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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Man könnte nun zwar manche der psychologischen Probleme, die die
Sprache bietet, erklären, wenn man moderne Sprachen, Sprachen der Europäer,
der Asiaten und der Afrikaner neben einander stellte und untersuchte, welche
Mittel jede zum Ausdruck der Gedanken anwendet, aber diesem Vorgehen
würde eine wichtige Seite fehlen, die Betrachtung der Entwicklung. Die Sprach¬
wissenschaft hat ihre überraschendsten Ergebnisse dadurch erreicht, daß sie die
Sprachen verschiedner Völker verglichen und hieraus eine viel frühere Sprach¬
periode erschlossen hat. Zwischen dieser ältesten Stufe und den historisch über¬
lieferten können wir oftmals noch Zwischenstufen aufstellen, so z. B. das Ur¬
germanische, aus den: alle germanischen Sprachen, Gotisch, Skandinavisch, Deutsch,
Englisch geflossen sind, weiter das Westgermanische, die Vorstufe für Oberdeutsch,
niederdeutsch, Friesisch und Englisch allein. Aufgabe der Sprachwissenschaft ist
die Betrachtung dieser ganzen Reihe von den ältesten Zeiten bis auf die
Dialekte der Gegenwart. Wir können nirgends einen Einschnitt machen und
müssen auch auf alle Sprachperioden die sprachwissenschaftliche, d. h. entwick-
lnngsgeschichtliche Betrachtungsweise anwenden. Thatsächlich geschieht dies
auch in den meisten Fällen. Die germanische, die slawische, die romanische
Grammatik kennt keinen andern Standpunkt der Erklciruug als diesen, nur die
klassische Philologie hält sich, zu ihrem eignen Nachteil, von der Sprachwissen¬
schaft noch fern.

Fast von selbst also hat sich der Begriff der Entwicklung ergeben, aber
gerade darin lag anch von Anfang an die größte Schwierigkeit. Von der
Sprache gilt das Wort des alten griechischen Philosophen: ?r"or" Die
Sprache ist in einem steten Flusse, ist immerwährender Veränderung unter¬
worfen, und so galt es denn zuerst, die Veränderungen, die sich von einer Zeit
zur andern eingestellt hatten, ausfindig zu machen. Vieles fiel ja sofort in
die Augen. Die deutsche Lautverschiebung ist frühzeitig von Jakob Grimm
entdeckt worden. Auch daß, obgleich sie oft für sehr viele Fülle gilt, doch
mannichfache Ausnahmen von diesen Lautveränderungen vorhanden waren,
konnte nicht verborgen bleiben, und der aus dem Altertum übernommene Satz:
"Keine Regel ohne Ausnahme" schien in der gesamten Wissenschaft selbst die
einzige Regel ohne Ausnahme zu sein. Die fortschreitende Entwicklung der Wissen¬
schaft deckte jedoch mehr und mehr deu Grund einzelner Abweichungen auf,
und so gelang es, als der romantische Sinn vom Anfang unsers Jahrhunderts
in den naturwissenschaftliche,! der modernen Zeit überzugehen anfing, den
ruhenden Pol in der Erscheinungen Furcht zu finden, in dem man den durch
die Thatsachen allerdings noch nicht völlig bestätigten Grundsatz aufstellte:
Die Lautgesetze sind ausnahmslos. Die Fassung dieses Satzes ist nicht be¬
sonders glücklich, dn sie zu vielen Mißverständnissen führen kann und geführt
hat. In letzter Linie geht er auf den Satz von zureichenden Grunde zurück,
daß sich nichts ohne Ursache vollzieht, und daß es daher Aufgabe der Wissen-


Man könnte nun zwar manche der psychologischen Probleme, die die
Sprache bietet, erklären, wenn man moderne Sprachen, Sprachen der Europäer,
der Asiaten und der Afrikaner neben einander stellte und untersuchte, welche
Mittel jede zum Ausdruck der Gedanken anwendet, aber diesem Vorgehen
würde eine wichtige Seite fehlen, die Betrachtung der Entwicklung. Die Sprach¬
wissenschaft hat ihre überraschendsten Ergebnisse dadurch erreicht, daß sie die
Sprachen verschiedner Völker verglichen und hieraus eine viel frühere Sprach¬
periode erschlossen hat. Zwischen dieser ältesten Stufe und den historisch über¬
lieferten können wir oftmals noch Zwischenstufen aufstellen, so z. B. das Ur¬
germanische, aus den: alle germanischen Sprachen, Gotisch, Skandinavisch, Deutsch,
Englisch geflossen sind, weiter das Westgermanische, die Vorstufe für Oberdeutsch,
niederdeutsch, Friesisch und Englisch allein. Aufgabe der Sprachwissenschaft ist
die Betrachtung dieser ganzen Reihe von den ältesten Zeiten bis auf die
Dialekte der Gegenwart. Wir können nirgends einen Einschnitt machen und
müssen auch auf alle Sprachperioden die sprachwissenschaftliche, d. h. entwick-
lnngsgeschichtliche Betrachtungsweise anwenden. Thatsächlich geschieht dies
auch in den meisten Fällen. Die germanische, die slawische, die romanische
Grammatik kennt keinen andern Standpunkt der Erklciruug als diesen, nur die
klassische Philologie hält sich, zu ihrem eignen Nachteil, von der Sprachwissen¬
schaft noch fern.

Fast von selbst also hat sich der Begriff der Entwicklung ergeben, aber
gerade darin lag anch von Anfang an die größte Schwierigkeit. Von der
Sprache gilt das Wort des alten griechischen Philosophen: ?r«or« Die
Sprache ist in einem steten Flusse, ist immerwährender Veränderung unter¬
worfen, und so galt es denn zuerst, die Veränderungen, die sich von einer Zeit
zur andern eingestellt hatten, ausfindig zu machen. Vieles fiel ja sofort in
die Augen. Die deutsche Lautverschiebung ist frühzeitig von Jakob Grimm
entdeckt worden. Auch daß, obgleich sie oft für sehr viele Fülle gilt, doch
mannichfache Ausnahmen von diesen Lautveränderungen vorhanden waren,
konnte nicht verborgen bleiben, und der aus dem Altertum übernommene Satz:
„Keine Regel ohne Ausnahme" schien in der gesamten Wissenschaft selbst die
einzige Regel ohne Ausnahme zu sein. Die fortschreitende Entwicklung der Wissen¬
schaft deckte jedoch mehr und mehr deu Grund einzelner Abweichungen auf,
und so gelang es, als der romantische Sinn vom Anfang unsers Jahrhunderts
in den naturwissenschaftliche,! der modernen Zeit überzugehen anfing, den
ruhenden Pol in der Erscheinungen Furcht zu finden, in dem man den durch
die Thatsachen allerdings noch nicht völlig bestätigten Grundsatz aufstellte:
Die Lautgesetze sind ausnahmslos. Die Fassung dieses Satzes ist nicht be¬
sonders glücklich, dn sie zu vielen Mißverständnissen führen kann und geführt
hat. In letzter Linie geht er auf den Satz von zureichenden Grunde zurück,
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/522>, abgerufen am 26.08.2024.