche Publikum endlich an die Vor¬
stellung zu gewöhnen, daß alles veraltet sei, was seineu Stoff nicht aus der
Berliner Gosse und seine Anschauungen nicht aus der Pariser Kloake schöpft,
Kritische Schreckensherrschaft ist es, daß den Lesern namentlich reichshaupt-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/244>, abgerufen am 23.07.2024.