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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Der Stand der Arbeiterbewegung

Die unglücklich geführten Streiks haben die Kassen so erschöpft, daß die
große Zahl der allsgesperrten Arbeiter nur mit Mühe weiter unterstützt werden
kann. Die Opferfreudigst innerhalb der Partei ist nicht bei allen Mitgliedern
gleich. So haben die Berliner Genossen, als es sich an die Unterstützung
des für die Erhaltung der Organisation so wichtigen Streiks der Hamburger
Tabakarbeiter handelte, nicht ein Zehntel der Summe aufgebracht, auf die sie
eingeschätzt waren.

Auf der andern Seite nimmt die Zahl der evangelischen Arbeiterver-
eiiiigungen zu. Neue Vereine sind in Eula bei Borna, in Potschappel bei
Dresden und in Magdeburg gegründet worden. Aus Baiern, Württemberg
und Hessen werden neue Beitrittserklärungen gemeldet. In Berlin ist der
katholische Gesellenverein wieder ausgelebt, und auch im Posischen wird mit der
Gründung von katholischen Arbeitervereinen vorgegangen.

Das Bild, das die Arbeiterbewegung des verflossenen Halbjahres bietet,
ist wenig erfreulich. Zwar ist es nirgends zu größern Ausschreitungen ge¬
kommen, aber dem sozialen Frieden sind wir nicht viel näher gerückt. Ihm
steht vor allem entgegen die geringe Reife, die die Arbeiter gewöhnlich bei
der Beurteilung der wirtschaftlichen Verhältnisse zeigen. Denn nur so läßt
sich die große Anzahl der meist in leichtsinniger Weise und angeblich sogar
oft gegen den Willen der sozialdemokratischen Parteileitnng begonnenen Auf¬
stände erklären. Besonders bedauerlich ist es, daß die Ermahnungen der
Behörden und der Presse meist nicht vermocht haben, die Ausständigen vom
Kontraktbruch abzuhalten. Dadurch haben sich die Arbeiter von vornherein
ins Unrecht gesetzt, selbst da, wo der von ihnen aufgenommene wirtschaftliche
Kampf der innern Berechtigung nicht entbehrte.

Mail konnte geneigt sein, sich über das jetzt erlangte Übergewicht der Arbeit¬
geber und die eingetretne Waffenruhe zu freuen, wenn es nicht den Anschein
hätte, als ob die Ruhe nur von kurzer Dauer sein sollte. In eiuer Reihe voll
Gewerben wird an einzelnen Orten von den Arbeitern vorgeblich wegen Lohn-
drückerei bereits wieder eine neue Bewegung angekündigt. Dies ist zu beklagen,
wenn mau sieht, welche Uusummeu diese wirtschaftlichen Kämpfe verschlingen.

Auch ist es augenscheinlich verfrüht, von einem Rückgänge der Sozial¬
demokratie zu sprechen. Der Versanunlungsmüdigkeit, die sich bei den Partei¬
genossen in letzter Zeit bemerkbar gemacht hat, sowie dem Rückgänge der
sozialdemokratischen Stimmen bei den Nachwahlen zum Reichstage ist keine
große Bedeutung beizulegen. Es ist schwer, sich vorzustellen, daß die un¬
unterbrochen fortgeführte und ausgedehnte Agitation ohne jeden Erfolg sein
sollte. Man wird vielmehr annehmen müssen, daß die Durchdringung der
untern Volkskreise mit sozialdemokratischen Ideen stetig vorschreitet und es
nur auf die übrigen politischen Verhältnisse ankommen wird, wann und in
welchem Maße sich diese geltend machen werden.


Der Stand der Arbeiterbewegung

Die unglücklich geführten Streiks haben die Kassen so erschöpft, daß die
große Zahl der allsgesperrten Arbeiter nur mit Mühe weiter unterstützt werden
kann. Die Opferfreudigst innerhalb der Partei ist nicht bei allen Mitgliedern
gleich. So haben die Berliner Genossen, als es sich an die Unterstützung
des für die Erhaltung der Organisation so wichtigen Streiks der Hamburger
Tabakarbeiter handelte, nicht ein Zehntel der Summe aufgebracht, auf die sie
eingeschätzt waren.

Auf der andern Seite nimmt die Zahl der evangelischen Arbeiterver-
eiiiigungen zu. Neue Vereine sind in Eula bei Borna, in Potschappel bei
Dresden und in Magdeburg gegründet worden. Aus Baiern, Württemberg
und Hessen werden neue Beitrittserklärungen gemeldet. In Berlin ist der
katholische Gesellenverein wieder ausgelebt, und auch im Posischen wird mit der
Gründung von katholischen Arbeitervereinen vorgegangen.

Das Bild, das die Arbeiterbewegung des verflossenen Halbjahres bietet,
ist wenig erfreulich. Zwar ist es nirgends zu größern Ausschreitungen ge¬
kommen, aber dem sozialen Frieden sind wir nicht viel näher gerückt. Ihm
steht vor allem entgegen die geringe Reife, die die Arbeiter gewöhnlich bei
der Beurteilung der wirtschaftlichen Verhältnisse zeigen. Denn nur so läßt
sich die große Anzahl der meist in leichtsinniger Weise und angeblich sogar
oft gegen den Willen der sozialdemokratischen Parteileitnng begonnenen Auf¬
stände erklären. Besonders bedauerlich ist es, daß die Ermahnungen der
Behörden und der Presse meist nicht vermocht haben, die Ausständigen vom
Kontraktbruch abzuhalten. Dadurch haben sich die Arbeiter von vornherein
ins Unrecht gesetzt, selbst da, wo der von ihnen aufgenommene wirtschaftliche
Kampf der innern Berechtigung nicht entbehrte.

Mail konnte geneigt sein, sich über das jetzt erlangte Übergewicht der Arbeit¬
geber und die eingetretne Waffenruhe zu freuen, wenn es nicht den Anschein
hätte, als ob die Ruhe nur von kurzer Dauer sein sollte. In eiuer Reihe voll
Gewerben wird an einzelnen Orten von den Arbeitern vorgeblich wegen Lohn-
drückerei bereits wieder eine neue Bewegung angekündigt. Dies ist zu beklagen,
wenn mau sieht, welche Uusummeu diese wirtschaftlichen Kämpfe verschlingen.

Auch ist es augenscheinlich verfrüht, von einem Rückgänge der Sozial¬
demokratie zu sprechen. Der Versanunlungsmüdigkeit, die sich bei den Partei¬
genossen in letzter Zeit bemerkbar gemacht hat, sowie dem Rückgänge der
sozialdemokratischen Stimmen bei den Nachwahlen zum Reichstage ist keine
große Bedeutung beizulegen. Es ist schwer, sich vorzustellen, daß die un¬
unterbrochen fortgeführte und ausgedehnte Agitation ohne jeden Erfolg sein
sollte. Man wird vielmehr annehmen müssen, daß die Durchdringung der
untern Volkskreise mit sozialdemokratischen Ideen stetig vorschreitet und es
nur auf die übrigen politischen Verhältnisse ankommen wird, wann und in
welchem Maße sich diese geltend machen werden.


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[0066] Der Stand der Arbeiterbewegung Die unglücklich geführten Streiks haben die Kassen so erschöpft, daß die große Zahl der allsgesperrten Arbeiter nur mit Mühe weiter unterstützt werden kann. Die Opferfreudigst innerhalb der Partei ist nicht bei allen Mitgliedern gleich. So haben die Berliner Genossen, als es sich an die Unterstützung des für die Erhaltung der Organisation so wichtigen Streiks der Hamburger Tabakarbeiter handelte, nicht ein Zehntel der Summe aufgebracht, auf die sie eingeschätzt waren. Auf der andern Seite nimmt die Zahl der evangelischen Arbeiterver- eiiiigungen zu. Neue Vereine sind in Eula bei Borna, in Potschappel bei Dresden und in Magdeburg gegründet worden. Aus Baiern, Württemberg und Hessen werden neue Beitrittserklärungen gemeldet. In Berlin ist der katholische Gesellenverein wieder ausgelebt, und auch im Posischen wird mit der Gründung von katholischen Arbeitervereinen vorgegangen. Das Bild, das die Arbeiterbewegung des verflossenen Halbjahres bietet, ist wenig erfreulich. Zwar ist es nirgends zu größern Ausschreitungen ge¬ kommen, aber dem sozialen Frieden sind wir nicht viel näher gerückt. Ihm steht vor allem entgegen die geringe Reife, die die Arbeiter gewöhnlich bei der Beurteilung der wirtschaftlichen Verhältnisse zeigen. Denn nur so läßt sich die große Anzahl der meist in leichtsinniger Weise und angeblich sogar oft gegen den Willen der sozialdemokratischen Parteileitnng begonnenen Auf¬ stände erklären. Besonders bedauerlich ist es, daß die Ermahnungen der Behörden und der Presse meist nicht vermocht haben, die Ausständigen vom Kontraktbruch abzuhalten. Dadurch haben sich die Arbeiter von vornherein ins Unrecht gesetzt, selbst da, wo der von ihnen aufgenommene wirtschaftliche Kampf der innern Berechtigung nicht entbehrte. Mail konnte geneigt sein, sich über das jetzt erlangte Übergewicht der Arbeit¬ geber und die eingetretne Waffenruhe zu freuen, wenn es nicht den Anschein hätte, als ob die Ruhe nur von kurzer Dauer sein sollte. In eiuer Reihe voll Gewerben wird an einzelnen Orten von den Arbeitern vorgeblich wegen Lohn- drückerei bereits wieder eine neue Bewegung angekündigt. Dies ist zu beklagen, wenn mau sieht, welche Uusummeu diese wirtschaftlichen Kämpfe verschlingen. Auch ist es augenscheinlich verfrüht, von einem Rückgänge der Sozial¬ demokratie zu sprechen. Der Versanunlungsmüdigkeit, die sich bei den Partei¬ genossen in letzter Zeit bemerkbar gemacht hat, sowie dem Rückgänge der sozialdemokratischen Stimmen bei den Nachwahlen zum Reichstage ist keine große Bedeutung beizulegen. Es ist schwer, sich vorzustellen, daß die un¬ unterbrochen fortgeführte und ausgedehnte Agitation ohne jeden Erfolg sein sollte. Man wird vielmehr annehmen müssen, daß die Durchdringung der untern Volkskreise mit sozialdemokratischen Ideen stetig vorschreitet und es nur auf die übrigen politischen Verhältnisse ankommen wird, wann und in welchem Maße sich diese geltend machen werden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/66>, abgerufen am 23.07.2024.