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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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des Verfassers entsprungen und getränkt mit praktischer englischer Lebensweisheit.
Der Übersetzer, Fritz Schultze, stellte es schon in den siebziger Jahren Pestalozzis
"Buch der Mütter" an die Seite. In der That hat es, wie dieses, nach¬
haltig angeregt und als Sauerteig in der schwerfälligen Kuetmasse der her¬
kömmlichen Erziehung gewirkt. Namentlich finden sich die gegenwärtig em¬
pfohlenen Reformideen über den Geschichtsunterricht schon sehr ausführlich bei
Spencer; der Kulturgeschichte redet er kräftig das Wort. Er behauptet u. a.,
daß das, was Geschichte im eigentlichen Sinne ausmache, zum großen Teil
in den Geschichtswerken fehle. Er will eine Naturgeschichte der Gesellschaft,
eine scharfe Beleuchtung der Thatsachen, die uus dazu verhelfen sollen, das
Wachstum und den Organisationsprozeß einer Nation zu verstehen. Vieles,
sehr vieles aber von dem, was jetzt gelehrt werde, erweise sich als zum Ver¬
ständnis oder zur Führung des Lebens kaum brauchbar.

Sicher ist, daß die Saat der Reform, die Spencer als einer der ersten
auf diesem Gebiete ausgestreut hat, endlich aufgegangen ist, wenn auch in
etwas andrer Gestalt, als er sichs denkt. Zwischen dem guten Willen und
der That aber scheint gerade für die Praxis des Geschichtsunterrichts noch
eine Kluft zu liegen, die schwer zu überbrücken ist. Die alte, hergebrachte
Methode ist mächtiger, als man gewöhnlich meint. Eine Losung wie: Mehr
Kultur- als Kriegsgeschichte! ist ja bald ausgegeben, aber schwer befolgt. Und
wenn Ottokar Lorenz in seinem Aufsatze (Grenzboten, 1891 Ur. 24, S. 509)
"Der zukünftige Unterricht in der neuesten Geschichte" nachgewiesen hat, daß
es an Lehrern, die für die neueste Geschichte vorgebildet sind, fehle, so könnte
das vielleicht noch mehr für die Kulturgeschichte behauptet werden. Wird
das Universitätsstudium der Geschichte überhaupt vernachlässigt, so erst recht
das der Kulturgeschichte.

Nun ist ohne Zweifel das Ziel der Geschichte, ein lebendiges Verständnis
der Gegenwart durch Vertiefung in die Vergangenheit und vor allem, sollten
wir meinen, da wir Deutsche siud, in die große deutsche Vergangenheit zu
erlangen. Aber wie viele Schätze sind hier noch unbekannt oder ungehoben,
die der ins Weite schweifende Blick des allzu kosmopolitisch gesinnten Histo¬
rikers übersehen oder gering geachtet hat! Wie manches Dunkel giebt es hier
noch aufzuhellen, nicht etwa hinsichtlich der Einzelforschung, sondern wirklich
Hinsichtich der notwendigen oder mindestens wünschenswerten Kenntnis weiterer
Kreise!

Klopstock beklagt es in einer seiner Oden, daß der große Name der Er¬
finder oft in ewige Nacht vergraben sei. Ist es nicht auch manchmal so mit
den Urhebern oder Beförderern einer einflußreichen Kulturentwicklung?
Wie wenige wissen etwas von dem Kirchen- und^ Schulrefvrmator Friedrich
Mycvuius! Und doch war er der Freund und Kampfgenosse Luthers und
Melanchthons, der evangelische Apostel Thüringens, der Luther Leipzigs, der


des Verfassers entsprungen und getränkt mit praktischer englischer Lebensweisheit.
Der Übersetzer, Fritz Schultze, stellte es schon in den siebziger Jahren Pestalozzis
„Buch der Mütter" an die Seite. In der That hat es, wie dieses, nach¬
haltig angeregt und als Sauerteig in der schwerfälligen Kuetmasse der her¬
kömmlichen Erziehung gewirkt. Namentlich finden sich die gegenwärtig em¬
pfohlenen Reformideen über den Geschichtsunterricht schon sehr ausführlich bei
Spencer; der Kulturgeschichte redet er kräftig das Wort. Er behauptet u. a.,
daß das, was Geschichte im eigentlichen Sinne ausmache, zum großen Teil
in den Geschichtswerken fehle. Er will eine Naturgeschichte der Gesellschaft,
eine scharfe Beleuchtung der Thatsachen, die uus dazu verhelfen sollen, das
Wachstum und den Organisationsprozeß einer Nation zu verstehen. Vieles,
sehr vieles aber von dem, was jetzt gelehrt werde, erweise sich als zum Ver¬
ständnis oder zur Führung des Lebens kaum brauchbar.

Sicher ist, daß die Saat der Reform, die Spencer als einer der ersten
auf diesem Gebiete ausgestreut hat, endlich aufgegangen ist, wenn auch in
etwas andrer Gestalt, als er sichs denkt. Zwischen dem guten Willen und
der That aber scheint gerade für die Praxis des Geschichtsunterrichts noch
eine Kluft zu liegen, die schwer zu überbrücken ist. Die alte, hergebrachte
Methode ist mächtiger, als man gewöhnlich meint. Eine Losung wie: Mehr
Kultur- als Kriegsgeschichte! ist ja bald ausgegeben, aber schwer befolgt. Und
wenn Ottokar Lorenz in seinem Aufsatze (Grenzboten, 1891 Ur. 24, S. 509)
„Der zukünftige Unterricht in der neuesten Geschichte" nachgewiesen hat, daß
es an Lehrern, die für die neueste Geschichte vorgebildet sind, fehle, so könnte
das vielleicht noch mehr für die Kulturgeschichte behauptet werden. Wird
das Universitätsstudium der Geschichte überhaupt vernachlässigt, so erst recht
das der Kulturgeschichte.

Nun ist ohne Zweifel das Ziel der Geschichte, ein lebendiges Verständnis
der Gegenwart durch Vertiefung in die Vergangenheit und vor allem, sollten
wir meinen, da wir Deutsche siud, in die große deutsche Vergangenheit zu
erlangen. Aber wie viele Schätze sind hier noch unbekannt oder ungehoben,
die der ins Weite schweifende Blick des allzu kosmopolitisch gesinnten Histo¬
rikers übersehen oder gering geachtet hat! Wie manches Dunkel giebt es hier
noch aufzuhellen, nicht etwa hinsichtlich der Einzelforschung, sondern wirklich
Hinsichtich der notwendigen oder mindestens wünschenswerten Kenntnis weiterer
Kreise!

Klopstock beklagt es in einer seiner Oden, daß der große Name der Er¬
finder oft in ewige Nacht vergraben sei. Ist es nicht auch manchmal so mit
den Urhebern oder Beförderern einer einflußreichen Kulturentwicklung?
Wie wenige wissen etwas von dem Kirchen- und^ Schulrefvrmator Friedrich
Mycvuius! Und doch war er der Freund und Kampfgenosse Luthers und
Melanchthons, der evangelische Apostel Thüringens, der Luther Leipzigs, der


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[0123] des Verfassers entsprungen und getränkt mit praktischer englischer Lebensweisheit. Der Übersetzer, Fritz Schultze, stellte es schon in den siebziger Jahren Pestalozzis „Buch der Mütter" an die Seite. In der That hat es, wie dieses, nach¬ haltig angeregt und als Sauerteig in der schwerfälligen Kuetmasse der her¬ kömmlichen Erziehung gewirkt. Namentlich finden sich die gegenwärtig em¬ pfohlenen Reformideen über den Geschichtsunterricht schon sehr ausführlich bei Spencer; der Kulturgeschichte redet er kräftig das Wort. Er behauptet u. a., daß das, was Geschichte im eigentlichen Sinne ausmache, zum großen Teil in den Geschichtswerken fehle. Er will eine Naturgeschichte der Gesellschaft, eine scharfe Beleuchtung der Thatsachen, die uus dazu verhelfen sollen, das Wachstum und den Organisationsprozeß einer Nation zu verstehen. Vieles, sehr vieles aber von dem, was jetzt gelehrt werde, erweise sich als zum Ver¬ ständnis oder zur Führung des Lebens kaum brauchbar. Sicher ist, daß die Saat der Reform, die Spencer als einer der ersten auf diesem Gebiete ausgestreut hat, endlich aufgegangen ist, wenn auch in etwas andrer Gestalt, als er sichs denkt. Zwischen dem guten Willen und der That aber scheint gerade für die Praxis des Geschichtsunterrichts noch eine Kluft zu liegen, die schwer zu überbrücken ist. Die alte, hergebrachte Methode ist mächtiger, als man gewöhnlich meint. Eine Losung wie: Mehr Kultur- als Kriegsgeschichte! ist ja bald ausgegeben, aber schwer befolgt. Und wenn Ottokar Lorenz in seinem Aufsatze (Grenzboten, 1891 Ur. 24, S. 509) „Der zukünftige Unterricht in der neuesten Geschichte" nachgewiesen hat, daß es an Lehrern, die für die neueste Geschichte vorgebildet sind, fehle, so könnte das vielleicht noch mehr für die Kulturgeschichte behauptet werden. Wird das Universitätsstudium der Geschichte überhaupt vernachlässigt, so erst recht das der Kulturgeschichte. Nun ist ohne Zweifel das Ziel der Geschichte, ein lebendiges Verständnis der Gegenwart durch Vertiefung in die Vergangenheit und vor allem, sollten wir meinen, da wir Deutsche siud, in die große deutsche Vergangenheit zu erlangen. Aber wie viele Schätze sind hier noch unbekannt oder ungehoben, die der ins Weite schweifende Blick des allzu kosmopolitisch gesinnten Histo¬ rikers übersehen oder gering geachtet hat! Wie manches Dunkel giebt es hier noch aufzuhellen, nicht etwa hinsichtlich der Einzelforschung, sondern wirklich Hinsichtich der notwendigen oder mindestens wünschenswerten Kenntnis weiterer Kreise! Klopstock beklagt es in einer seiner Oden, daß der große Name der Er¬ finder oft in ewige Nacht vergraben sei. Ist es nicht auch manchmal so mit den Urhebern oder Beförderern einer einflußreichen Kulturentwicklung? Wie wenige wissen etwas von dem Kirchen- und^ Schulrefvrmator Friedrich Mycvuius! Und doch war er der Freund und Kampfgenosse Luthers und Melanchthons, der evangelische Apostel Thüringens, der Luther Leipzigs, der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/123>, abgerufen am 23.07.2024.