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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Die Ratlosigkeit der Sozialdemokratie

priation zu fürchten hätte, dann würde eine solche Kriegserklärung der Arbeiter
gegen die kriegführenden Mächte ganz und gar nicht lächerlich, sondern der
furchtbar ernste Anfang des Umsturzes sein. Liebknecht gesteht also die Ohn¬
macht seiner Partei ein und spricht ihr damit die Existenzberechtigung ab.
Denn eine Partei, die den Staat absetzen will, ist nur dann daseinsberechtigt,
wenn sie die Macht dazu schon besitzt oder diese Macht in nächster Zukunft
zu erringen Aussicht hat. Haben die Arbeiter aber nicht die Macht, das
Unterste zu oberst zu kehren und sich obendrauf zu setzen, so haben sie doch
die Macht, durch Begründung gemeinnütziger Einrichtungen ihre Lage zu ver¬
bessern, und nur dadurch, daß sie von dieser Macht Gebrauch machten, etwa
durch Verwandlung ihrer Fachvereine, die nichts als Streikvereine sind, in
Gewerkvereine nach dem Muster der englischen, oder durch Gründung von
Produktivgenossenschaften könnten sie den Fortbestand ihrer Partei rechtfertigen.

Der zur Zeit tobende Kampf der Jungen gegen die Alten geht denn auch
aus der ganz richtigen Erkenntnis hervor, daß die Partei ihre bisherige Hal¬
tung auf die Dauer nicht zu behaupten vermag. "Unsre parlamentarischen
Vertreter haben das sozialdemokratische Programm preisgegeben und wissen
nichts neues an die Stelle zu setzen; sie haben sich in zahme Anhänger der
bürgerlichen Demokratie verwandelt und unterscheiden sich von den Deutsch¬
freisinnigen höchstens dadurch, daß sie noch etwas mehr nörgeln als diese."
Das ist das Grundthema der Vorwürfe, die den unglückseligen sozialdemokra¬
tischen Parlamentariern tagtäglich in höchst unparlamentarischen Ausdrücken an
den Kopf geworfen werden. "Die Forderungen unsers Programms -- klagte
der Tapezierer Wildberger in einer jener stürmischen Versammlungen, die jetzt
in Berlin so häufig sind -- stehen zwar auf dem Papiere, werden aber niemals
ausgesprochen, z. B. daß die Entscheidung über Krieg und Frieden in der
Hand des Volkes liegen, das stehende Heer durch ein Vvlksheer ersetzt werden
soll." Daß die Parlamentarier von den Anarchisten so vorsichtig abrücken,
nimmt ihnen der Klavierarbeiter Veetz sehr übel; was ist denn ein Anarchist
weiter, sagt er, als ein zur Verzweiflung gebrachter Sozialdemokrat? Aber
daß das wütende Umsichschlagen von Verzweifelten den Arbeitern nichts nützen
kann, sieht die Mehrzahl doch ein. Die pathetische Drohung des Genossen
Nodrian: "Zwischen jetzt und fünfzehn Jahren kommts zum Schlagen" wurde
von der Versammlung (es war in der Nacht zum 10. September) mit stür¬
mischer Heiterkeit aufgenommen, und die Antwort Auers: "Wenn Sie Revo¬
lution machen wollen, dann machen Sie sie auf Ihre Verantwortung" mit
stürmischem Beifall; auch wurde dem Genossen Auer nach stundenlangen
furchtbarem Lärm und leidenschaftlichem Gezänk schließlich das Vertrauen der
Versammlung votirt. Aber damit ist noch immer nicht gesagt, was die Herren
in Zukunft eigentlich wollen oder sollen; wie die Arbeiter dazu kommen, mit
ihren abgedarbten Groschen in alle Ewigkeit eine Fraktion zu bezahlen, die


Die Ratlosigkeit der Sozialdemokratie

priation zu fürchten hätte, dann würde eine solche Kriegserklärung der Arbeiter
gegen die kriegführenden Mächte ganz und gar nicht lächerlich, sondern der
furchtbar ernste Anfang des Umsturzes sein. Liebknecht gesteht also die Ohn¬
macht seiner Partei ein und spricht ihr damit die Existenzberechtigung ab.
Denn eine Partei, die den Staat absetzen will, ist nur dann daseinsberechtigt,
wenn sie die Macht dazu schon besitzt oder diese Macht in nächster Zukunft
zu erringen Aussicht hat. Haben die Arbeiter aber nicht die Macht, das
Unterste zu oberst zu kehren und sich obendrauf zu setzen, so haben sie doch
die Macht, durch Begründung gemeinnütziger Einrichtungen ihre Lage zu ver¬
bessern, und nur dadurch, daß sie von dieser Macht Gebrauch machten, etwa
durch Verwandlung ihrer Fachvereine, die nichts als Streikvereine sind, in
Gewerkvereine nach dem Muster der englischen, oder durch Gründung von
Produktivgenossenschaften könnten sie den Fortbestand ihrer Partei rechtfertigen.

Der zur Zeit tobende Kampf der Jungen gegen die Alten geht denn auch
aus der ganz richtigen Erkenntnis hervor, daß die Partei ihre bisherige Hal¬
tung auf die Dauer nicht zu behaupten vermag. „Unsre parlamentarischen
Vertreter haben das sozialdemokratische Programm preisgegeben und wissen
nichts neues an die Stelle zu setzen; sie haben sich in zahme Anhänger der
bürgerlichen Demokratie verwandelt und unterscheiden sich von den Deutsch¬
freisinnigen höchstens dadurch, daß sie noch etwas mehr nörgeln als diese."
Das ist das Grundthema der Vorwürfe, die den unglückseligen sozialdemokra¬
tischen Parlamentariern tagtäglich in höchst unparlamentarischen Ausdrücken an
den Kopf geworfen werden. „Die Forderungen unsers Programms — klagte
der Tapezierer Wildberger in einer jener stürmischen Versammlungen, die jetzt
in Berlin so häufig sind — stehen zwar auf dem Papiere, werden aber niemals
ausgesprochen, z. B. daß die Entscheidung über Krieg und Frieden in der
Hand des Volkes liegen, das stehende Heer durch ein Vvlksheer ersetzt werden
soll." Daß die Parlamentarier von den Anarchisten so vorsichtig abrücken,
nimmt ihnen der Klavierarbeiter Veetz sehr übel; was ist denn ein Anarchist
weiter, sagt er, als ein zur Verzweiflung gebrachter Sozialdemokrat? Aber
daß das wütende Umsichschlagen von Verzweifelten den Arbeitern nichts nützen
kann, sieht die Mehrzahl doch ein. Die pathetische Drohung des Genossen
Nodrian: „Zwischen jetzt und fünfzehn Jahren kommts zum Schlagen" wurde
von der Versammlung (es war in der Nacht zum 10. September) mit stür¬
mischer Heiterkeit aufgenommen, und die Antwort Auers: „Wenn Sie Revo¬
lution machen wollen, dann machen Sie sie auf Ihre Verantwortung" mit
stürmischem Beifall; auch wurde dem Genossen Auer nach stundenlangen
furchtbarem Lärm und leidenschaftlichem Gezänk schließlich das Vertrauen der
Versammlung votirt. Aber damit ist noch immer nicht gesagt, was die Herren
in Zukunft eigentlich wollen oder sollen; wie die Arbeiter dazu kommen, mit
ihren abgedarbten Groschen in alle Ewigkeit eine Fraktion zu bezahlen, die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/588>, abgerufen am 26.08.2024.