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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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aus Langensalza, der in den fünfziger Jahren als Regierungsrat in Posen
gestorben ist. Als dieses Bänkelsängerlied nun gar nach eigner Melodie von
den Referendaren gesungen wurde, stieg die Erbitterung der Bürger muss
höchste, es kam zu einem förmlichen Krawall mit Prügeleien und allem, was
dazu gehört. Lange Zeit blieb das Sehffertsche Hussitenlied, in dem Ranhs
und Brauns Erzählung frei variirt wird, ein Schiboleth der Lepsianer und
war bei der ander" Partei in Acht und Bann gethan. Aber die alles aus¬
gleichende Zeit hat auch hier versöhnend gewirkt, zumal als Seyfferts Lied
sich allmählich eine durch ganz Deutschland gehende Popularität errang,*) auf
deren Flügeln der Ruhm des Naumburger Kirschfestes abermals bis in die
fernsten Gegenden des deutschen Vaterlandes getragen wurde. Und auch drüber
hinaus ist es gedrungen, verrät doch der als "Lehrer von der Schul" und
nicht als Schlosser oder Viertelsmeister dargestellte Kinderführer auf Cermäks
Gemälde, daß der Künstler auch bei Sehffert in die Schule gegangen ist.

Eine litterarische Fälschung lenkte zuerst die Aufmerksamkeit auf das
Naumburger Kirschfest; ein auf dieser Fälschung ruhendes weinerliches Rühr¬
stück machte es zu einer Berühmtheit Naumburgs; ein Vänkelsängerlied, das
die Fälschung verspottet, prägte es dauernd in das Gedächtnis des deutschen
Volkes ein. Raub ist vor dem Richterstuhle der Wissenschaft als Schwindler
entlarvt, aber seine Fabulisterei hat sowohl die Feder der Dramatiker, Lyriker,
Epiker und Novellisten, wie den Pinsel des Malers in Bewegung gesetzt und
der Stadt Naumburg ein weit und breit bekanntes Volksfest geschaffen, das
mit unverwüstlicher Anziehungskraft Jahr für Jahr Schaulustige von nah
und fern herbeilockt. Wie wunderbar! Auch die Parteien sind verschwunden.
Friedlich wandelt jetzt der unbelehrbare kleine Mann, der von Prokop nicht
lassen will, zum Kirschfest auf der Vogelwiese neben dem andern einher, der
seinen Lepsius studirt hat und über die Nauhschen Ungeheuerlichkeiten lacht.
Friedlich betrachten Referendare wie Bürger, Erwachsene wie Kinder die Kari¬
katur über dem Neferendarienzelte und singen gemeinschaftlich das vormalige
Spottlied, das unter den vielen schlechten und wenigen guten Kirschfestliedern
das Lied x"?/ cZo/^ geworden ist:


Und zu Ehren des Mirakel
Ist nun jährlich ein Spektakel;
Kennt ihr nicht das Kirschenfest,
Wo mans Geld in Zelten läßt?
Freiheit und Viktoria!




*) Man trifft es fast in allen Liederbüchern. Mit komischen Illustrationen ist es auch
in den Stuttgarter "Deutschen Bilderbogen" (Ur. 213) und in den "Münchner Bilderbogen"
(Ur. 924) zu finden.

aus Langensalza, der in den fünfziger Jahren als Regierungsrat in Posen
gestorben ist. Als dieses Bänkelsängerlied nun gar nach eigner Melodie von
den Referendaren gesungen wurde, stieg die Erbitterung der Bürger muss
höchste, es kam zu einem förmlichen Krawall mit Prügeleien und allem, was
dazu gehört. Lange Zeit blieb das Sehffertsche Hussitenlied, in dem Ranhs
und Brauns Erzählung frei variirt wird, ein Schiboleth der Lepsianer und
war bei der ander» Partei in Acht und Bann gethan. Aber die alles aus¬
gleichende Zeit hat auch hier versöhnend gewirkt, zumal als Seyfferts Lied
sich allmählich eine durch ganz Deutschland gehende Popularität errang,*) auf
deren Flügeln der Ruhm des Naumburger Kirschfestes abermals bis in die
fernsten Gegenden des deutschen Vaterlandes getragen wurde. Und auch drüber
hinaus ist es gedrungen, verrät doch der als „Lehrer von der Schul" und
nicht als Schlosser oder Viertelsmeister dargestellte Kinderführer auf Cermäks
Gemälde, daß der Künstler auch bei Sehffert in die Schule gegangen ist.

Eine litterarische Fälschung lenkte zuerst die Aufmerksamkeit auf das
Naumburger Kirschfest; ein auf dieser Fälschung ruhendes weinerliches Rühr¬
stück machte es zu einer Berühmtheit Naumburgs; ein Vänkelsängerlied, das
die Fälschung verspottet, prägte es dauernd in das Gedächtnis des deutschen
Volkes ein. Raub ist vor dem Richterstuhle der Wissenschaft als Schwindler
entlarvt, aber seine Fabulisterei hat sowohl die Feder der Dramatiker, Lyriker,
Epiker und Novellisten, wie den Pinsel des Malers in Bewegung gesetzt und
der Stadt Naumburg ein weit und breit bekanntes Volksfest geschaffen, das
mit unverwüstlicher Anziehungskraft Jahr für Jahr Schaulustige von nah
und fern herbeilockt. Wie wunderbar! Auch die Parteien sind verschwunden.
Friedlich wandelt jetzt der unbelehrbare kleine Mann, der von Prokop nicht
lassen will, zum Kirschfest auf der Vogelwiese neben dem andern einher, der
seinen Lepsius studirt hat und über die Nauhschen Ungeheuerlichkeiten lacht.
Friedlich betrachten Referendare wie Bürger, Erwachsene wie Kinder die Kari¬
katur über dem Neferendarienzelte und singen gemeinschaftlich das vormalige
Spottlied, das unter den vielen schlechten und wenigen guten Kirschfestliedern
das Lied x«?/ cZo/^ geworden ist:


Und zu Ehren des Mirakel
Ist nun jährlich ein Spektakel;
Kennt ihr nicht das Kirschenfest,
Wo mans Geld in Zelten läßt?
Freiheit und Viktoria!




*) Man trifft es fast in allen Liederbüchern. Mit komischen Illustrationen ist es auch
in den Stuttgarter „Deutschen Bilderbogen" (Ur. 213) und in den „Münchner Bilderbogen"
(Ur. 924) zu finden.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/387>, abgerufen am 23.07.2024.