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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Wage, einem sogenannten "Besemer," in die Wochenstube huschte und zur
Verzweiflung der Wärterin nicht eher fortging, bis "de oll Lüde," so hieß
das Jüngste immer, gewogen war. Unser Ältester begründete seine Forderung
damit, daß die Jungen in der Schule doch wissen müßten, wieviel der kleine
Bruder an Gewicht mitgebracht hätte. Bei uns kamen nämlich meistens
Jungen, und als einer meiner Brüder einmal gefragt wurde, wie viele Kinder
sie wären, antwortete er: "Acht Jungens; einer davon ist ein Mädchen!"

Aber wenn wir die Freude über einen neuen Bruder gut kannten und
auch mit andern über ihre neugebornen Geschwister uns freuen konnten, so
wußten wir doch auch, wie es war, wenn ein ernsthafter Gast in ein Haus
einkehrte. Fast brannten die Lichter in dem verhängten Gemach, und der
Schläfer lag so merkwürdig still und unerweckbar vor uns. Früher hatte er
vielleicht mit uns gespielt, oder wenn es ein erwachsener Mensch war, hatte
er uns vielleicht einmal ausgescholten oder aus seinem Garten gejagt; oder
er war gut gegen uns gewesen. Und nun war er so weit von uns fort¬
gegangen, so unheimlich weit, und wir sahen ihn voller Staunen, aber
auch voller Interesse an, um nachher wieder leichtes Herzens in den hellen
Sonnenschein hinaus zu laufen und darüber zu sprechen, ob es wohl einen
Leichenschmaus oder .Kuchen geben würde. Denn es war in unserm Städtchen
wie in den umliegende"? Landgemeinden Sitte, eine Beerdigung als eine Fest¬
lichkeit anzusehen, bei der die Überlebenden das Andenken des Gestorbenen
durch eine großartige Magenüberladung feierten. Je wohlhabender das Hans
war, worin einer gestorben war, desto mehr Kuchen wurde" gebacken, und desto
mehr Mensche" mußten dann beschenkt werden. Der Arzt, der den Kranken
glücklich zu Tode kurirt hatte, bekam mehrere Torten ius Haus geschickt; aber
auch der Pastor und der Justizbeamte erhielten ihr Teil. Eine große Beerdigung
wurde also in weitern Kreisen gefeiert, und die Kuchen, die man dazu but,
wurde" vou vielen Leuten gegessen. Da war es kein Wunder, wenn manche
ehrgeizige Hausfrau noch aus dem Totenbette seufzte: "Kinners, Kinners, lat de
Rosinen doch jo nich in de Halfmahn*) vergeten warm!" und daß der sterbende
Ehemann, der nach seiner Frau schickte, um von ihr Abschied zu nehmen, die
Antwort erhielt, sie könne unmöglich kommen, sie habe zu viel mit dem Backen
zu thun. Und wie lustig sangen die Schulknaben ihren Choral, wenn sie
Paarweise vor dem Sarge hcrschritten! Sie wußten, daß es nachher Wein und
Kuchen für sie gab, oft auch noch Geld, wenn es eine besonders "große"
Leiche gewesen war! Einen Leichenwagen gab es bei uns uicht; auf einer
Bahre oder an großen Gurten wurde der Sarg getragen, und die Träger
wechselten mehreremale. Da nun der Kirchhof mitten in der Stadt lag, und
der Leichenzug, woher er auch kam, immer einige Straßen durchwandern mußte,



") Halbmond, eine Art Stollen.

Wage, einem sogenannten „Besemer," in die Wochenstube huschte und zur
Verzweiflung der Wärterin nicht eher fortging, bis „de oll Lüde," so hieß
das Jüngste immer, gewogen war. Unser Ältester begründete seine Forderung
damit, daß die Jungen in der Schule doch wissen müßten, wieviel der kleine
Bruder an Gewicht mitgebracht hätte. Bei uns kamen nämlich meistens
Jungen, und als einer meiner Brüder einmal gefragt wurde, wie viele Kinder
sie wären, antwortete er: „Acht Jungens; einer davon ist ein Mädchen!"

Aber wenn wir die Freude über einen neuen Bruder gut kannten und
auch mit andern über ihre neugebornen Geschwister uns freuen konnten, so
wußten wir doch auch, wie es war, wenn ein ernsthafter Gast in ein Haus
einkehrte. Fast brannten die Lichter in dem verhängten Gemach, und der
Schläfer lag so merkwürdig still und unerweckbar vor uns. Früher hatte er
vielleicht mit uns gespielt, oder wenn es ein erwachsener Mensch war, hatte
er uns vielleicht einmal ausgescholten oder aus seinem Garten gejagt; oder
er war gut gegen uns gewesen. Und nun war er so weit von uns fort¬
gegangen, so unheimlich weit, und wir sahen ihn voller Staunen, aber
auch voller Interesse an, um nachher wieder leichtes Herzens in den hellen
Sonnenschein hinaus zu laufen und darüber zu sprechen, ob es wohl einen
Leichenschmaus oder .Kuchen geben würde. Denn es war in unserm Städtchen
wie in den umliegende«? Landgemeinden Sitte, eine Beerdigung als eine Fest¬
lichkeit anzusehen, bei der die Überlebenden das Andenken des Gestorbenen
durch eine großartige Magenüberladung feierten. Je wohlhabender das Hans
war, worin einer gestorben war, desto mehr Kuchen wurde» gebacken, und desto
mehr Mensche» mußten dann beschenkt werden. Der Arzt, der den Kranken
glücklich zu Tode kurirt hatte, bekam mehrere Torten ius Haus geschickt; aber
auch der Pastor und der Justizbeamte erhielten ihr Teil. Eine große Beerdigung
wurde also in weitern Kreisen gefeiert, und die Kuchen, die man dazu but,
wurde» vou vielen Leuten gegessen. Da war es kein Wunder, wenn manche
ehrgeizige Hausfrau noch aus dem Totenbette seufzte: „Kinners, Kinners, lat de
Rosinen doch jo nich in de Halfmahn*) vergeten warm!" und daß der sterbende
Ehemann, der nach seiner Frau schickte, um von ihr Abschied zu nehmen, die
Antwort erhielt, sie könne unmöglich kommen, sie habe zu viel mit dem Backen
zu thun. Und wie lustig sangen die Schulknaben ihren Choral, wenn sie
Paarweise vor dem Sarge hcrschritten! Sie wußten, daß es nachher Wein und
Kuchen für sie gab, oft auch noch Geld, wenn es eine besonders „große"
Leiche gewesen war! Einen Leichenwagen gab es bei uns uicht; auf einer
Bahre oder an großen Gurten wurde der Sarg getragen, und die Träger
wechselten mehreremale. Da nun der Kirchhof mitten in der Stadt lag, und
der Leichenzug, woher er auch kam, immer einige Straßen durchwandern mußte,



") Halbmond, eine Art Stollen.
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[0087] Wage, einem sogenannten „Besemer," in die Wochenstube huschte und zur Verzweiflung der Wärterin nicht eher fortging, bis „de oll Lüde," so hieß das Jüngste immer, gewogen war. Unser Ältester begründete seine Forderung damit, daß die Jungen in der Schule doch wissen müßten, wieviel der kleine Bruder an Gewicht mitgebracht hätte. Bei uns kamen nämlich meistens Jungen, und als einer meiner Brüder einmal gefragt wurde, wie viele Kinder sie wären, antwortete er: „Acht Jungens; einer davon ist ein Mädchen!" Aber wenn wir die Freude über einen neuen Bruder gut kannten und auch mit andern über ihre neugebornen Geschwister uns freuen konnten, so wußten wir doch auch, wie es war, wenn ein ernsthafter Gast in ein Haus einkehrte. Fast brannten die Lichter in dem verhängten Gemach, und der Schläfer lag so merkwürdig still und unerweckbar vor uns. Früher hatte er vielleicht mit uns gespielt, oder wenn es ein erwachsener Mensch war, hatte er uns vielleicht einmal ausgescholten oder aus seinem Garten gejagt; oder er war gut gegen uns gewesen. Und nun war er so weit von uns fort¬ gegangen, so unheimlich weit, und wir sahen ihn voller Staunen, aber auch voller Interesse an, um nachher wieder leichtes Herzens in den hellen Sonnenschein hinaus zu laufen und darüber zu sprechen, ob es wohl einen Leichenschmaus oder .Kuchen geben würde. Denn es war in unserm Städtchen wie in den umliegende«? Landgemeinden Sitte, eine Beerdigung als eine Fest¬ lichkeit anzusehen, bei der die Überlebenden das Andenken des Gestorbenen durch eine großartige Magenüberladung feierten. Je wohlhabender das Hans war, worin einer gestorben war, desto mehr Kuchen wurde» gebacken, und desto mehr Mensche» mußten dann beschenkt werden. Der Arzt, der den Kranken glücklich zu Tode kurirt hatte, bekam mehrere Torten ius Haus geschickt; aber auch der Pastor und der Justizbeamte erhielten ihr Teil. Eine große Beerdigung wurde also in weitern Kreisen gefeiert, und die Kuchen, die man dazu but, wurde» vou vielen Leuten gegessen. Da war es kein Wunder, wenn manche ehrgeizige Hausfrau noch aus dem Totenbette seufzte: „Kinners, Kinners, lat de Rosinen doch jo nich in de Halfmahn*) vergeten warm!" und daß der sterbende Ehemann, der nach seiner Frau schickte, um von ihr Abschied zu nehmen, die Antwort erhielt, sie könne unmöglich kommen, sie habe zu viel mit dem Backen zu thun. Und wie lustig sangen die Schulknaben ihren Choral, wenn sie Paarweise vor dem Sarge hcrschritten! Sie wußten, daß es nachher Wein und Kuchen für sie gab, oft auch noch Geld, wenn es eine besonders „große" Leiche gewesen war! Einen Leichenwagen gab es bei uns uicht; auf einer Bahre oder an großen Gurten wurde der Sarg getragen, und die Träger wechselten mehreremale. Da nun der Kirchhof mitten in der Stadt lag, und der Leichenzug, woher er auch kam, immer einige Straßen durchwandern mußte, ") Halbmond, eine Art Stollen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/87>, abgerufen am 23.07.2024.