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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Der Stand der Arbeiterbewegung

losigkeit angestellt. Es fand sich, daß die in jenen Versammlungen und Pe¬
titionen angegebene Zahl der Arbeitslosen übertrieben gewesen und in Berlin
höchstens auf 20 bis 25000, in Dresden auf 4 bis 5000 zu schätze" war,
wenn mau uicht die große Zahl der Arbeitsscheuen, die jede Großstadt in sich
birgt, anzahlte. Besondre Maßregeln zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit
wurden daher nirgends für notwendig erachtet. In Köln beschlösse" die
städtischen Behörden deu um Arbeit nachsucheudeu Beschäftigung bei einem
Tagelohn von 1,50 Mk. zu gewähren, und es meldeten sich etwa 800 Personen.
In Hamburg wurden durch ein Komitee 1046610 Portionen Mittagessen,
auch Vrvte und Kohlen verteilt. Mit Eintritt der wärmern Witterung und
Wiederaufnahme der Vanthätigkeit ist die Zahl der Arbeitslosen wieder
wesentlich gesunken.

An dem "Weltfeiertage" ist es in diesem Jahre in Deutschland sehr ruhig
zugegangen. Der 1. Mai fiel auf einen Freitag, voran ging am Donnerstage
ein kirchlicher Festtag, Himmelfahrt, und Pfingsten stand vor der Thür. Die
kirchlichen Festtage verursachten einen bedeutenden Lohnausfall, und die Arbeit¬
geber zeigten sich noch weniger als vorm Jahre geneigt, sich einen be¬
sondern Arbeiterfeiertag aufdrängen zu lassen. Diesen Verhältnissen Rechnung
tragend, riet daher die sozialdemokratische Parteileitung, allerdings nicht ohne
Widerspruch der radikalen Elemente, den Genossen davon ab, in diesem Jahre
am 1. Mai die Arbeit auszusetzen. Es ist denn auch in Berlin in allen
Fabriken gearbeitet worden. Doch wurde von vielen Arbeiterschaften beschlossen,
einen Teil des Tagesverdienstes an einen zu gründenden "Maifonds" abzu¬
liefern. Im ganzen sollen dafür etwas über 10000 Mk. eingegangen sein.
Ferner ließ sich die Parteileitung angelegen sein, den Tag wenigstens durch
eine Festschrift deu Arbeiter" in Erinnerung zu bringen, und für den nächsten
Sonntag wurde eine Nachfeier veranlaßt. Es sollten Umzüge und Versamm¬
lungen stattfinden. Die Umzüge wurden in den meisten Städten untersagt.
Einer fand in Hamburg statt, an dein sich gegen ^0000 Arbeiter beteiligten-
Die Versammlungen wurden zwar größtenteils gestattet, waren aber selbst in
Berlin nicht zahlreich besucht. Überall wurde eine von der Parteileitung vor¬
geschlagene Resolution angenommen, worin die achtstiiudigc Arbeitszeit als
Grundlage für jede ernstliche Arbeiterschutzgesetzgebung gefordert wurde. Die
Mehrzahl der Veranstaltungen bewegte sich in dein Rahmen harmloser Ver-
gnügungen (Ausflüge). Eine durchbrechende Begeisterung war nirgends zu
bemerken.

Einen besondern Gegenstand der Erregung bildete noch in dem, letzten
Monate des verflossenen Halbjahres die mehr und mehr sich bemerklich machende
Steigerung der Getreide- und Brotpreise. Im Durchschnitt kosteten in
Berlin nach den Ermittelungen des statistischen Amtes der Stadt fünf Pfund
Roggenbrod


Der Stand der Arbeiterbewegung

losigkeit angestellt. Es fand sich, daß die in jenen Versammlungen und Pe¬
titionen angegebene Zahl der Arbeitslosen übertrieben gewesen und in Berlin
höchstens auf 20 bis 25000, in Dresden auf 4 bis 5000 zu schätze» war,
wenn mau uicht die große Zahl der Arbeitsscheuen, die jede Großstadt in sich
birgt, anzahlte. Besondre Maßregeln zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit
wurden daher nirgends für notwendig erachtet. In Köln beschlösse» die
städtischen Behörden deu um Arbeit nachsucheudeu Beschäftigung bei einem
Tagelohn von 1,50 Mk. zu gewähren, und es meldeten sich etwa 800 Personen.
In Hamburg wurden durch ein Komitee 1046610 Portionen Mittagessen,
auch Vrvte und Kohlen verteilt. Mit Eintritt der wärmern Witterung und
Wiederaufnahme der Vanthätigkeit ist die Zahl der Arbeitslosen wieder
wesentlich gesunken.

An dem „Weltfeiertage" ist es in diesem Jahre in Deutschland sehr ruhig
zugegangen. Der 1. Mai fiel auf einen Freitag, voran ging am Donnerstage
ein kirchlicher Festtag, Himmelfahrt, und Pfingsten stand vor der Thür. Die
kirchlichen Festtage verursachten einen bedeutenden Lohnausfall, und die Arbeit¬
geber zeigten sich noch weniger als vorm Jahre geneigt, sich einen be¬
sondern Arbeiterfeiertag aufdrängen zu lassen. Diesen Verhältnissen Rechnung
tragend, riet daher die sozialdemokratische Parteileitung, allerdings nicht ohne
Widerspruch der radikalen Elemente, den Genossen davon ab, in diesem Jahre
am 1. Mai die Arbeit auszusetzen. Es ist denn auch in Berlin in allen
Fabriken gearbeitet worden. Doch wurde von vielen Arbeiterschaften beschlossen,
einen Teil des Tagesverdienstes an einen zu gründenden „Maifonds" abzu¬
liefern. Im ganzen sollen dafür etwas über 10000 Mk. eingegangen sein.
Ferner ließ sich die Parteileitung angelegen sein, den Tag wenigstens durch
eine Festschrift deu Arbeiter» in Erinnerung zu bringen, und für den nächsten
Sonntag wurde eine Nachfeier veranlaßt. Es sollten Umzüge und Versamm¬
lungen stattfinden. Die Umzüge wurden in den meisten Städten untersagt.
Einer fand in Hamburg statt, an dein sich gegen ^0000 Arbeiter beteiligten-
Die Versammlungen wurden zwar größtenteils gestattet, waren aber selbst in
Berlin nicht zahlreich besucht. Überall wurde eine von der Parteileitung vor¬
geschlagene Resolution angenommen, worin die achtstiiudigc Arbeitszeit als
Grundlage für jede ernstliche Arbeiterschutzgesetzgebung gefordert wurde. Die
Mehrzahl der Veranstaltungen bewegte sich in dein Rahmen harmloser Ver-
gnügungen (Ausflüge). Eine durchbrechende Begeisterung war nirgends zu
bemerken.

Einen besondern Gegenstand der Erregung bildete noch in dem, letzten
Monate des verflossenen Halbjahres die mehr und mehr sich bemerklich machende
Steigerung der Getreide- und Brotpreise. Im Durchschnitt kosteten in
Berlin nach den Ermittelungen des statistischen Amtes der Stadt fünf Pfund
Roggenbrod


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[0062] Der Stand der Arbeiterbewegung losigkeit angestellt. Es fand sich, daß die in jenen Versammlungen und Pe¬ titionen angegebene Zahl der Arbeitslosen übertrieben gewesen und in Berlin höchstens auf 20 bis 25000, in Dresden auf 4 bis 5000 zu schätze» war, wenn mau uicht die große Zahl der Arbeitsscheuen, die jede Großstadt in sich birgt, anzahlte. Besondre Maßregeln zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit wurden daher nirgends für notwendig erachtet. In Köln beschlösse» die städtischen Behörden deu um Arbeit nachsucheudeu Beschäftigung bei einem Tagelohn von 1,50 Mk. zu gewähren, und es meldeten sich etwa 800 Personen. In Hamburg wurden durch ein Komitee 1046610 Portionen Mittagessen, auch Vrvte und Kohlen verteilt. Mit Eintritt der wärmern Witterung und Wiederaufnahme der Vanthätigkeit ist die Zahl der Arbeitslosen wieder wesentlich gesunken. An dem „Weltfeiertage" ist es in diesem Jahre in Deutschland sehr ruhig zugegangen. Der 1. Mai fiel auf einen Freitag, voran ging am Donnerstage ein kirchlicher Festtag, Himmelfahrt, und Pfingsten stand vor der Thür. Die kirchlichen Festtage verursachten einen bedeutenden Lohnausfall, und die Arbeit¬ geber zeigten sich noch weniger als vorm Jahre geneigt, sich einen be¬ sondern Arbeiterfeiertag aufdrängen zu lassen. Diesen Verhältnissen Rechnung tragend, riet daher die sozialdemokratische Parteileitung, allerdings nicht ohne Widerspruch der radikalen Elemente, den Genossen davon ab, in diesem Jahre am 1. Mai die Arbeit auszusetzen. Es ist denn auch in Berlin in allen Fabriken gearbeitet worden. Doch wurde von vielen Arbeiterschaften beschlossen, einen Teil des Tagesverdienstes an einen zu gründenden „Maifonds" abzu¬ liefern. Im ganzen sollen dafür etwas über 10000 Mk. eingegangen sein. Ferner ließ sich die Parteileitung angelegen sein, den Tag wenigstens durch eine Festschrift deu Arbeiter» in Erinnerung zu bringen, und für den nächsten Sonntag wurde eine Nachfeier veranlaßt. Es sollten Umzüge und Versamm¬ lungen stattfinden. Die Umzüge wurden in den meisten Städten untersagt. Einer fand in Hamburg statt, an dein sich gegen ^0000 Arbeiter beteiligten- Die Versammlungen wurden zwar größtenteils gestattet, waren aber selbst in Berlin nicht zahlreich besucht. Überall wurde eine von der Parteileitung vor¬ geschlagene Resolution angenommen, worin die achtstiiudigc Arbeitszeit als Grundlage für jede ernstliche Arbeiterschutzgesetzgebung gefordert wurde. Die Mehrzahl der Veranstaltungen bewegte sich in dein Rahmen harmloser Ver- gnügungen (Ausflüge). Eine durchbrechende Begeisterung war nirgends zu bemerken. Einen besondern Gegenstand der Erregung bildete noch in dem, letzten Monate des verflossenen Halbjahres die mehr und mehr sich bemerklich machende Steigerung der Getreide- und Brotpreise. Im Durchschnitt kosteten in Berlin nach den Ermittelungen des statistischen Amtes der Stadt fünf Pfund Roggenbrod

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/62>, abgerufen am 26.08.2024.