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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Die internationale Runstausstellung in Berlin

der neuen Welt gepflanzt worden sind, zur Entwicklung kommen und ihre
lebenskräftig gewordenen Sprößlinge zur Veredlung wieder nach den Haupt¬
kulturstätten der alten Welt zurücksenden. Wer heute aus eigner Anschauung
und mit wissenschaftlicher Gründlichkeit über die moderne Kunstbewegung, über
ihre treibenden Kräfte, über das Werden und Gedeihen ihrer Bahnbrecher und
Führer, über ihre Absichten und wirklichen Erfolge ein erschöpfendes Urteil
abgeben will, der muß ein Nomadenleben führen. Es genügt dabei nicht, daß
er die bekannten Mittelpunkte der Kunstübung und Kunstlehre besucht und
beständig zwischen ihnen hin- und herreist, um sich "auf dem Laufenden" zu
erhalten, es genügt nicht, daß er Zutritt zu den Ateliers und zu den Privat-
gemächern der Kunsthändler erhalten hat, er muß auch den Spürsinn eines
Detektivs, den opferwilligen Langmut eines Handlungsreiseudeu und die Findig¬
keit eines Geschäftsmannes besitzen, der auf der Suche nach neuen Mustern
für seine "Branche" ist. Selbst unter den idealsten Voraussetzungen, bei denen
Zeit und Geld, also die beiden Machtmittel, an denen wir gegenwärtig den
geringsten Überfluß haben, die Hauptrolle spiele", würde sich eine solche Auf¬
gabe nur zum Schaden dessen durchführen lassen, der sie übernimmt. Auf der
internationalen Jagd würde er bald den Blick für das, was jedem Volke
eigentümlich ist, für den nationalen Grundton verlieren, er würde den Zu¬
sammenhang zwischen dem Einzelwesen und dem gesamten Volkstum übersehen,
und im günstigsten Falle würde er brauchbare Bausteine zu einer Geschichte
der Künstler in Lebensbeschreibungen, nicht zu einer Geschichte der Kunst zu¬
sammentragen.

Der Archciologe und der Erforscher der Kunst des Mittelalters und der
nachfolgenden Zeit bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts ist in einer
weit günstigern Lage, weil er eine abgeschlossene Welt von Denkmälern vor
sich hat, deren geschichtliche Entwicklung in ihren Grundzügen feststeht oder
doch festgehalten werden kann. Dem Forscher, der sich mit der Kunst des
neunzehnten Jahrhunderts beschäftigt, wächst das Material täglich unter den
Händen zu. Er hat nicht das Recht, eine Gruppe vou Denkmälern, wie etwa
der Archciologe die etruskischen Spiegel oder die römischen Sarkophage, als
abgegrenzt anzusehen, sondern er muß jeden Augenblick gewärtig sein, daß das
Urteil, das er auf Grund seiner Beobachtungen und Vergleiche in eine sichere
Formel gebracht zu haben glaubt, durch eine neue Erscheinung verändert oder
völlig umgestoßen wird.

Bei so mißlichen und schwankenden Grundlagen der forschenden Thätigkeit
sind große internationale Kunstausstellungen immer noch von hohem Wert,
einem Werte, der ihre Schattenseiten reichlich aufwiegt. Man kann sie, wenn
sie sich nicht in zu kurzen Zwischenräumen wiederholen, als Merksteine in der
Entwicklungsgeschichte der neuern Kunst, die mit einem ganz andern Zeitmaß
gemessen werden muß als die der ältern, gelten lassen, und wenn das von den


Die internationale Runstausstellung in Berlin

der neuen Welt gepflanzt worden sind, zur Entwicklung kommen und ihre
lebenskräftig gewordenen Sprößlinge zur Veredlung wieder nach den Haupt¬
kulturstätten der alten Welt zurücksenden. Wer heute aus eigner Anschauung
und mit wissenschaftlicher Gründlichkeit über die moderne Kunstbewegung, über
ihre treibenden Kräfte, über das Werden und Gedeihen ihrer Bahnbrecher und
Führer, über ihre Absichten und wirklichen Erfolge ein erschöpfendes Urteil
abgeben will, der muß ein Nomadenleben führen. Es genügt dabei nicht, daß
er die bekannten Mittelpunkte der Kunstübung und Kunstlehre besucht und
beständig zwischen ihnen hin- und herreist, um sich „auf dem Laufenden" zu
erhalten, es genügt nicht, daß er Zutritt zu den Ateliers und zu den Privat-
gemächern der Kunsthändler erhalten hat, er muß auch den Spürsinn eines
Detektivs, den opferwilligen Langmut eines Handlungsreiseudeu und die Findig¬
keit eines Geschäftsmannes besitzen, der auf der Suche nach neuen Mustern
für seine „Branche" ist. Selbst unter den idealsten Voraussetzungen, bei denen
Zeit und Geld, also die beiden Machtmittel, an denen wir gegenwärtig den
geringsten Überfluß haben, die Hauptrolle spiele», würde sich eine solche Auf¬
gabe nur zum Schaden dessen durchführen lassen, der sie übernimmt. Auf der
internationalen Jagd würde er bald den Blick für das, was jedem Volke
eigentümlich ist, für den nationalen Grundton verlieren, er würde den Zu¬
sammenhang zwischen dem Einzelwesen und dem gesamten Volkstum übersehen,
und im günstigsten Falle würde er brauchbare Bausteine zu einer Geschichte
der Künstler in Lebensbeschreibungen, nicht zu einer Geschichte der Kunst zu¬
sammentragen.

Der Archciologe und der Erforscher der Kunst des Mittelalters und der
nachfolgenden Zeit bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts ist in einer
weit günstigern Lage, weil er eine abgeschlossene Welt von Denkmälern vor
sich hat, deren geschichtliche Entwicklung in ihren Grundzügen feststeht oder
doch festgehalten werden kann. Dem Forscher, der sich mit der Kunst des
neunzehnten Jahrhunderts beschäftigt, wächst das Material täglich unter den
Händen zu. Er hat nicht das Recht, eine Gruppe vou Denkmälern, wie etwa
der Archciologe die etruskischen Spiegel oder die römischen Sarkophage, als
abgegrenzt anzusehen, sondern er muß jeden Augenblick gewärtig sein, daß das
Urteil, das er auf Grund seiner Beobachtungen und Vergleiche in eine sichere
Formel gebracht zu haben glaubt, durch eine neue Erscheinung verändert oder
völlig umgestoßen wird.

Bei so mißlichen und schwankenden Grundlagen der forschenden Thätigkeit
sind große internationale Kunstausstellungen immer noch von hohem Wert,
einem Werte, der ihre Schattenseiten reichlich aufwiegt. Man kann sie, wenn
sie sich nicht in zu kurzen Zwischenräumen wiederholen, als Merksteine in der
Entwicklungsgeschichte der neuern Kunst, die mit einem ganz andern Zeitmaß
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[0315] Die internationale Runstausstellung in Berlin der neuen Welt gepflanzt worden sind, zur Entwicklung kommen und ihre lebenskräftig gewordenen Sprößlinge zur Veredlung wieder nach den Haupt¬ kulturstätten der alten Welt zurücksenden. Wer heute aus eigner Anschauung und mit wissenschaftlicher Gründlichkeit über die moderne Kunstbewegung, über ihre treibenden Kräfte, über das Werden und Gedeihen ihrer Bahnbrecher und Führer, über ihre Absichten und wirklichen Erfolge ein erschöpfendes Urteil abgeben will, der muß ein Nomadenleben führen. Es genügt dabei nicht, daß er die bekannten Mittelpunkte der Kunstübung und Kunstlehre besucht und beständig zwischen ihnen hin- und herreist, um sich „auf dem Laufenden" zu erhalten, es genügt nicht, daß er Zutritt zu den Ateliers und zu den Privat- gemächern der Kunsthändler erhalten hat, er muß auch den Spürsinn eines Detektivs, den opferwilligen Langmut eines Handlungsreiseudeu und die Findig¬ keit eines Geschäftsmannes besitzen, der auf der Suche nach neuen Mustern für seine „Branche" ist. Selbst unter den idealsten Voraussetzungen, bei denen Zeit und Geld, also die beiden Machtmittel, an denen wir gegenwärtig den geringsten Überfluß haben, die Hauptrolle spiele», würde sich eine solche Auf¬ gabe nur zum Schaden dessen durchführen lassen, der sie übernimmt. Auf der internationalen Jagd würde er bald den Blick für das, was jedem Volke eigentümlich ist, für den nationalen Grundton verlieren, er würde den Zu¬ sammenhang zwischen dem Einzelwesen und dem gesamten Volkstum übersehen, und im günstigsten Falle würde er brauchbare Bausteine zu einer Geschichte der Künstler in Lebensbeschreibungen, nicht zu einer Geschichte der Kunst zu¬ sammentragen. Der Archciologe und der Erforscher der Kunst des Mittelalters und der nachfolgenden Zeit bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts ist in einer weit günstigern Lage, weil er eine abgeschlossene Welt von Denkmälern vor sich hat, deren geschichtliche Entwicklung in ihren Grundzügen feststeht oder doch festgehalten werden kann. Dem Forscher, der sich mit der Kunst des neunzehnten Jahrhunderts beschäftigt, wächst das Material täglich unter den Händen zu. Er hat nicht das Recht, eine Gruppe vou Denkmälern, wie etwa der Archciologe die etruskischen Spiegel oder die römischen Sarkophage, als abgegrenzt anzusehen, sondern er muß jeden Augenblick gewärtig sein, daß das Urteil, das er auf Grund seiner Beobachtungen und Vergleiche in eine sichere Formel gebracht zu haben glaubt, durch eine neue Erscheinung verändert oder völlig umgestoßen wird. Bei so mißlichen und schwankenden Grundlagen der forschenden Thätigkeit sind große internationale Kunstausstellungen immer noch von hohem Wert, einem Werte, der ihre Schattenseiten reichlich aufwiegt. Man kann sie, wenn sie sich nicht in zu kurzen Zwischenräumen wiederholen, als Merksteine in der Entwicklungsgeschichte der neuern Kunst, die mit einem ganz andern Zeitmaß gemessen werden muß als die der ältern, gelten lassen, und wenn das von den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/315>, abgerufen am 23.07.2024.