Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.Gin Evangelium des Naturalismus Kunst ist ein Stück des geschichtlichen Lebens der Völker, ein Stück des ewigen
Gin Evangelium des Naturalismus Kunst ist ein Stück des geschichtlichen Lebens der Völker, ein Stück des ewigen
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0052" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/289820"/> <fw type="header" place="top"> Gin Evangelium des Naturalismus</fw><lb/> <p xml:id="ID_151" prev="#ID_150"> Kunst ist ein Stück des geschichtlichen Lebens der Völker, ein Stück des ewigen<lb/> Werdeprvzesses der Menschheit, ein Ausfluß der Kräfte, die die nuuntcrbrvchne<lb/> Entwicklung des menschlichen Geistes bewirken. Eine Kunst, die das nicht<lb/> mehr ist, verliert ihre Daseinsberechtigung, sie ist ein dürres, abgestorbnes<lb/> Geäst auf dem Baume der lebendigen Geschichte. Wie jeden Zweig des Lebens,<lb/> kann man auch sie zum Gegenstande der Betrachtung machen; dann steht man<lb/> aber außer ihr, und es handelt sich dabei nicht um künstlerisches Schaffen,<lb/> sondern um Wissenschaft. Auch der Naturalist steht nicht in der Natur; um<lb/> sie zu kopiren, beobachtet er sie, und wenn er dann etwas geliefert zu haben<lb/> glaubt, was Natur ist, so hat er eben vergesse,?, daß Kunst nicht Wissenschaft,<lb/> sondern vor allen Dingen Leben ist. Der Naturalismus schafft weder Kunst<lb/> noch Wissenschaft, sondern einen Nonsens, der sein Dasein nur künstlich fristen<lb/> kann durch Spekulation auf die Gedankenlosigkeit, die Unwissenheit und die<lb/> pöbelhaftesten Geschmacksinstinkte der Menge. Diesen sow8 van^s mit nner-<lb/> bitterlicher Deutlichkeit veranschaulicht zu haben, ist das Verdienst des Buches<lb/> des Herrn Holz. In seinem „Phantasus" hat er sich, wie er selbst sagt, sein<lb/> eignes Epitaph gesetzt. „Die Kunst, ihr Wesen und ihre Gesetze" ist das<lb/> Epitaph der gesamten naturalistischen Schule. Herr Holz hofft, daß seiue<lb/> Theorie eine Wegweiserin sein werde, ohne die es sonst „langsamer gehen<lb/> würde." Gewiß; die Toten reiten schnelle. So wenig man auch Veranlassung<lb/> hat, Herrn Holz seinen nur mühsam unterdrückten Wunsch zu erfüllen und<lb/> vorzuschlagen, er möge mit seinen? Freunde Schlaf ins Irrenhaus gesperrt<lb/> werden, so kann man doch so viel sagen: Wer sein neuestes Buch liest und<lb/> hinterdrein noch etwas Ernsthaftes vom Naturalismus erwartet, den wird man<lb/> der sorgfältigsten Beobachtung feines Hausarztes empfehlen dürfen. Der<lb/> Naturalismus selber aber wird selbstverständlich noch eine Weile fortfahren,<lb/> zu lärmen, gegen Goethe und andre „Hindernisse" zu toben und die eignen<lb/> kleinen Lichter mit vollen Backen anzufachen, solange bis sie einmal alle aus-<lb/> geblasen sind und damit eine der traurigsten Episoden aus der deutschen<lb/> Litteraturgeschichte verschwunden sein wird. Nun aber wird mau das alles<lb/> rin Gemütsruhe an sich vorbeiziehen lassen. Aufregung und Ärger ist nicht<lb/> mehr von nöten. Auch Herr Holz hat uus für diesen Fall gewappnet. Wir<lb/> verdanken ihm ein paar Verse, die, so wenig geschmackvoll sie auch sind, doch<lb/> dein Treiben der jüngsten Deutschen gegenüber geradezu tröstend wirken:</p><lb/> <quote> <lg xml:id="POEMID_6" type="poem"> <l> Verloren bist du auf der Welt,<lb/> Wenn sich die Dummheit dir entgegenstellt.<lb/> Sie setzt Spinoza hinter Löbel Plutus<lb/> Und hat die Weisheit aller Zeiten inws.</l> <l> Sie lacht wie ein Cretin dir ins Gesicht<lb/> Und lästert alles, nur sich selber nicht.<lb/> Und nichts bleibt übrig dir vor diesem Viehchen,<lb/> Als sacht dich in dich selber zu verkriechen.</l> </lg> </quote><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0052]
Gin Evangelium des Naturalismus
Kunst ist ein Stück des geschichtlichen Lebens der Völker, ein Stück des ewigen
Werdeprvzesses der Menschheit, ein Ausfluß der Kräfte, die die nuuntcrbrvchne
Entwicklung des menschlichen Geistes bewirken. Eine Kunst, die das nicht
mehr ist, verliert ihre Daseinsberechtigung, sie ist ein dürres, abgestorbnes
Geäst auf dem Baume der lebendigen Geschichte. Wie jeden Zweig des Lebens,
kann man auch sie zum Gegenstande der Betrachtung machen; dann steht man
aber außer ihr, und es handelt sich dabei nicht um künstlerisches Schaffen,
sondern um Wissenschaft. Auch der Naturalist steht nicht in der Natur; um
sie zu kopiren, beobachtet er sie, und wenn er dann etwas geliefert zu haben
glaubt, was Natur ist, so hat er eben vergesse,?, daß Kunst nicht Wissenschaft,
sondern vor allen Dingen Leben ist. Der Naturalismus schafft weder Kunst
noch Wissenschaft, sondern einen Nonsens, der sein Dasein nur künstlich fristen
kann durch Spekulation auf die Gedankenlosigkeit, die Unwissenheit und die
pöbelhaftesten Geschmacksinstinkte der Menge. Diesen sow8 van^s mit nner-
bitterlicher Deutlichkeit veranschaulicht zu haben, ist das Verdienst des Buches
des Herrn Holz. In seinem „Phantasus" hat er sich, wie er selbst sagt, sein
eignes Epitaph gesetzt. „Die Kunst, ihr Wesen und ihre Gesetze" ist das
Epitaph der gesamten naturalistischen Schule. Herr Holz hofft, daß seiue
Theorie eine Wegweiserin sein werde, ohne die es sonst „langsamer gehen
würde." Gewiß; die Toten reiten schnelle. So wenig man auch Veranlassung
hat, Herrn Holz seinen nur mühsam unterdrückten Wunsch zu erfüllen und
vorzuschlagen, er möge mit seinen? Freunde Schlaf ins Irrenhaus gesperrt
werden, so kann man doch so viel sagen: Wer sein neuestes Buch liest und
hinterdrein noch etwas Ernsthaftes vom Naturalismus erwartet, den wird man
der sorgfältigsten Beobachtung feines Hausarztes empfehlen dürfen. Der
Naturalismus selber aber wird selbstverständlich noch eine Weile fortfahren,
zu lärmen, gegen Goethe und andre „Hindernisse" zu toben und die eignen
kleinen Lichter mit vollen Backen anzufachen, solange bis sie einmal alle aus-
geblasen sind und damit eine der traurigsten Episoden aus der deutschen
Litteraturgeschichte verschwunden sein wird. Nun aber wird mau das alles
rin Gemütsruhe an sich vorbeiziehen lassen. Aufregung und Ärger ist nicht
mehr von nöten. Auch Herr Holz hat uus für diesen Fall gewappnet. Wir
verdanken ihm ein paar Verse, die, so wenig geschmackvoll sie auch sind, doch
dein Treiben der jüngsten Deutschen gegenüber geradezu tröstend wirken:
Verloren bist du auf der Welt,
Wenn sich die Dummheit dir entgegenstellt.
Sie setzt Spinoza hinter Löbel Plutus
Und hat die Weisheit aller Zeiten inws. Sie lacht wie ein Cretin dir ins Gesicht
Und lästert alles, nur sich selber nicht.
Und nichts bleibt übrig dir vor diesem Viehchen,
Als sacht dich in dich selber zu verkriechen.
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