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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Das Naumburger Airschfest

Naumburg a. d. Saale," wohl dem berühmtesten aller deutschen Volksfeste.
Nicht nur im deutschen Sprachgebiete haben Zeitschriften wie Lohmeyers
"Deutsche Jugend" (1875), Kleinsteubers "Europa" (1881) und das "Daheim"
(1886) neuerdings durch besondre Aufsätze die Kunde von diesem Feste aufs
neue in den weitesten Kreisen des Volkes aufgefrischt, auch bis ins Ausland
ist sein Ruhm gedrungen, sodciß z. B. eines der größten Londoner Tages¬
blätter -- es waren wohl die vsiil^ Asvs -- im Sommer 1886 eine mehr¬
spaltige Abhandlung über IKs MuinvurZ' ovIsdriMon brachte, nachdem schon
elf Jahre früher die Pariser Zeitung I>e temps ihren Lesern von dem Kirsch¬
feste berichtet hatte, dessen Schauplatz sie freilich statt nach Naumburg irrtümlich
in das bekanntere Hamburg verlegte.

Nicht von Urbeginn an hat das Naumburger Kirschfest in diesem Ansehen
gestanden, lange Zeit ist es ein Fest gewesen wie viele andre auch, das ohne
weitergehende Ansprüche und ohne besonders charakteristische Eigenheiten nur
in dem engen Kreise der Stadt bekannt war und gefeiert wurde. Ja es war
früher nicht einmal ein allgemeines Volksfest, sondern nur ein Schulfest, und
zwar ausschließlich für die Schulen der innern Stadt, während die Volks¬
schüler der jetzt ganz mit der Stadt zusammengewachsenen Domfreiheit und
der Vorstädte erst seit 1816 zur Beteiligung zugelassen worden sind. Als
Festplatz dient gegenwärtig die "Vogelwiese,"*) die südöstlich unmittelbar an die
innere Stadt grenzt; vor Zeiten aber beging man die Feier auf dem südlich
etwas weiter vor der Stadt gelegenen bewaldeten Höhenzuge "Wetthoye,"
d. h. Naßhügel, den jetzt die Anlagen des Bürgergartens und weiter hinauf
das Buchholz bedecken. Die Erinnerung an diesen ursprünglichen Festplatz
hat sich darin erhalten, daß bis auf den heutigen Tag vor der Feier Laub
und grüne Zweige im Buchholze gebrochen und in der Stadt an die Knaben
verteilt werden, die damit geschmückt unter Trommelklang und dem Rufe
"Freiheit, beißa, Viktoria!" während der Festtage umherziehen. Auch spiele"
sich noch einzelne Teile des Festes auf dem Bürgergarden ab. In Bezug auf die
Zeit des Kirschfestes sind im Laufe der Jahrhunderte nur geringe Schwankungen
wahrnehmbar geworden. Ende Juli und Anfang August umschließen die
regelmäßige Kirschfestzcit, in vereinzelten Ausnahmefällen ist die Feier bis
frühestens Anfang Juli und spätestens Ende August verschoben worden. Die
Dauer des Festes beträgt vier Tage, von denen zwei den Knaben und zwei
den Mädchen gewidmet sind; dazwischen liegt ein Ruhetag. Am Montag
früh ziehen die mit Laub, Schärpen und Lanzenfühuchen geschmückten Knaben



*) Sie trägt ihren Namen von dem Schützenvogel, der früher dort von der Stange
geschossen wurde. Aber schon längst ist an Stelle des Vogels ein Schießmann getreten,
und neuerdings ist auch das Mannschießen an einen andern Platz verlegt worden. Da s!es
die "Wiese" allmählich anch in einen kiesbedeckten Platz umgewandelt hat, entbehrt der Name
"Vogelwiese" jeder Beziehung auf die Gegenwart.
Das Naumburger Airschfest

Naumburg a. d. Saale," wohl dem berühmtesten aller deutschen Volksfeste.
Nicht nur im deutschen Sprachgebiete haben Zeitschriften wie Lohmeyers
„Deutsche Jugend" (1875), Kleinsteubers „Europa" (1881) und das „Daheim"
(1886) neuerdings durch besondre Aufsätze die Kunde von diesem Feste aufs
neue in den weitesten Kreisen des Volkes aufgefrischt, auch bis ins Ausland
ist sein Ruhm gedrungen, sodciß z. B. eines der größten Londoner Tages¬
blätter — es waren wohl die vsiil^ Asvs — im Sommer 1886 eine mehr¬
spaltige Abhandlung über IKs MuinvurZ' ovIsdriMon brachte, nachdem schon
elf Jahre früher die Pariser Zeitung I>e temps ihren Lesern von dem Kirsch¬
feste berichtet hatte, dessen Schauplatz sie freilich statt nach Naumburg irrtümlich
in das bekanntere Hamburg verlegte.

Nicht von Urbeginn an hat das Naumburger Kirschfest in diesem Ansehen
gestanden, lange Zeit ist es ein Fest gewesen wie viele andre auch, das ohne
weitergehende Ansprüche und ohne besonders charakteristische Eigenheiten nur
in dem engen Kreise der Stadt bekannt war und gefeiert wurde. Ja es war
früher nicht einmal ein allgemeines Volksfest, sondern nur ein Schulfest, und
zwar ausschließlich für die Schulen der innern Stadt, während die Volks¬
schüler der jetzt ganz mit der Stadt zusammengewachsenen Domfreiheit und
der Vorstädte erst seit 1816 zur Beteiligung zugelassen worden sind. Als
Festplatz dient gegenwärtig die „Vogelwiese,"*) die südöstlich unmittelbar an die
innere Stadt grenzt; vor Zeiten aber beging man die Feier auf dem südlich
etwas weiter vor der Stadt gelegenen bewaldeten Höhenzuge „Wetthoye,"
d. h. Naßhügel, den jetzt die Anlagen des Bürgergartens und weiter hinauf
das Buchholz bedecken. Die Erinnerung an diesen ursprünglichen Festplatz
hat sich darin erhalten, daß bis auf den heutigen Tag vor der Feier Laub
und grüne Zweige im Buchholze gebrochen und in der Stadt an die Knaben
verteilt werden, die damit geschmückt unter Trommelklang und dem Rufe
„Freiheit, beißa, Viktoria!" während der Festtage umherziehen. Auch spiele»
sich noch einzelne Teile des Festes auf dem Bürgergarden ab. In Bezug auf die
Zeit des Kirschfestes sind im Laufe der Jahrhunderte nur geringe Schwankungen
wahrnehmbar geworden. Ende Juli und Anfang August umschließen die
regelmäßige Kirschfestzcit, in vereinzelten Ausnahmefällen ist die Feier bis
frühestens Anfang Juli und spätestens Ende August verschoben worden. Die
Dauer des Festes beträgt vier Tage, von denen zwei den Knaben und zwei
den Mädchen gewidmet sind; dazwischen liegt ein Ruhetag. Am Montag
früh ziehen die mit Laub, Schärpen und Lanzenfühuchen geschmückten Knaben



*) Sie trägt ihren Namen von dem Schützenvogel, der früher dort von der Stange
geschossen wurde. Aber schon längst ist an Stelle des Vogels ein Schießmann getreten,
und neuerdings ist auch das Mannschießen an einen andern Platz verlegt worden. Da s!es
die „Wiese" allmählich anch in einen kiesbedeckten Platz umgewandelt hat, entbehrt der Name
„Vogelwiese" jeder Beziehung auf die Gegenwart.
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[0375] Das Naumburger Airschfest Naumburg a. d. Saale," wohl dem berühmtesten aller deutschen Volksfeste. Nicht nur im deutschen Sprachgebiete haben Zeitschriften wie Lohmeyers „Deutsche Jugend" (1875), Kleinsteubers „Europa" (1881) und das „Daheim" (1886) neuerdings durch besondre Aufsätze die Kunde von diesem Feste aufs neue in den weitesten Kreisen des Volkes aufgefrischt, auch bis ins Ausland ist sein Ruhm gedrungen, sodciß z. B. eines der größten Londoner Tages¬ blätter — es waren wohl die vsiil^ Asvs — im Sommer 1886 eine mehr¬ spaltige Abhandlung über IKs MuinvurZ' ovIsdriMon brachte, nachdem schon elf Jahre früher die Pariser Zeitung I>e temps ihren Lesern von dem Kirsch¬ feste berichtet hatte, dessen Schauplatz sie freilich statt nach Naumburg irrtümlich in das bekanntere Hamburg verlegte. Nicht von Urbeginn an hat das Naumburger Kirschfest in diesem Ansehen gestanden, lange Zeit ist es ein Fest gewesen wie viele andre auch, das ohne weitergehende Ansprüche und ohne besonders charakteristische Eigenheiten nur in dem engen Kreise der Stadt bekannt war und gefeiert wurde. Ja es war früher nicht einmal ein allgemeines Volksfest, sondern nur ein Schulfest, und zwar ausschließlich für die Schulen der innern Stadt, während die Volks¬ schüler der jetzt ganz mit der Stadt zusammengewachsenen Domfreiheit und der Vorstädte erst seit 1816 zur Beteiligung zugelassen worden sind. Als Festplatz dient gegenwärtig die „Vogelwiese,"*) die südöstlich unmittelbar an die innere Stadt grenzt; vor Zeiten aber beging man die Feier auf dem südlich etwas weiter vor der Stadt gelegenen bewaldeten Höhenzuge „Wetthoye," d. h. Naßhügel, den jetzt die Anlagen des Bürgergartens und weiter hinauf das Buchholz bedecken. Die Erinnerung an diesen ursprünglichen Festplatz hat sich darin erhalten, daß bis auf den heutigen Tag vor der Feier Laub und grüne Zweige im Buchholze gebrochen und in der Stadt an die Knaben verteilt werden, die damit geschmückt unter Trommelklang und dem Rufe „Freiheit, beißa, Viktoria!" während der Festtage umherziehen. Auch spiele» sich noch einzelne Teile des Festes auf dem Bürgergarden ab. In Bezug auf die Zeit des Kirschfestes sind im Laufe der Jahrhunderte nur geringe Schwankungen wahrnehmbar geworden. Ende Juli und Anfang August umschließen die regelmäßige Kirschfestzcit, in vereinzelten Ausnahmefällen ist die Feier bis frühestens Anfang Juli und spätestens Ende August verschoben worden. Die Dauer des Festes beträgt vier Tage, von denen zwei den Knaben und zwei den Mädchen gewidmet sind; dazwischen liegt ein Ruhetag. Am Montag früh ziehen die mit Laub, Schärpen und Lanzenfühuchen geschmückten Knaben *) Sie trägt ihren Namen von dem Schützenvogel, der früher dort von der Stange geschossen wurde. Aber schon längst ist an Stelle des Vogels ein Schießmann getreten, und neuerdings ist auch das Mannschießen an einen andern Platz verlegt worden. Da s!es die „Wiese" allmählich anch in einen kiesbedeckten Platz umgewandelt hat, entbehrt der Name „Vogelwiese" jeder Beziehung auf die Gegenwart.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/375>, abgerufen am 23.07.2024.