Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Geschichtsxhilosophische Gedanken

Hintergrund zu drängen, damit sich das weltliche Leben freier und widerspruchs¬
loser als bisher entfalten könne. Ihm war es heiliger Ernst mit der Er¬
neuerung des wahren Christentums, das auch seiner Meinung nach dieses
irdische Leben beherrschen sollte. Die Schwierigkeit, ja die Unmöglichkeit der
Aufgabe, die Massen zu einer vollkommen reinen Auffassung und würdige"
Behandlung des Heiligen zu erheben, verkannte oder übersah er allerdings
nur in den ersten Zeiten seines begeisterten Kampfes gegen die verrottete
Hierarchie. Schon im Jahre 1526 bekannte er in der Einleitung zu der
deutschen Messe, die er für die kursächsischen Gemeinden verfaßt hatte, daß
diese neue Gottesdienstordnung ihn selber nicht befriedige. "Die rechte Weise,
meint er, müßte nicht so öffentlich auf dem Platze geschehen unter allerlei
Volk, sondern die, so mit Ernst Christen wollten sein und das Evangelium
mit Hand und Mund bekennen, müßten mit Namen sich einzeichnen und etwa
in einem Hause allein sich versammeln zum Gebet, zu lesen, zu taufen, das
Sakrament zu empfahen und andre christliche Werke zu üben. In dieser
Ordnung könnte man die, so sich nicht christlich hielten, kennen, strafen, bessern,
ausstoßen oder in den Bann thun. Hie könnte man auch ein gemein Almosen
den Christen auslegen, das man williglich gäbe und austeilte unter die Armen.
Hie dürfts nicht viel und groß Gesanges. Hie könnte man auch eine feine
kurze Weise mit der Taufe und dem Sakrament halten und alles aufs Wort
und Gebet und die Liebe richten." Und je länger je härter rügt er in seiner
derben Weise das Verhalten des großen Haufens, der die dem deutschen Volke
aufs neue geschenkten Kleinode, das Evangelium, den reinen Glauben und die
christliche Freiheit weder zu würdigen, noch zu gebrauchen verstehe, sondern
nach Art gewisser unsaubrer Tiere nur besudle. Es gereicht ihm zum höchsten
Ruhme, daß er das scheinbar unmögliche dennoch unternahm und für diesen
unverbesserlichen und unbelehrbarer großen Haufen eine feste, für alle brauch¬
bare und wirksame Gottesdienstordnung einsetzte. Gerade damit liefert er den
Beweis für die Echtheit seines Christentums; denn der gläubige Christ weiß,
daß alles menschliche Wirken nur Stückwerk ist, daß es nicht auf den Erfolg,
sondern auf den guten Willen und die Treue des Wirkender ankommt. Er
spricht daher niemals: Entweder alles oder nichts, sondern thut, was im
Augenblick möglich ist, indem er den Erfolg und die Lösung der Frage, ob
solchem kümmerlichen Stückwerk vor der göttlichen Idee irgend welche Daseins¬
berechtigung zukomme, Gott anheimstellt. Auch durch die Liebe zum Volke,
das er nicht im Stich läßt, um sich hochmütig auf ein kleines Konventikel
auserwühlter Seelen zurückzuziehen, bewährt sich Luther als echten Christe".
Daß alle Menschen Ebenbilder Gottes seien, meint Lotze, sei ein erhabner
Gedanke; aber es falle schwer, daran festzuhalten, wenn man den Ebenbildern
Gottes auf der Straße begegne. Eben in der Überwindung dieses Wider¬
strebet bewährt sich das praktische Christentum. Und endlich darf nicht über-


Geschichtsxhilosophische Gedanken

Hintergrund zu drängen, damit sich das weltliche Leben freier und widerspruchs¬
loser als bisher entfalten könne. Ihm war es heiliger Ernst mit der Er¬
neuerung des wahren Christentums, das auch seiner Meinung nach dieses
irdische Leben beherrschen sollte. Die Schwierigkeit, ja die Unmöglichkeit der
Aufgabe, die Massen zu einer vollkommen reinen Auffassung und würdige»
Behandlung des Heiligen zu erheben, verkannte oder übersah er allerdings
nur in den ersten Zeiten seines begeisterten Kampfes gegen die verrottete
Hierarchie. Schon im Jahre 1526 bekannte er in der Einleitung zu der
deutschen Messe, die er für die kursächsischen Gemeinden verfaßt hatte, daß
diese neue Gottesdienstordnung ihn selber nicht befriedige. „Die rechte Weise,
meint er, müßte nicht so öffentlich auf dem Platze geschehen unter allerlei
Volk, sondern die, so mit Ernst Christen wollten sein und das Evangelium
mit Hand und Mund bekennen, müßten mit Namen sich einzeichnen und etwa
in einem Hause allein sich versammeln zum Gebet, zu lesen, zu taufen, das
Sakrament zu empfahen und andre christliche Werke zu üben. In dieser
Ordnung könnte man die, so sich nicht christlich hielten, kennen, strafen, bessern,
ausstoßen oder in den Bann thun. Hie könnte man auch ein gemein Almosen
den Christen auslegen, das man williglich gäbe und austeilte unter die Armen.
Hie dürfts nicht viel und groß Gesanges. Hie könnte man auch eine feine
kurze Weise mit der Taufe und dem Sakrament halten und alles aufs Wort
und Gebet und die Liebe richten." Und je länger je härter rügt er in seiner
derben Weise das Verhalten des großen Haufens, der die dem deutschen Volke
aufs neue geschenkten Kleinode, das Evangelium, den reinen Glauben und die
christliche Freiheit weder zu würdigen, noch zu gebrauchen verstehe, sondern
nach Art gewisser unsaubrer Tiere nur besudle. Es gereicht ihm zum höchsten
Ruhme, daß er das scheinbar unmögliche dennoch unternahm und für diesen
unverbesserlichen und unbelehrbarer großen Haufen eine feste, für alle brauch¬
bare und wirksame Gottesdienstordnung einsetzte. Gerade damit liefert er den
Beweis für die Echtheit seines Christentums; denn der gläubige Christ weiß,
daß alles menschliche Wirken nur Stückwerk ist, daß es nicht auf den Erfolg,
sondern auf den guten Willen und die Treue des Wirkender ankommt. Er
spricht daher niemals: Entweder alles oder nichts, sondern thut, was im
Augenblick möglich ist, indem er den Erfolg und die Lösung der Frage, ob
solchem kümmerlichen Stückwerk vor der göttlichen Idee irgend welche Daseins¬
berechtigung zukomme, Gott anheimstellt. Auch durch die Liebe zum Volke,
das er nicht im Stich läßt, um sich hochmütig auf ein kleines Konventikel
auserwühlter Seelen zurückzuziehen, bewährt sich Luther als echten Christe».
Daß alle Menschen Ebenbilder Gottes seien, meint Lotze, sei ein erhabner
Gedanke; aber es falle schwer, daran festzuhalten, wenn man den Ebenbildern
Gottes auf der Straße begegne. Eben in der Überwindung dieses Wider¬
strebet bewährt sich das praktische Christentum. Und endlich darf nicht über-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0412" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/290181"/>
          <fw type="header" place="top"> Geschichtsxhilosophische Gedanken</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1168" prev="#ID_1167" next="#ID_1169"> Hintergrund zu drängen, damit sich das weltliche Leben freier und widerspruchs¬<lb/>
loser als bisher entfalten könne. Ihm war es heiliger Ernst mit der Er¬<lb/>
neuerung des wahren Christentums, das auch seiner Meinung nach dieses<lb/>
irdische Leben beherrschen sollte. Die Schwierigkeit, ja die Unmöglichkeit der<lb/>
Aufgabe, die Massen zu einer vollkommen reinen Auffassung und würdige»<lb/>
Behandlung des Heiligen zu erheben, verkannte oder übersah er allerdings<lb/>
nur in den ersten Zeiten seines begeisterten Kampfes gegen die verrottete<lb/>
Hierarchie. Schon im Jahre 1526 bekannte er in der Einleitung zu der<lb/>
deutschen Messe, die er für die kursächsischen Gemeinden verfaßt hatte, daß<lb/>
diese neue Gottesdienstordnung ihn selber nicht befriedige. &#x201E;Die rechte Weise,<lb/>
meint er, müßte nicht so öffentlich auf dem Platze geschehen unter allerlei<lb/>
Volk, sondern die, so mit Ernst Christen wollten sein und das Evangelium<lb/>
mit Hand und Mund bekennen, müßten mit Namen sich einzeichnen und etwa<lb/>
in einem Hause allein sich versammeln zum Gebet, zu lesen, zu taufen, das<lb/>
Sakrament zu empfahen und andre christliche Werke zu üben. In dieser<lb/>
Ordnung könnte man die, so sich nicht christlich hielten, kennen, strafen, bessern,<lb/>
ausstoßen oder in den Bann thun. Hie könnte man auch ein gemein Almosen<lb/>
den Christen auslegen, das man williglich gäbe und austeilte unter die Armen.<lb/>
Hie dürfts nicht viel und groß Gesanges. Hie könnte man auch eine feine<lb/>
kurze Weise mit der Taufe und dem Sakrament halten und alles aufs Wort<lb/>
und Gebet und die Liebe richten." Und je länger je härter rügt er in seiner<lb/>
derben Weise das Verhalten des großen Haufens, der die dem deutschen Volke<lb/>
aufs neue geschenkten Kleinode, das Evangelium, den reinen Glauben und die<lb/>
christliche Freiheit weder zu würdigen, noch zu gebrauchen verstehe, sondern<lb/>
nach Art gewisser unsaubrer Tiere nur besudle. Es gereicht ihm zum höchsten<lb/>
Ruhme, daß er das scheinbar unmögliche dennoch unternahm und für diesen<lb/>
unverbesserlichen und unbelehrbarer großen Haufen eine feste, für alle brauch¬<lb/>
bare und wirksame Gottesdienstordnung einsetzte. Gerade damit liefert er den<lb/>
Beweis für die Echtheit seines Christentums; denn der gläubige Christ weiß,<lb/>
daß alles menschliche Wirken nur Stückwerk ist, daß es nicht auf den Erfolg,<lb/>
sondern auf den guten Willen und die Treue des Wirkender ankommt. Er<lb/>
spricht daher niemals: Entweder alles oder nichts, sondern thut, was im<lb/>
Augenblick möglich ist, indem er den Erfolg und die Lösung der Frage, ob<lb/>
solchem kümmerlichen Stückwerk vor der göttlichen Idee irgend welche Daseins¬<lb/>
berechtigung zukomme, Gott anheimstellt. Auch durch die Liebe zum Volke,<lb/>
das er nicht im Stich läßt, um sich hochmütig auf ein kleines Konventikel<lb/>
auserwühlter Seelen zurückzuziehen, bewährt sich Luther als echten Christe».<lb/>
Daß alle Menschen Ebenbilder Gottes seien, meint Lotze, sei ein erhabner<lb/>
Gedanke; aber es falle schwer, daran festzuhalten, wenn man den Ebenbildern<lb/>
Gottes auf der Straße begegne. Eben in der Überwindung dieses Wider¬<lb/>
strebet bewährt sich das praktische Christentum. Und endlich darf nicht über-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0412] Geschichtsxhilosophische Gedanken Hintergrund zu drängen, damit sich das weltliche Leben freier und widerspruchs¬ loser als bisher entfalten könne. Ihm war es heiliger Ernst mit der Er¬ neuerung des wahren Christentums, das auch seiner Meinung nach dieses irdische Leben beherrschen sollte. Die Schwierigkeit, ja die Unmöglichkeit der Aufgabe, die Massen zu einer vollkommen reinen Auffassung und würdige» Behandlung des Heiligen zu erheben, verkannte oder übersah er allerdings nur in den ersten Zeiten seines begeisterten Kampfes gegen die verrottete Hierarchie. Schon im Jahre 1526 bekannte er in der Einleitung zu der deutschen Messe, die er für die kursächsischen Gemeinden verfaßt hatte, daß diese neue Gottesdienstordnung ihn selber nicht befriedige. „Die rechte Weise, meint er, müßte nicht so öffentlich auf dem Platze geschehen unter allerlei Volk, sondern die, so mit Ernst Christen wollten sein und das Evangelium mit Hand und Mund bekennen, müßten mit Namen sich einzeichnen und etwa in einem Hause allein sich versammeln zum Gebet, zu lesen, zu taufen, das Sakrament zu empfahen und andre christliche Werke zu üben. In dieser Ordnung könnte man die, so sich nicht christlich hielten, kennen, strafen, bessern, ausstoßen oder in den Bann thun. Hie könnte man auch ein gemein Almosen den Christen auslegen, das man williglich gäbe und austeilte unter die Armen. Hie dürfts nicht viel und groß Gesanges. Hie könnte man auch eine feine kurze Weise mit der Taufe und dem Sakrament halten und alles aufs Wort und Gebet und die Liebe richten." Und je länger je härter rügt er in seiner derben Weise das Verhalten des großen Haufens, der die dem deutschen Volke aufs neue geschenkten Kleinode, das Evangelium, den reinen Glauben und die christliche Freiheit weder zu würdigen, noch zu gebrauchen verstehe, sondern nach Art gewisser unsaubrer Tiere nur besudle. Es gereicht ihm zum höchsten Ruhme, daß er das scheinbar unmögliche dennoch unternahm und für diesen unverbesserlichen und unbelehrbarer großen Haufen eine feste, für alle brauch¬ bare und wirksame Gottesdienstordnung einsetzte. Gerade damit liefert er den Beweis für die Echtheit seines Christentums; denn der gläubige Christ weiß, daß alles menschliche Wirken nur Stückwerk ist, daß es nicht auf den Erfolg, sondern auf den guten Willen und die Treue des Wirkender ankommt. Er spricht daher niemals: Entweder alles oder nichts, sondern thut, was im Augenblick möglich ist, indem er den Erfolg und die Lösung der Frage, ob solchem kümmerlichen Stückwerk vor der göttlichen Idee irgend welche Daseins¬ berechtigung zukomme, Gott anheimstellt. Auch durch die Liebe zum Volke, das er nicht im Stich läßt, um sich hochmütig auf ein kleines Konventikel auserwühlter Seelen zurückzuziehen, bewährt sich Luther als echten Christe». Daß alle Menschen Ebenbilder Gottes seien, meint Lotze, sei ein erhabner Gedanke; aber es falle schwer, daran festzuhalten, wenn man den Ebenbildern Gottes auf der Straße begegne. Eben in der Überwindung dieses Wider¬ strebet bewährt sich das praktische Christentum. Und endlich darf nicht über-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/412
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/412>, abgerufen am 23.07.2024.