Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches können, dargeboten. Es ist als" keine vollständige, ausgeführte Lebensgeschichte, Maßgebliches und Unmaßgebliches können, dargeboten. Es ist als» keine vollständige, ausgeführte Lebensgeschichte, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0438" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/290207"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_1233" prev="#ID_1232" next="#ID_1234"> können, dargeboten. Es ist als» keine vollständige, ausgeführte Lebensgeschichte,<lb/> weder aus seiner eignen noch aus fremder Feder, sondern eine der gehaltreichen<lb/> Materialiensammlungen, die man gegenwärtig gern an die Stelle von Autobio¬<lb/> graphien und Biographien setzt. Die wertvollsten Teile des Buches nach der<lb/> Seite der Darstellung bilden die eignen Jugenderinnerungen Leopold Rankes, die<lb/> in den beiden Diktaten aus deu Jahren 1863 und 18K9 seine Knabenjahre, die<lb/> Schul- und Universitätszeit und die Gymnasiallehrerjahre in Frankfurt a. d. O.,<lb/> soweit sie ausgeführt siud, in höchster Anschaulichkeit und sonst in Umrissen schil¬<lb/> dern, die Auseinandersetzungen über seine wissenschaftliche Entwicklung (in dem Diktat<lb/> vom November 1885) und natürlich einige der Briefe, die, charakteristisch genug<lb/> für vergangne Zustände, mit einem Briefe vom 4. August 1819 an einen (unbekannten)<lb/> preußischen Regierungspräsidenten beginnen, worin Ranke Jahr, Arndt und die<lb/> preußische Jugend gegen den Verdacht blutiger Geheimbündelei verteidigen muß.<lb/> Die Jugenderinnerungen führen uns in die goldne Ane, eine jener Landschaften,<lb/> die seit dem großen Reisefieber, das die Menschen ergriffen hat, wenig mehr be¬<lb/> sucht werden. Wie aus der Vergangenheit taucht in den Aufzeichnungen Rankes<lb/> das (damals) kursächsische Ackerstädtchen Wiese mit seinen einfachen Verhältnissen<lb/> empor, in denen sich doch für den empfänglichen Sinn eine Fülle mannichfaltigen<lb/> Lebens barg. Der Geschichtschreiber sah auf eine Reihe von Vorfahren zurück,<lb/> die als Juristen und Geistliche Lebenskreisen von bescheidnen Mitteln, aber hoher<lb/> Bildung angehört hatten, eben den Lebenskreisen, denen unsre Sozialdemokratie<lb/> noch ingrimmiger den Tod geschworen hat, als selbst den Kapitalisten, und deren<lb/> Wohl und Wehe die neueste Staatsweisheit als das gleichgiltigste und untergeord¬<lb/> netste Von der Welt ansieht. In den Jahrzehnten, in denen Ranke emporwuchs,<lb/> die alte Schulpforte besuchte und auf der Leipziger Universität seine Studien be¬<lb/> gann, lagen die Dinge anders und glücklicher; auch durch seine Erinnerungen aus<lb/> Frankfurt a. d. O., wo er „ziemlich jung und noch jugendlicher aussehend" ein<lb/> Gymnasiallehreramt antrat und zwischen 1818 und 1825 bekleidete, weht der<lb/> Hauch einer Zeit, die der ernsten und Ernstes wollenden Individualität Raum<lb/> zum Streben ließ, ohne sie zum Streber zu machen. In Frankfurt, wo er sein<lb/> erstes Buch, die „Geschichten romanischer und germanischer Völker" schrieb, entschied<lb/> sich Rankes Zukunft. In der dem Frankfurter Gymnasium hinterlassnen Wester-<lb/> mannschen Bibliothek fand er „die trefflichsten Werke vor, die die Aussicht auf<lb/> künftige. Studien gaben, wie er sie zu machen wünschte. Denn darauf — schreibt<lb/> er — war meine Seele hauptsächlich gerichtet, obwohl ich mein Amt, zu dem ich in<lb/> Leipzig in dem philologisch-pädagogischen Seminar schon einigermaßen vorbereitet<lb/> worden, zugleich wirklich als meinen vornehmsten Beruf ansah." Und nach seiner<lb/> Berufung an die Berliner Universität im Jahre 1825 trat für den Historiker die<lb/> eigne Geschichtsforschung und eigne Geschichtsdarstellung in den Vordergrund, auch<lb/> wenn er seine Professur als seinen Hauptberuf angesehen hätte. Mit guter Selbst¬<lb/> erkenntnis schrieb er seinem Bruder Heinrich im Februar und Mai 1827: „Den<lb/> größten Reiz, wie du wohl weißt, und wie ich dir oft wiederhole, hat es für mich,<lb/> deu Gang der menschlichen Entwicklung, die Idee der Weltgeschichte aufzusuchen;<lb/> dies ist freilich die schönste und merkwürdigste Geschichte, welche je geschah. Was<lb/> hat mehr Wahrheit, was führt uns näher zur Erkenntnis des wesentlichen Seins:<lb/> das Verfolgen spekulativer Gedanken oder das Ergreifen der Zustände der Mensch¬<lb/> heit, aus denen doch immer die uns eingeborne Sinnesweise lebendig heraustritt?<lb/> Ich bin nun für das letzte, weil es dem Irrtum minder unterworfen ist. Freilich ist<lb/> zu beklagen, daß unsre Historie so lauter Bruchstück — oft dunkel, oft ganz unde-</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0438]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
können, dargeboten. Es ist als» keine vollständige, ausgeführte Lebensgeschichte,
weder aus seiner eignen noch aus fremder Feder, sondern eine der gehaltreichen
Materialiensammlungen, die man gegenwärtig gern an die Stelle von Autobio¬
graphien und Biographien setzt. Die wertvollsten Teile des Buches nach der
Seite der Darstellung bilden die eignen Jugenderinnerungen Leopold Rankes, die
in den beiden Diktaten aus deu Jahren 1863 und 18K9 seine Knabenjahre, die
Schul- und Universitätszeit und die Gymnasiallehrerjahre in Frankfurt a. d. O.,
soweit sie ausgeführt siud, in höchster Anschaulichkeit und sonst in Umrissen schil¬
dern, die Auseinandersetzungen über seine wissenschaftliche Entwicklung (in dem Diktat
vom November 1885) und natürlich einige der Briefe, die, charakteristisch genug
für vergangne Zustände, mit einem Briefe vom 4. August 1819 an einen (unbekannten)
preußischen Regierungspräsidenten beginnen, worin Ranke Jahr, Arndt und die
preußische Jugend gegen den Verdacht blutiger Geheimbündelei verteidigen muß.
Die Jugenderinnerungen führen uns in die goldne Ane, eine jener Landschaften,
die seit dem großen Reisefieber, das die Menschen ergriffen hat, wenig mehr be¬
sucht werden. Wie aus der Vergangenheit taucht in den Aufzeichnungen Rankes
das (damals) kursächsische Ackerstädtchen Wiese mit seinen einfachen Verhältnissen
empor, in denen sich doch für den empfänglichen Sinn eine Fülle mannichfaltigen
Lebens barg. Der Geschichtschreiber sah auf eine Reihe von Vorfahren zurück,
die als Juristen und Geistliche Lebenskreisen von bescheidnen Mitteln, aber hoher
Bildung angehört hatten, eben den Lebenskreisen, denen unsre Sozialdemokratie
noch ingrimmiger den Tod geschworen hat, als selbst den Kapitalisten, und deren
Wohl und Wehe die neueste Staatsweisheit als das gleichgiltigste und untergeord¬
netste Von der Welt ansieht. In den Jahrzehnten, in denen Ranke emporwuchs,
die alte Schulpforte besuchte und auf der Leipziger Universität seine Studien be¬
gann, lagen die Dinge anders und glücklicher; auch durch seine Erinnerungen aus
Frankfurt a. d. O., wo er „ziemlich jung und noch jugendlicher aussehend" ein
Gymnasiallehreramt antrat und zwischen 1818 und 1825 bekleidete, weht der
Hauch einer Zeit, die der ernsten und Ernstes wollenden Individualität Raum
zum Streben ließ, ohne sie zum Streber zu machen. In Frankfurt, wo er sein
erstes Buch, die „Geschichten romanischer und germanischer Völker" schrieb, entschied
sich Rankes Zukunft. In der dem Frankfurter Gymnasium hinterlassnen Wester-
mannschen Bibliothek fand er „die trefflichsten Werke vor, die die Aussicht auf
künftige. Studien gaben, wie er sie zu machen wünschte. Denn darauf — schreibt
er — war meine Seele hauptsächlich gerichtet, obwohl ich mein Amt, zu dem ich in
Leipzig in dem philologisch-pädagogischen Seminar schon einigermaßen vorbereitet
worden, zugleich wirklich als meinen vornehmsten Beruf ansah." Und nach seiner
Berufung an die Berliner Universität im Jahre 1825 trat für den Historiker die
eigne Geschichtsforschung und eigne Geschichtsdarstellung in den Vordergrund, auch
wenn er seine Professur als seinen Hauptberuf angesehen hätte. Mit guter Selbst¬
erkenntnis schrieb er seinem Bruder Heinrich im Februar und Mai 1827: „Den
größten Reiz, wie du wohl weißt, und wie ich dir oft wiederhole, hat es für mich,
deu Gang der menschlichen Entwicklung, die Idee der Weltgeschichte aufzusuchen;
dies ist freilich die schönste und merkwürdigste Geschichte, welche je geschah. Was
hat mehr Wahrheit, was führt uns näher zur Erkenntnis des wesentlichen Seins:
das Verfolgen spekulativer Gedanken oder das Ergreifen der Zustände der Mensch¬
heit, aus denen doch immer die uns eingeborne Sinnesweise lebendig heraustritt?
Ich bin nun für das letzte, weil es dem Irrtum minder unterworfen ist. Freilich ist
zu beklagen, daß unsre Historie so lauter Bruchstück — oft dunkel, oft ganz unde-
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