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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Ortszeit, Weltzeit, Lisenbahnzeit, Zonenzeit

"Die gesetzliche Stunde in Frankreich und Algerien ist die Stunde der mittlern
Zeit von Paris."

In Österreich, wo bis jetzt die Zeit von Prag und von Budapest als
Normalzeit gelten, hat der Handelsminister angeordnet, daß vom 1. Oktober
1891 an der fünfzehnte Längengrad die Normalzeit für den innern und den
äußern Dienst der Eisenbahnen bestimmen soll.

Was endlich Deutschland betrifft, so ist in Norddeutschland seit dem
1. Juni dieses Jahres sür den innern Dienst der Eisenbahnen die Zeit des
fünfzehnten Längengrades als Normalzeit an die Stelle der Zeit von Berlin
getreten. Dagegen ist für den äußern Dienst die Ortszeit beibehalten, und
immer noch haben die Eisenbahnen mit zweierlei Zeit zu rechnen. Die süd¬
deutschen Staaten haben infolge des zu Dresden gefaßten Beschlusses zunächst
erklärt, daß, solange die Zeit des fünfzehnten Längengrades nicht allgemein
für den innern und den äußern Dienst der Eisenbahnen eingeführt werde, sie
es vorzögen, an ihrer bisherigen Normalzeit (der Städte München, Stuttgart
und Karlsruhe) festzuhalten. Ob inzwischen dort andre Beschlüsse gefaßt
worden sind, ist nicht bekannt geworden. Jedoch verlautet, daß für die
bairischen und württembergischen Staatsbahnen die Einführung der Normalzeit
des fünfzehnten Längengrades am 1. April 1892 erfolgen solle. Bis zur Stande
bestehen also die verschiednen Normalzeiten in Deutschland fort. Und ein
Reisender, der z. B. die Ufer des Bodenseces bereist, wird in Konstanz,
Friedrichshafen, Lindau, Bregenz und Rorschach jedesmal eine verschiedne Zeit
finden und feine Uhr, wenn sie richtig gehen soll, anders stellen müssen.

Wiederholt ist die Angelegenheit in unsern parlamentarischen Versamm¬
lungen zur Sprache gekommen. Im Reichstage trat am 5. Dezember 1889
der Abgeordnete Henneberg (Ingenieur und Fabrikbesitzer in Berlin) entschieden
sür Einführung der Zonenzeit und zwar in Anwendung auf das gesamte
bürgerliche Leben ein, und fand dabei lebhafte Unterstützung von dem Grafen
Udo zu Stolberg. Graf Stolberg brachte die Sache auch in der Sitzung des
preußischen Herrenhauses vom 6. Mai 1890 und dann von neuem in der
Neichstagssitzung vom 5. Mürz 1891 zur Erörterung. Allerdings blieb die
Einführung der Zonenzeit im Reichstage nicht ohne Widerspruch. Der bekannte
rheinische Großindustrielle Freiherr von Stumm erklärte sich, ohne Zweifel
vom Standpunkte seiner Heimatsprovinz, als ein entschiedner Gegner des Aus¬
gebens der Ortszeit. Inzwischen war auch ein wissenschaftlicher Vekümpfer
der Zonenzeit aufgetreten. Der hochverdiente Leiter der Berliner Sternwarte,
Professor Förster, vertritt in einer Schrift "Weltzeit und Ortszeit im Bunde
gegen die Vielheit der sogenannten Einheits- oder Zonenzeit" mit Lebhaftigkeit
die Ansicht, daß nur die Weltzeit und die Ortszeit Anspruch auf Geltung
hätten. Allerdings müsse sür alle Zweige des Präzisionsverkehrs -- Tele-
graphie, Eisenbahn, Nautik -- und zwar bei der Eisenbahn nicht allein für


Ortszeit, Weltzeit, Lisenbahnzeit, Zonenzeit

„Die gesetzliche Stunde in Frankreich und Algerien ist die Stunde der mittlern
Zeit von Paris."

In Österreich, wo bis jetzt die Zeit von Prag und von Budapest als
Normalzeit gelten, hat der Handelsminister angeordnet, daß vom 1. Oktober
1891 an der fünfzehnte Längengrad die Normalzeit für den innern und den
äußern Dienst der Eisenbahnen bestimmen soll.

Was endlich Deutschland betrifft, so ist in Norddeutschland seit dem
1. Juni dieses Jahres sür den innern Dienst der Eisenbahnen die Zeit des
fünfzehnten Längengrades als Normalzeit an die Stelle der Zeit von Berlin
getreten. Dagegen ist für den äußern Dienst die Ortszeit beibehalten, und
immer noch haben die Eisenbahnen mit zweierlei Zeit zu rechnen. Die süd¬
deutschen Staaten haben infolge des zu Dresden gefaßten Beschlusses zunächst
erklärt, daß, solange die Zeit des fünfzehnten Längengrades nicht allgemein
für den innern und den äußern Dienst der Eisenbahnen eingeführt werde, sie
es vorzögen, an ihrer bisherigen Normalzeit (der Städte München, Stuttgart
und Karlsruhe) festzuhalten. Ob inzwischen dort andre Beschlüsse gefaßt
worden sind, ist nicht bekannt geworden. Jedoch verlautet, daß für die
bairischen und württembergischen Staatsbahnen die Einführung der Normalzeit
des fünfzehnten Längengrades am 1. April 1892 erfolgen solle. Bis zur Stande
bestehen also die verschiednen Normalzeiten in Deutschland fort. Und ein
Reisender, der z. B. die Ufer des Bodenseces bereist, wird in Konstanz,
Friedrichshafen, Lindau, Bregenz und Rorschach jedesmal eine verschiedne Zeit
finden und feine Uhr, wenn sie richtig gehen soll, anders stellen müssen.

Wiederholt ist die Angelegenheit in unsern parlamentarischen Versamm¬
lungen zur Sprache gekommen. Im Reichstage trat am 5. Dezember 1889
der Abgeordnete Henneberg (Ingenieur und Fabrikbesitzer in Berlin) entschieden
sür Einführung der Zonenzeit und zwar in Anwendung auf das gesamte
bürgerliche Leben ein, und fand dabei lebhafte Unterstützung von dem Grafen
Udo zu Stolberg. Graf Stolberg brachte die Sache auch in der Sitzung des
preußischen Herrenhauses vom 6. Mai 1890 und dann von neuem in der
Neichstagssitzung vom 5. Mürz 1891 zur Erörterung. Allerdings blieb die
Einführung der Zonenzeit im Reichstage nicht ohne Widerspruch. Der bekannte
rheinische Großindustrielle Freiherr von Stumm erklärte sich, ohne Zweifel
vom Standpunkte seiner Heimatsprovinz, als ein entschiedner Gegner des Aus¬
gebens der Ortszeit. Inzwischen war auch ein wissenschaftlicher Vekümpfer
der Zonenzeit aufgetreten. Der hochverdiente Leiter der Berliner Sternwarte,
Professor Förster, vertritt in einer Schrift „Weltzeit und Ortszeit im Bunde
gegen die Vielheit der sogenannten Einheits- oder Zonenzeit" mit Lebhaftigkeit
die Ansicht, daß nur die Weltzeit und die Ortszeit Anspruch auf Geltung
hätten. Allerdings müsse sür alle Zweige des Präzisionsverkehrs — Tele-
graphie, Eisenbahn, Nautik — und zwar bei der Eisenbahn nicht allein für


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[0447] Ortszeit, Weltzeit, Lisenbahnzeit, Zonenzeit „Die gesetzliche Stunde in Frankreich und Algerien ist die Stunde der mittlern Zeit von Paris." In Österreich, wo bis jetzt die Zeit von Prag und von Budapest als Normalzeit gelten, hat der Handelsminister angeordnet, daß vom 1. Oktober 1891 an der fünfzehnte Längengrad die Normalzeit für den innern und den äußern Dienst der Eisenbahnen bestimmen soll. Was endlich Deutschland betrifft, so ist in Norddeutschland seit dem 1. Juni dieses Jahres sür den innern Dienst der Eisenbahnen die Zeit des fünfzehnten Längengrades als Normalzeit an die Stelle der Zeit von Berlin getreten. Dagegen ist für den äußern Dienst die Ortszeit beibehalten, und immer noch haben die Eisenbahnen mit zweierlei Zeit zu rechnen. Die süd¬ deutschen Staaten haben infolge des zu Dresden gefaßten Beschlusses zunächst erklärt, daß, solange die Zeit des fünfzehnten Längengrades nicht allgemein für den innern und den äußern Dienst der Eisenbahnen eingeführt werde, sie es vorzögen, an ihrer bisherigen Normalzeit (der Städte München, Stuttgart und Karlsruhe) festzuhalten. Ob inzwischen dort andre Beschlüsse gefaßt worden sind, ist nicht bekannt geworden. Jedoch verlautet, daß für die bairischen und württembergischen Staatsbahnen die Einführung der Normalzeit des fünfzehnten Längengrades am 1. April 1892 erfolgen solle. Bis zur Stande bestehen also die verschiednen Normalzeiten in Deutschland fort. Und ein Reisender, der z. B. die Ufer des Bodenseces bereist, wird in Konstanz, Friedrichshafen, Lindau, Bregenz und Rorschach jedesmal eine verschiedne Zeit finden und feine Uhr, wenn sie richtig gehen soll, anders stellen müssen. Wiederholt ist die Angelegenheit in unsern parlamentarischen Versamm¬ lungen zur Sprache gekommen. Im Reichstage trat am 5. Dezember 1889 der Abgeordnete Henneberg (Ingenieur und Fabrikbesitzer in Berlin) entschieden sür Einführung der Zonenzeit und zwar in Anwendung auf das gesamte bürgerliche Leben ein, und fand dabei lebhafte Unterstützung von dem Grafen Udo zu Stolberg. Graf Stolberg brachte die Sache auch in der Sitzung des preußischen Herrenhauses vom 6. Mai 1890 und dann von neuem in der Neichstagssitzung vom 5. Mürz 1891 zur Erörterung. Allerdings blieb die Einführung der Zonenzeit im Reichstage nicht ohne Widerspruch. Der bekannte rheinische Großindustrielle Freiherr von Stumm erklärte sich, ohne Zweifel vom Standpunkte seiner Heimatsprovinz, als ein entschiedner Gegner des Aus¬ gebens der Ortszeit. Inzwischen war auch ein wissenschaftlicher Vekümpfer der Zonenzeit aufgetreten. Der hochverdiente Leiter der Berliner Sternwarte, Professor Förster, vertritt in einer Schrift „Weltzeit und Ortszeit im Bunde gegen die Vielheit der sogenannten Einheits- oder Zonenzeit" mit Lebhaftigkeit die Ansicht, daß nur die Weltzeit und die Ortszeit Anspruch auf Geltung hätten. Allerdings müsse sür alle Zweige des Präzisionsverkehrs — Tele- graphie, Eisenbahn, Nautik — und zwar bei der Eisenbahn nicht allein für

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/447>, abgerufen am 26.08.2024.