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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Die Sprachgrenze in Lothringen

Schicksale der Vereinigung mit Deutschland retten will; man greift also wieder
auf das Nationalitätsprinzip zurück.

Wir wollen von dem Werte oder Unwerte des Nationalitätsprinzips
hier ganz absehen; wir Deutschen haben ja das deutsche Elsaß nicht wegen der
Sprache und der Abstammung der Bevölkerung und das französische Lothringen
trotz der verschiednen Sprache der Einwohner mit dem deutschen Reiche zu
dem Zwecke wieder geeinigt, um unsre Grenze gegen Frankreich zu sichern.
Wenn aber auch Deutschland sich nicht durch Rücksichten auf das Nationalitäts¬
prinzip hat leiten lassen, so muß doch daraus hingewiesen werden, daß auch
Frankreich nicht in der Lage ist, unter Berufung auf das Nationalitätsprinzip
den Wunsch auszusprechen, Lothringen wieder zu erhalten. Die Sprache ist
ja überhaupt als Merkmal der Abstammung und der nationalen Zugehörigkeit
nicht schlechtweg anzuerkennen. Wo z. B. in Lothringen Patois gesprochen
wird, da haben wir es ohne Zweifel mit eingesessener oder eingewanderten
Galliern oder Romanen zu thun, keineswegs aber da, wo durch die Schule
französische Schriftsprache Verbreitung gefunden hat. Davon aber ganz ab¬
gesehen, erweckt in Frankreich das Wort "Lorraine" zunächst die Vorstellung
von einem ganz französischen, von Deutschland vergewaltigten Lande und da¬
neben die geschichtliche Erinnerung an das Sprachverwandte Herzogtum Loth¬
ringen, dessen Geschicke mit denen Frankreichs bald in freundlicher, bald in
feindlicher Weise unzertrennlich verknüpft waren. Was zunächst die Sprache,
wenn wir sie als Merkmal der Nationalität gelten lassen wollen, anlangt, so
gehören von den 754 Gemeinden von Lothringen 51 Prozent dem deutschen,
44 Prozent dem französischen und 5 Prozent dem gemischten Sprachgebiete
an, und wir können für das deutsche Sprachgebiet 56 Prozent der Fläche und
63 Prozent der Zivilbevölkerung in Anspruch nehmen. Mit den geschicht¬
lichen Erinnerungen an das Herzogtum Lothringen ist es aber noch kümmer¬
licher bestellt. Deutschland selbst war es, das die in Frankreich heute schon
zum Schlagworte gewordenen falschen Vorstellungen dadurch verschuldet hat,
daß es den Namen Lothringen einem Gebiete verliehen hat, das zu einem
bis 1648 zum Bistum Metz und zum deutschen Reiche, zum andern Teile
bis 1659 oder 1769 zum Herzogtum Luxemburg, bruchstückweise bis zum
Friedensschlüsse von Luneville (1801) zum oberrheinischen Kreise des deutschen
Reiches gehört hat. Diese Gebiete, zwei Drittel des jetzigen Bezirkes Lothringen
umfassend, haben niemals zum Herzogtum Lothringen gehört. Von dem hier¬
nach sich ergebenden Gebietsrest haben aber die alten Herzoge selbst das meiste
niemals zum eigentlichen Herzogtum gerechnet, sondern als Pays d'Allemagne
bezeichnet und gesondert verwaltet, weil es ehemals reichsunmittelbare, im
Laufe der Jahrhunderte von Lothringen erworbene Herrschaften oder After¬
lehen des Bistums Metz waren. Wenn also Frankreich eine Revision des
Frankfurter Friedens bezüglich Lothringens anregen wollte, so wäre Deutsch-


Die Sprachgrenze in Lothringen

Schicksale der Vereinigung mit Deutschland retten will; man greift also wieder
auf das Nationalitätsprinzip zurück.

Wir wollen von dem Werte oder Unwerte des Nationalitätsprinzips
hier ganz absehen; wir Deutschen haben ja das deutsche Elsaß nicht wegen der
Sprache und der Abstammung der Bevölkerung und das französische Lothringen
trotz der verschiednen Sprache der Einwohner mit dem deutschen Reiche zu
dem Zwecke wieder geeinigt, um unsre Grenze gegen Frankreich zu sichern.
Wenn aber auch Deutschland sich nicht durch Rücksichten auf das Nationalitäts¬
prinzip hat leiten lassen, so muß doch daraus hingewiesen werden, daß auch
Frankreich nicht in der Lage ist, unter Berufung auf das Nationalitätsprinzip
den Wunsch auszusprechen, Lothringen wieder zu erhalten. Die Sprache ist
ja überhaupt als Merkmal der Abstammung und der nationalen Zugehörigkeit
nicht schlechtweg anzuerkennen. Wo z. B. in Lothringen Patois gesprochen
wird, da haben wir es ohne Zweifel mit eingesessener oder eingewanderten
Galliern oder Romanen zu thun, keineswegs aber da, wo durch die Schule
französische Schriftsprache Verbreitung gefunden hat. Davon aber ganz ab¬
gesehen, erweckt in Frankreich das Wort „Lorraine" zunächst die Vorstellung
von einem ganz französischen, von Deutschland vergewaltigten Lande und da¬
neben die geschichtliche Erinnerung an das Sprachverwandte Herzogtum Loth¬
ringen, dessen Geschicke mit denen Frankreichs bald in freundlicher, bald in
feindlicher Weise unzertrennlich verknüpft waren. Was zunächst die Sprache,
wenn wir sie als Merkmal der Nationalität gelten lassen wollen, anlangt, so
gehören von den 754 Gemeinden von Lothringen 51 Prozent dem deutschen,
44 Prozent dem französischen und 5 Prozent dem gemischten Sprachgebiete
an, und wir können für das deutsche Sprachgebiet 56 Prozent der Fläche und
63 Prozent der Zivilbevölkerung in Anspruch nehmen. Mit den geschicht¬
lichen Erinnerungen an das Herzogtum Lothringen ist es aber noch kümmer¬
licher bestellt. Deutschland selbst war es, das die in Frankreich heute schon
zum Schlagworte gewordenen falschen Vorstellungen dadurch verschuldet hat,
daß es den Namen Lothringen einem Gebiete verliehen hat, das zu einem
bis 1648 zum Bistum Metz und zum deutschen Reiche, zum andern Teile
bis 1659 oder 1769 zum Herzogtum Luxemburg, bruchstückweise bis zum
Friedensschlüsse von Luneville (1801) zum oberrheinischen Kreise des deutschen
Reiches gehört hat. Diese Gebiete, zwei Drittel des jetzigen Bezirkes Lothringen
umfassend, haben niemals zum Herzogtum Lothringen gehört. Von dem hier¬
nach sich ergebenden Gebietsrest haben aber die alten Herzoge selbst das meiste
niemals zum eigentlichen Herzogtum gerechnet, sondern als Pays d'Allemagne
bezeichnet und gesondert verwaltet, weil es ehemals reichsunmittelbare, im
Laufe der Jahrhunderte von Lothringen erworbene Herrschaften oder After¬
lehen des Bistums Metz waren. Wenn also Frankreich eine Revision des
Frankfurter Friedens bezüglich Lothringens anregen wollte, so wäre Deutsch-


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[0363] Die Sprachgrenze in Lothringen Schicksale der Vereinigung mit Deutschland retten will; man greift also wieder auf das Nationalitätsprinzip zurück. Wir wollen von dem Werte oder Unwerte des Nationalitätsprinzips hier ganz absehen; wir Deutschen haben ja das deutsche Elsaß nicht wegen der Sprache und der Abstammung der Bevölkerung und das französische Lothringen trotz der verschiednen Sprache der Einwohner mit dem deutschen Reiche zu dem Zwecke wieder geeinigt, um unsre Grenze gegen Frankreich zu sichern. Wenn aber auch Deutschland sich nicht durch Rücksichten auf das Nationalitäts¬ prinzip hat leiten lassen, so muß doch daraus hingewiesen werden, daß auch Frankreich nicht in der Lage ist, unter Berufung auf das Nationalitätsprinzip den Wunsch auszusprechen, Lothringen wieder zu erhalten. Die Sprache ist ja überhaupt als Merkmal der Abstammung und der nationalen Zugehörigkeit nicht schlechtweg anzuerkennen. Wo z. B. in Lothringen Patois gesprochen wird, da haben wir es ohne Zweifel mit eingesessener oder eingewanderten Galliern oder Romanen zu thun, keineswegs aber da, wo durch die Schule französische Schriftsprache Verbreitung gefunden hat. Davon aber ganz ab¬ gesehen, erweckt in Frankreich das Wort „Lorraine" zunächst die Vorstellung von einem ganz französischen, von Deutschland vergewaltigten Lande und da¬ neben die geschichtliche Erinnerung an das Sprachverwandte Herzogtum Loth¬ ringen, dessen Geschicke mit denen Frankreichs bald in freundlicher, bald in feindlicher Weise unzertrennlich verknüpft waren. Was zunächst die Sprache, wenn wir sie als Merkmal der Nationalität gelten lassen wollen, anlangt, so gehören von den 754 Gemeinden von Lothringen 51 Prozent dem deutschen, 44 Prozent dem französischen und 5 Prozent dem gemischten Sprachgebiete an, und wir können für das deutsche Sprachgebiet 56 Prozent der Fläche und 63 Prozent der Zivilbevölkerung in Anspruch nehmen. Mit den geschicht¬ lichen Erinnerungen an das Herzogtum Lothringen ist es aber noch kümmer¬ licher bestellt. Deutschland selbst war es, das die in Frankreich heute schon zum Schlagworte gewordenen falschen Vorstellungen dadurch verschuldet hat, daß es den Namen Lothringen einem Gebiete verliehen hat, das zu einem bis 1648 zum Bistum Metz und zum deutschen Reiche, zum andern Teile bis 1659 oder 1769 zum Herzogtum Luxemburg, bruchstückweise bis zum Friedensschlüsse von Luneville (1801) zum oberrheinischen Kreise des deutschen Reiches gehört hat. Diese Gebiete, zwei Drittel des jetzigen Bezirkes Lothringen umfassend, haben niemals zum Herzogtum Lothringen gehört. Von dem hier¬ nach sich ergebenden Gebietsrest haben aber die alten Herzoge selbst das meiste niemals zum eigentlichen Herzogtum gerechnet, sondern als Pays d'Allemagne bezeichnet und gesondert verwaltet, weil es ehemals reichsunmittelbare, im Laufe der Jahrhunderte von Lothringen erworbene Herrschaften oder After¬ lehen des Bistums Metz waren. Wenn also Frankreich eine Revision des Frankfurter Friedens bezüglich Lothringens anregen wollte, so wäre Deutsch-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/363>, abgerufen am 23.07.2024.