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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Amistphysiologie

es ihm vor allem auf die Vernichtung des Vorurteils an, "daß man die
Natur leichter begreifen und künstlerisch besser beherrschen lernen könne, wenn
mau ihr anfangs nicht direkt, sondern auf Umwegen zu Leibe ginge; oder mit
andern Worten, daß man vor dem eigentlichen Naturstudium eine Vorschule
"ach bildlichen Übersetzungen der Natur, nach Zeichenvorlagen, Gipsmodellen u.s.w.
durchmachen müsse." Diese Methode fülle den Hirnkasten (von dem er einmal
ganz richtig sagt, daß er kein Möbelwagen sei) mit falschen Bildern. Der
"kostbare Schrein unsers Bilderschatzes" solle aber rein und sauber gehalten
werden. Die Verführung liege nahe, diesen Gedanken zur Kritik unsers ganzen
Erziehungs- und Schulwesens fruchtbar zu machen. "Denn hier wird fast
ohne Rücksicht auf individuelle Begabungen der Gedächtnisakknmulatvr unsrer
Kleinen mit dem Nürnberger Trichter vollgepfropft, jeder Leitungsdraht, jede
freie Fläche der kaum schon entwickelten Gehirnwandungen wird mit krampf¬
haft zusammengerafften, meist unverstandnen Wissenskram allstapeziert und
dadurch der Entwicklung der hohem freiheitlichen Geistesfunktionen der Weg
versperrt. So wirkt auch die peinliche Vorbereitung zu jedem anspruchsvollen
Examen in gewissem Sinne verstopfend. Leider aber wird durch die glückliche
Gabe des Vergessens der Fehler nicht vollkommen ausgeglichen; der unnütze
Ballast wird zwar im besten Fall über Bord geworfen, aber die wundervolle
Gabe Gottes hat einen Teil ihrer jugendlichen Frische und Spannkraft ein¬
gebüßt. Der noch zu erfindende Jdealmensch sollte überhaupt nichts lernen
müssen, was er später wieder vergessen mich; die ganze Lehre von der "Übung"
des Gedächtnisses durch Gesangbuchverse lind des Verstandes durch mathe¬
matische Formeln ist ein beklagenswerter Auswuchs des Schuldrills." Denn,
heißt es ein paar Seiten später, "was Hänschen falsch lernt, lernt Hans
nimmer richtig." (Sollte das, was noch zu erfinden ist, nicht vielmehr die
ideale Lehrmethode sein? Jdealmenschlein, die auf das Erlernen des Falschen
mit Vergnügen verzichten würden, wenn sie nicht dazil gezwungen wären,
finden sich ja wohl jetzt schon in erfreulicher Menge.) Demnach erklärt er
auch den Einfluß, den die "Konturisten, Klassizisten und Nazarener" von
Winckelmann bis zu Cornelius geübt haben, sür verderblich und folgert aus
seinen Voraussetzungen, "daß das Kennenlernen von Kunstwerken niemals zu
einem die Naturbeobachtung überwuchernden oder gar verdrängenden "Studium"
werden, und daß es als sekundäre Quelle der Belehrung erst dann einen
breitern Raum im Leben und Streben des Kunstjüngers einnehmen darf, wenn
diesem die Natur ihren Zauber erschlossen hat."

In theoretischer Beziehung versucht er, und das ist eben die Aufgabe des
vorliegenden Werkes, "die für die bildenden Künste und ihre Kritik, für das
künstlerische Schaffen und den guten Geschmack in Betracht kommenden Regeln
-- soweit thunlich -- aus der Natur der menschlichen Sinne und Seeleu-
krüfte" zu erklären. Das Seelenleben beschreibt er als ein Spiel von Bildern,


Amistphysiologie

es ihm vor allem auf die Vernichtung des Vorurteils an, „daß man die
Natur leichter begreifen und künstlerisch besser beherrschen lernen könne, wenn
mau ihr anfangs nicht direkt, sondern auf Umwegen zu Leibe ginge; oder mit
andern Worten, daß man vor dem eigentlichen Naturstudium eine Vorschule
»ach bildlichen Übersetzungen der Natur, nach Zeichenvorlagen, Gipsmodellen u.s.w.
durchmachen müsse." Diese Methode fülle den Hirnkasten (von dem er einmal
ganz richtig sagt, daß er kein Möbelwagen sei) mit falschen Bildern. Der
„kostbare Schrein unsers Bilderschatzes" solle aber rein und sauber gehalten
werden. Die Verführung liege nahe, diesen Gedanken zur Kritik unsers ganzen
Erziehungs- und Schulwesens fruchtbar zu machen. „Denn hier wird fast
ohne Rücksicht auf individuelle Begabungen der Gedächtnisakknmulatvr unsrer
Kleinen mit dem Nürnberger Trichter vollgepfropft, jeder Leitungsdraht, jede
freie Fläche der kaum schon entwickelten Gehirnwandungen wird mit krampf¬
haft zusammengerafften, meist unverstandnen Wissenskram allstapeziert und
dadurch der Entwicklung der hohem freiheitlichen Geistesfunktionen der Weg
versperrt. So wirkt auch die peinliche Vorbereitung zu jedem anspruchsvollen
Examen in gewissem Sinne verstopfend. Leider aber wird durch die glückliche
Gabe des Vergessens der Fehler nicht vollkommen ausgeglichen; der unnütze
Ballast wird zwar im besten Fall über Bord geworfen, aber die wundervolle
Gabe Gottes hat einen Teil ihrer jugendlichen Frische und Spannkraft ein¬
gebüßt. Der noch zu erfindende Jdealmensch sollte überhaupt nichts lernen
müssen, was er später wieder vergessen mich; die ganze Lehre von der »Übung«
des Gedächtnisses durch Gesangbuchverse lind des Verstandes durch mathe¬
matische Formeln ist ein beklagenswerter Auswuchs des Schuldrills." Denn,
heißt es ein paar Seiten später, „was Hänschen falsch lernt, lernt Hans
nimmer richtig." (Sollte das, was noch zu erfinden ist, nicht vielmehr die
ideale Lehrmethode sein? Jdealmenschlein, die auf das Erlernen des Falschen
mit Vergnügen verzichten würden, wenn sie nicht dazil gezwungen wären,
finden sich ja wohl jetzt schon in erfreulicher Menge.) Demnach erklärt er
auch den Einfluß, den die „Konturisten, Klassizisten und Nazarener" von
Winckelmann bis zu Cornelius geübt haben, sür verderblich und folgert aus
seinen Voraussetzungen, „daß das Kennenlernen von Kunstwerken niemals zu
einem die Naturbeobachtung überwuchernden oder gar verdrängenden »Studium«
werden, und daß es als sekundäre Quelle der Belehrung erst dann einen
breitern Raum im Leben und Streben des Kunstjüngers einnehmen darf, wenn
diesem die Natur ihren Zauber erschlossen hat."

In theoretischer Beziehung versucht er, und das ist eben die Aufgabe des
vorliegenden Werkes, „die für die bildenden Künste und ihre Kritik, für das
künstlerische Schaffen und den guten Geschmack in Betracht kommenden Regeln
— soweit thunlich — aus der Natur der menschlichen Sinne und Seeleu-
krüfte" zu erklären. Das Seelenleben beschreibt er als ein Spiel von Bildern,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/82>, abgerufen am 23.07.2024.