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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Die Sprachgrenze in Lothringen

udsi'ö xlödÄ). Eine gewisse Doppelsprachigkeit an der Sprachgrenze
entsteht wohl durch die Bedürfnisse des Verkehrs und des staatlichen Lebens,
und wenn die fremde Sprache Staatssprache ist, werden sich wohl auch die
gebildeteren Kreise aus dem Gebiete der Volkssprache die weitere Kenntnis
aneignen; auf weitere Kreise aber wird sich die Doppelsprachigkeit, besonders
in der seßhaften ackerbautreibenden Bevölkerung nie ausdehnen, wenn nicht
durch die Schule nachgeholfen wird. In dem gleichberechtigten, ohne Bevor¬
zugung sich abspielenden Wettstreite zwischen zwei Sprachen wird die leichter
zu erlernende Sprache den meisten Anhang werben, und die vereinzelten Ein¬
wanderer werden sich, wo uicht die Schule nachhilft, der Verwischung der
zweiten Geschlechtsfolge niemals entziehen können. Das sind die Erfahrungen,
die wir Deutschen seit 1870 im Lande gemacht haben; wir können daraus
Rückschlüsse auf die Vergangenheit ziehen.

Wenn wir die geschichtlichen und die aus dem Erlebten gewonnenen Er¬
fahrungen zusammenhalten, so werden wir uns bei Betrachtung des heutigen
Laufes der Sprachgrenze zwei Thatsachen erklären können: die trotz der für
die deutsche Sache ungünstig gelegenen Verhältnisse geringe Zurückschiebung
der deutschen Sprachgrenze und die scheinbare Launenhaftigkeit des Laufes der
scheidenden Linie. Bei solcher Betrachtung gewinnen wir auch den Trost, daß
wir thatsächlich weit geringere Verluste am deutschen Sprachgebiete erlitten
haben, als nach der Meinung jeuer Eiferer zugestanden und bedauert werden
müßten, die es für eine nationale Ehrensache halten, den Nachweis zu führen,
daß das von Deutschland 1870 eroberte Gebiet ursprünglich deutscher Zunge
gewesen sei.

Wo einheitliche Bevölkerung von alter Zeit her seßhaft war, wie am
Westabhange der Vogesen, von der Freigrafschaft Burgund herauf bis zum
Donon, da ist die französische Sprache die herrschende geblieben bis auf unsre
Tage; in einigen Thälern siedelte sich zwar deutsches Volk im fünfzehnten
und sechzehnten Jahrhundert auch in den westlichen Hängen und Thälern an,
aber es verwelschte gar bald, und nur noch einige unverkennbar mit Unge¬
schick mundgerecht gemachte Orts- und Flurbenennungen, einige Bezeichnungen
für die Wirtschaft in Haus, Stall und Feld erinnern an die Eindringlinge.
Am Ostabhange der Vogesen ließen sich ebenfalls etwa im siebzehnten Jahr¬
hundert französische Nachbarn, von den weltlichen und geistlichen Gebietsherrn
geworben und gelockt, als Holzhauer, Hüttenarbeiter, Meiler und Käser, als
Bergleute und Glasbläser nieder, deren Nachkommen heute noch französisch
sprechen. Teilweise war der Vermischung mit den deutschen Nachbarn wie im
Steinthale und im Leberthale die Verschiedenheit der religiösen Bekenntnisse
hinderlich; teilweise lagen andre für die Erhaltung der französischen Sprache
günstige herrschaftliche Verhältnisse vor. Von diesen Ausnahmen abgesehen,
ist die alte Sprachgrenze, der First der Vogesen, die Schneeschmelze, fast un-


Die Sprachgrenze in Lothringen

udsi'ö xlödÄ). Eine gewisse Doppelsprachigkeit an der Sprachgrenze
entsteht wohl durch die Bedürfnisse des Verkehrs und des staatlichen Lebens,
und wenn die fremde Sprache Staatssprache ist, werden sich wohl auch die
gebildeteren Kreise aus dem Gebiete der Volkssprache die weitere Kenntnis
aneignen; auf weitere Kreise aber wird sich die Doppelsprachigkeit, besonders
in der seßhaften ackerbautreibenden Bevölkerung nie ausdehnen, wenn nicht
durch die Schule nachgeholfen wird. In dem gleichberechtigten, ohne Bevor¬
zugung sich abspielenden Wettstreite zwischen zwei Sprachen wird die leichter
zu erlernende Sprache den meisten Anhang werben, und die vereinzelten Ein¬
wanderer werden sich, wo uicht die Schule nachhilft, der Verwischung der
zweiten Geschlechtsfolge niemals entziehen können. Das sind die Erfahrungen,
die wir Deutschen seit 1870 im Lande gemacht haben; wir können daraus
Rückschlüsse auf die Vergangenheit ziehen.

Wenn wir die geschichtlichen und die aus dem Erlebten gewonnenen Er¬
fahrungen zusammenhalten, so werden wir uns bei Betrachtung des heutigen
Laufes der Sprachgrenze zwei Thatsachen erklären können: die trotz der für
die deutsche Sache ungünstig gelegenen Verhältnisse geringe Zurückschiebung
der deutschen Sprachgrenze und die scheinbare Launenhaftigkeit des Laufes der
scheidenden Linie. Bei solcher Betrachtung gewinnen wir auch den Trost, daß
wir thatsächlich weit geringere Verluste am deutschen Sprachgebiete erlitten
haben, als nach der Meinung jeuer Eiferer zugestanden und bedauert werden
müßten, die es für eine nationale Ehrensache halten, den Nachweis zu führen,
daß das von Deutschland 1870 eroberte Gebiet ursprünglich deutscher Zunge
gewesen sei.

Wo einheitliche Bevölkerung von alter Zeit her seßhaft war, wie am
Westabhange der Vogesen, von der Freigrafschaft Burgund herauf bis zum
Donon, da ist die französische Sprache die herrschende geblieben bis auf unsre
Tage; in einigen Thälern siedelte sich zwar deutsches Volk im fünfzehnten
und sechzehnten Jahrhundert auch in den westlichen Hängen und Thälern an,
aber es verwelschte gar bald, und nur noch einige unverkennbar mit Unge¬
schick mundgerecht gemachte Orts- und Flurbenennungen, einige Bezeichnungen
für die Wirtschaft in Haus, Stall und Feld erinnern an die Eindringlinge.
Am Ostabhange der Vogesen ließen sich ebenfalls etwa im siebzehnten Jahr¬
hundert französische Nachbarn, von den weltlichen und geistlichen Gebietsherrn
geworben und gelockt, als Holzhauer, Hüttenarbeiter, Meiler und Käser, als
Bergleute und Glasbläser nieder, deren Nachkommen heute noch französisch
sprechen. Teilweise war der Vermischung mit den deutschen Nachbarn wie im
Steinthale und im Leberthale die Verschiedenheit der religiösen Bekenntnisse
hinderlich; teilweise lagen andre für die Erhaltung der französischen Sprache
günstige herrschaftliche Verhältnisse vor. Von diesen Ausnahmen abgesehen,
ist die alte Sprachgrenze, der First der Vogesen, die Schneeschmelze, fast un-


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[0371] Die Sprachgrenze in Lothringen udsi'ö xlödÄ). Eine gewisse Doppelsprachigkeit an der Sprachgrenze entsteht wohl durch die Bedürfnisse des Verkehrs und des staatlichen Lebens, und wenn die fremde Sprache Staatssprache ist, werden sich wohl auch die gebildeteren Kreise aus dem Gebiete der Volkssprache die weitere Kenntnis aneignen; auf weitere Kreise aber wird sich die Doppelsprachigkeit, besonders in der seßhaften ackerbautreibenden Bevölkerung nie ausdehnen, wenn nicht durch die Schule nachgeholfen wird. In dem gleichberechtigten, ohne Bevor¬ zugung sich abspielenden Wettstreite zwischen zwei Sprachen wird die leichter zu erlernende Sprache den meisten Anhang werben, und die vereinzelten Ein¬ wanderer werden sich, wo uicht die Schule nachhilft, der Verwischung der zweiten Geschlechtsfolge niemals entziehen können. Das sind die Erfahrungen, die wir Deutschen seit 1870 im Lande gemacht haben; wir können daraus Rückschlüsse auf die Vergangenheit ziehen. Wenn wir die geschichtlichen und die aus dem Erlebten gewonnenen Er¬ fahrungen zusammenhalten, so werden wir uns bei Betrachtung des heutigen Laufes der Sprachgrenze zwei Thatsachen erklären können: die trotz der für die deutsche Sache ungünstig gelegenen Verhältnisse geringe Zurückschiebung der deutschen Sprachgrenze und die scheinbare Launenhaftigkeit des Laufes der scheidenden Linie. Bei solcher Betrachtung gewinnen wir auch den Trost, daß wir thatsächlich weit geringere Verluste am deutschen Sprachgebiete erlitten haben, als nach der Meinung jeuer Eiferer zugestanden und bedauert werden müßten, die es für eine nationale Ehrensache halten, den Nachweis zu führen, daß das von Deutschland 1870 eroberte Gebiet ursprünglich deutscher Zunge gewesen sei. Wo einheitliche Bevölkerung von alter Zeit her seßhaft war, wie am Westabhange der Vogesen, von der Freigrafschaft Burgund herauf bis zum Donon, da ist die französische Sprache die herrschende geblieben bis auf unsre Tage; in einigen Thälern siedelte sich zwar deutsches Volk im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert auch in den westlichen Hängen und Thälern an, aber es verwelschte gar bald, und nur noch einige unverkennbar mit Unge¬ schick mundgerecht gemachte Orts- und Flurbenennungen, einige Bezeichnungen für die Wirtschaft in Haus, Stall und Feld erinnern an die Eindringlinge. Am Ostabhange der Vogesen ließen sich ebenfalls etwa im siebzehnten Jahr¬ hundert französische Nachbarn, von den weltlichen und geistlichen Gebietsherrn geworben und gelockt, als Holzhauer, Hüttenarbeiter, Meiler und Käser, als Bergleute und Glasbläser nieder, deren Nachkommen heute noch französisch sprechen. Teilweise war der Vermischung mit den deutschen Nachbarn wie im Steinthale und im Leberthale die Verschiedenheit der religiösen Bekenntnisse hinderlich; teilweise lagen andre für die Erhaltung der französischen Sprache günstige herrschaftliche Verhältnisse vor. Von diesen Ausnahmen abgesehen, ist die alte Sprachgrenze, der First der Vogesen, die Schneeschmelze, fast un-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/371>, abgerufen am 24.07.2024.