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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Die Ratlosigkeit der Socialdemokratie

Verschlechterung der Lage des Arbeiterstandes und völligen Ruin des Mittel¬
standes, weil nur von einer zu mindestens drei Vierteilen aus Proletariern
bestehenden Gesellschaft der erste Schritt zur Verwirklichung des kommunistischen
Ideals, zur "Expropriation der Expropriateure" allenfalls erwartet werden
könnte. Die Arbeiter sehen aber jetzt schon die Unvernunft der Zumutung
ein, sich für eine Zukunft aufopfern zu sollen, die in nebelhafter Ferne liegt
und vielleicht niemals eintritt, und sie haben bereits gegen den Willen des
Parteivorstandes um verschiednen Orten mit Gründung von Produktivgenossen-
schaften den Anfang gemacht.

Von den "bürgerlichen" Parteien hatte eine ans christlicher Grundlage
beruhende Arbeitergcnossenschaftsbeweguug weder Liebe noch Förderung zu er¬
warten, schon darum nicht, weil diese Parteien zunächst an "gute" Wahlen
zu denken Pflegen, die Arbeiter in ihrer neuen Organisation aber schwerlich
ans eigne parlamentarische Vertretung verzichten würden. Diese Vertretung
würde zwar einen andern Ton anschlagen wie die jetzige sozialdemokratische,
aber doch in allen Fällen, wo Klasseninteressen ins Spiel kommen, zu den
"bürgerlichen" Parteien in Opposition treten. Derartige Bestrebungen hätten
demnach so wenig auf die Gunst einflußreicher Kreise zu rechnen, wie etwa
die in Nummer 34 der Grenzboten mit Recht der Beachtung empfohlene
deutsch-soziale Bewegung. Das würde indes der guten Sache nichts schaden.
Übrigens verrechnen sich die beiden "Ordnnngsparteien," die sich vorzugsweise
als solche fühlen, wenn sie glauben, daß ihnen bei dem bevorstehenden Bankerott
der sozialdemokratischen Partei die Arbeiterstimmen zufallen würden. Für die
konservative Partei, die seit einiger Zeit fast nur noch als Agrarierpartei in
Betracht kommt, kann sich der Arbeiter in einer Zeit hoher Lebensmittelpreise
und knappen Verdienstes so wenig begeistern, wie für die nativnalliberale, in
der jetzt die ziemlich unpopulären rheinischen Großindustriellen eine so hervor¬
ragende Rolle spielen. Die Arbeiter würden also, wenn die sozialdemokratische
Fraktion in die Brüche ginge, mit den Deutschfreisinnigen, oder mit den süd¬
deutschen Demokraten, oder rin den Antisemiten, oder mit dem ersten besten
Parteiführer gehen, der unter irgend einem Namen Opposition zu macheu ver¬
spräche. Es giebt ja Arbeiter, für die durch wohlwollende Unternehmer, unter
denen Krupp vor alleu glüuzt, so ausreichend gesorgt ist, daß ihnen die ganze
Politik gleichartig sein kann, und daß sie mit Vergnügen für jeden stimmen,
den ihnen ihr Brodherr bezeichnet, ohne darnach zu fragen, auf welcher Seite
des Hanfes er sich niederzulassen gedenkt; allein diese Glücklichen machen doch
nnr einen kleinen Bruchteil der gesamten Lvhnarbeiterschaft aus. Die "staats-
erhaltenden" haben also in keinem Falle auf Zuwachs aus Arbeiterkreisen zu
rechnen, und schließlich bleibt doch die Zufriedenheit der Staatsbürger, die
durch eine verstündige Arbeiterorganisation gefördert werden würde, die festeste
Grundlage des Staates, während eine große Partei der llnznfriednen, die


Die Ratlosigkeit der Socialdemokratie

Verschlechterung der Lage des Arbeiterstandes und völligen Ruin des Mittel¬
standes, weil nur von einer zu mindestens drei Vierteilen aus Proletariern
bestehenden Gesellschaft der erste Schritt zur Verwirklichung des kommunistischen
Ideals, zur „Expropriation der Expropriateure" allenfalls erwartet werden
könnte. Die Arbeiter sehen aber jetzt schon die Unvernunft der Zumutung
ein, sich für eine Zukunft aufopfern zu sollen, die in nebelhafter Ferne liegt
und vielleicht niemals eintritt, und sie haben bereits gegen den Willen des
Parteivorstandes um verschiednen Orten mit Gründung von Produktivgenossen-
schaften den Anfang gemacht.

Von den „bürgerlichen" Parteien hatte eine ans christlicher Grundlage
beruhende Arbeitergcnossenschaftsbeweguug weder Liebe noch Förderung zu er¬
warten, schon darum nicht, weil diese Parteien zunächst an „gute" Wahlen
zu denken Pflegen, die Arbeiter in ihrer neuen Organisation aber schwerlich
ans eigne parlamentarische Vertretung verzichten würden. Diese Vertretung
würde zwar einen andern Ton anschlagen wie die jetzige sozialdemokratische,
aber doch in allen Fällen, wo Klasseninteressen ins Spiel kommen, zu den
„bürgerlichen" Parteien in Opposition treten. Derartige Bestrebungen hätten
demnach so wenig auf die Gunst einflußreicher Kreise zu rechnen, wie etwa
die in Nummer 34 der Grenzboten mit Recht der Beachtung empfohlene
deutsch-soziale Bewegung. Das würde indes der guten Sache nichts schaden.
Übrigens verrechnen sich die beiden „Ordnnngsparteien," die sich vorzugsweise
als solche fühlen, wenn sie glauben, daß ihnen bei dem bevorstehenden Bankerott
der sozialdemokratischen Partei die Arbeiterstimmen zufallen würden. Für die
konservative Partei, die seit einiger Zeit fast nur noch als Agrarierpartei in
Betracht kommt, kann sich der Arbeiter in einer Zeit hoher Lebensmittelpreise
und knappen Verdienstes so wenig begeistern, wie für die nativnalliberale, in
der jetzt die ziemlich unpopulären rheinischen Großindustriellen eine so hervor¬
ragende Rolle spielen. Die Arbeiter würden also, wenn die sozialdemokratische
Fraktion in die Brüche ginge, mit den Deutschfreisinnigen, oder mit den süd¬
deutschen Demokraten, oder rin den Antisemiten, oder mit dem ersten besten
Parteiführer gehen, der unter irgend einem Namen Opposition zu macheu ver¬
spräche. Es giebt ja Arbeiter, für die durch wohlwollende Unternehmer, unter
denen Krupp vor alleu glüuzt, so ausreichend gesorgt ist, daß ihnen die ganze
Politik gleichartig sein kann, und daß sie mit Vergnügen für jeden stimmen,
den ihnen ihr Brodherr bezeichnet, ohne darnach zu fragen, auf welcher Seite
des Hanfes er sich niederzulassen gedenkt; allein diese Glücklichen machen doch
nnr einen kleinen Bruchteil der gesamten Lvhnarbeiterschaft aus. Die „staats-
erhaltenden" haben also in keinem Falle auf Zuwachs aus Arbeiterkreisen zu
rechnen, und schließlich bleibt doch die Zufriedenheit der Staatsbürger, die
durch eine verstündige Arbeiterorganisation gefördert werden würde, die festeste
Grundlage des Staates, während eine große Partei der llnznfriednen, die


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[0590] Die Ratlosigkeit der Socialdemokratie Verschlechterung der Lage des Arbeiterstandes und völligen Ruin des Mittel¬ standes, weil nur von einer zu mindestens drei Vierteilen aus Proletariern bestehenden Gesellschaft der erste Schritt zur Verwirklichung des kommunistischen Ideals, zur „Expropriation der Expropriateure" allenfalls erwartet werden könnte. Die Arbeiter sehen aber jetzt schon die Unvernunft der Zumutung ein, sich für eine Zukunft aufopfern zu sollen, die in nebelhafter Ferne liegt und vielleicht niemals eintritt, und sie haben bereits gegen den Willen des Parteivorstandes um verschiednen Orten mit Gründung von Produktivgenossen- schaften den Anfang gemacht. Von den „bürgerlichen" Parteien hatte eine ans christlicher Grundlage beruhende Arbeitergcnossenschaftsbeweguug weder Liebe noch Förderung zu er¬ warten, schon darum nicht, weil diese Parteien zunächst an „gute" Wahlen zu denken Pflegen, die Arbeiter in ihrer neuen Organisation aber schwerlich ans eigne parlamentarische Vertretung verzichten würden. Diese Vertretung würde zwar einen andern Ton anschlagen wie die jetzige sozialdemokratische, aber doch in allen Fällen, wo Klasseninteressen ins Spiel kommen, zu den „bürgerlichen" Parteien in Opposition treten. Derartige Bestrebungen hätten demnach so wenig auf die Gunst einflußreicher Kreise zu rechnen, wie etwa die in Nummer 34 der Grenzboten mit Recht der Beachtung empfohlene deutsch-soziale Bewegung. Das würde indes der guten Sache nichts schaden. Übrigens verrechnen sich die beiden „Ordnnngsparteien," die sich vorzugsweise als solche fühlen, wenn sie glauben, daß ihnen bei dem bevorstehenden Bankerott der sozialdemokratischen Partei die Arbeiterstimmen zufallen würden. Für die konservative Partei, die seit einiger Zeit fast nur noch als Agrarierpartei in Betracht kommt, kann sich der Arbeiter in einer Zeit hoher Lebensmittelpreise und knappen Verdienstes so wenig begeistern, wie für die nativnalliberale, in der jetzt die ziemlich unpopulären rheinischen Großindustriellen eine so hervor¬ ragende Rolle spielen. Die Arbeiter würden also, wenn die sozialdemokratische Fraktion in die Brüche ginge, mit den Deutschfreisinnigen, oder mit den süd¬ deutschen Demokraten, oder rin den Antisemiten, oder mit dem ersten besten Parteiführer gehen, der unter irgend einem Namen Opposition zu macheu ver¬ spräche. Es giebt ja Arbeiter, für die durch wohlwollende Unternehmer, unter denen Krupp vor alleu glüuzt, so ausreichend gesorgt ist, daß ihnen die ganze Politik gleichartig sein kann, und daß sie mit Vergnügen für jeden stimmen, den ihnen ihr Brodherr bezeichnet, ohne darnach zu fragen, auf welcher Seite des Hanfes er sich niederzulassen gedenkt; allein diese Glücklichen machen doch nnr einen kleinen Bruchteil der gesamten Lvhnarbeiterschaft aus. Die „staats- erhaltenden" haben also in keinem Falle auf Zuwachs aus Arbeiterkreisen zu rechnen, und schließlich bleibt doch die Zufriedenheit der Staatsbürger, die durch eine verstündige Arbeiterorganisation gefördert werden würde, die festeste Grundlage des Staates, während eine große Partei der llnznfriednen, die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/590>, abgerufen am 23.07.2024.