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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Die Aufgabe der Titteraturgeschichte

man mit den Charakterzügen der einzelnen Litteraturen oder der einzelnen
Perioden völlig vertraut geworden ist, d. h. wenn die beschreibende Litteratur¬
geschichte ihre Aufgabe bereits erfüllt hat. Ihr Ziel kann sie aber nur
dadurch erreichen, daß sich die vier Richtungen, die philologische, die kultur¬
geschichtliche, die Positivistische und die ästhetisch-moralische, vereinigen und
gemeinsam von einem einheitlichen Gesichtspunkt aus eine wirkliche prag¬
matische Geschichte und keine bloße Chronik der Litteratur zu stände bringen.

Diesen fruchtbaren Gedanken hat zuerst Ter Brink in seiner Straßburger
Rektoratsrede Über die Aufgabe der Litteraturgeschichte (Straßburg,
Heitz, 1891) ausgesprochen und damit gleichsam zu seiner von den Grenzboten
früher besprochenen Geschichte der englischen Litteratur, worin er jene Aufgabe
schon praktisch gelöst hat, die theoretischen Grundsätze aufgestellt. Er wendet
sich vor allem gegen die unter seinen Fachgenossen vielfach verbreitete Ansicht,
daß sich der Literarhistoriker bei der Erforschung sprachlicher Geisteswerke
auf die formell-ästhetische Seite zu beschränken habe, daß die Litteraturgeschichte
also nichts weiter als die "Wissenschaft von der Entwicklung der Kunst sprach¬
licher Darstellung" sei. Scharfsinnig führt er aus, daß, wer Litteraturgeschichte
schreibe, auch die künstlerische Gestaltung der Sprache kennen müsse; diese
Gestaltung zeige sich nach der sinnfälligen Seite in der rhythmischen Gliederung
des Vers- und Strophenbaues, in der phonetischen Syntax der Leute, der
Klangfarben und der Lautsymbolik, in den Imponderabilien der Sprache, d. h. in
in den Gefühlswerten der Worte; nach der geistigen Seite zeige sie sich in der rhe¬
torischen Syntax der Tropen, der Worte und Satzfigurcn und in der stilistischen
Syntax der Auswahl der Vorstellungen, der Abfolge und Art ihrer Verknüpfung.
Was für den Musiker die Akustik, für den Maler die Farbenlehre ist, das muß für
den Schriftsteller die Stilistik sein; es ist daher ein großer Maugel unsrer Lite¬
rarhistoriker und Kritiker, daß sie eine stilistische Charakteristik schriftstellerischer
Erzeugnisse kaum einzugehen pflegen. Aber die Hauptsache bei der Beurteilung
einer Dichtung bleibt nach Ter Brink doch einerseits die Komposition, d. h. die
Wahl der Stilgattuug, die künstlerische Anordnung und die poetische Vortrags¬
weise, andrerseits die Konzeption der Ideen, d. h. die Fähigkeit, den geistigen Inhalt
des Stoffes zu erfassen, ihn poetisch wirkungsvoll umzugestalten, den frucht¬
baren Keim darin zu erkennen, ihn abzulösen und zu einem weit verzweigten
Baume emporwachsen zu lassen. Diese Konzeption hängt aber von der ganzen
ästhetisch-moralischen Persönlichkeit des Dichters ab; sie und die in ihr lebenden
wirksamen Ideen müssen daher auch das Zentralobjekt für die litterarische
Betrachtung bilden. Von jenen drei Wurzeln der Dichtung hat jede wieder
ihre besondre Geschichte: die Geschichte der poetischen Kunstform oder der
poetischen Technik, die Geschichte der dichterischen Stoffe oder der litterarischen
Überlieferung und endlich die Geschichte der allgemein herrschenden Ideen und
des individuellen schöpferischen Geistes. Philologie, Ästhetik, Kulturgeschichte


Die Aufgabe der Titteraturgeschichte

man mit den Charakterzügen der einzelnen Litteraturen oder der einzelnen
Perioden völlig vertraut geworden ist, d. h. wenn die beschreibende Litteratur¬
geschichte ihre Aufgabe bereits erfüllt hat. Ihr Ziel kann sie aber nur
dadurch erreichen, daß sich die vier Richtungen, die philologische, die kultur¬
geschichtliche, die Positivistische und die ästhetisch-moralische, vereinigen und
gemeinsam von einem einheitlichen Gesichtspunkt aus eine wirkliche prag¬
matische Geschichte und keine bloße Chronik der Litteratur zu stände bringen.

Diesen fruchtbaren Gedanken hat zuerst Ter Brink in seiner Straßburger
Rektoratsrede Über die Aufgabe der Litteraturgeschichte (Straßburg,
Heitz, 1891) ausgesprochen und damit gleichsam zu seiner von den Grenzboten
früher besprochenen Geschichte der englischen Litteratur, worin er jene Aufgabe
schon praktisch gelöst hat, die theoretischen Grundsätze aufgestellt. Er wendet
sich vor allem gegen die unter seinen Fachgenossen vielfach verbreitete Ansicht,
daß sich der Literarhistoriker bei der Erforschung sprachlicher Geisteswerke
auf die formell-ästhetische Seite zu beschränken habe, daß die Litteraturgeschichte
also nichts weiter als die „Wissenschaft von der Entwicklung der Kunst sprach¬
licher Darstellung" sei. Scharfsinnig führt er aus, daß, wer Litteraturgeschichte
schreibe, auch die künstlerische Gestaltung der Sprache kennen müsse; diese
Gestaltung zeige sich nach der sinnfälligen Seite in der rhythmischen Gliederung
des Vers- und Strophenbaues, in der phonetischen Syntax der Leute, der
Klangfarben und der Lautsymbolik, in den Imponderabilien der Sprache, d. h. in
in den Gefühlswerten der Worte; nach der geistigen Seite zeige sie sich in der rhe¬
torischen Syntax der Tropen, der Worte und Satzfigurcn und in der stilistischen
Syntax der Auswahl der Vorstellungen, der Abfolge und Art ihrer Verknüpfung.
Was für den Musiker die Akustik, für den Maler die Farbenlehre ist, das muß für
den Schriftsteller die Stilistik sein; es ist daher ein großer Maugel unsrer Lite¬
rarhistoriker und Kritiker, daß sie eine stilistische Charakteristik schriftstellerischer
Erzeugnisse kaum einzugehen pflegen. Aber die Hauptsache bei der Beurteilung
einer Dichtung bleibt nach Ter Brink doch einerseits die Komposition, d. h. die
Wahl der Stilgattuug, die künstlerische Anordnung und die poetische Vortrags¬
weise, andrerseits die Konzeption der Ideen, d. h. die Fähigkeit, den geistigen Inhalt
des Stoffes zu erfassen, ihn poetisch wirkungsvoll umzugestalten, den frucht¬
baren Keim darin zu erkennen, ihn abzulösen und zu einem weit verzweigten
Baume emporwachsen zu lassen. Diese Konzeption hängt aber von der ganzen
ästhetisch-moralischen Persönlichkeit des Dichters ab; sie und die in ihr lebenden
wirksamen Ideen müssen daher auch das Zentralobjekt für die litterarische
Betrachtung bilden. Von jenen drei Wurzeln der Dichtung hat jede wieder
ihre besondre Geschichte: die Geschichte der poetischen Kunstform oder der
poetischen Technik, die Geschichte der dichterischen Stoffe oder der litterarischen
Überlieferung und endlich die Geschichte der allgemein herrschenden Ideen und
des individuellen schöpferischen Geistes. Philologie, Ästhetik, Kulturgeschichte


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[0283] Die Aufgabe der Titteraturgeschichte man mit den Charakterzügen der einzelnen Litteraturen oder der einzelnen Perioden völlig vertraut geworden ist, d. h. wenn die beschreibende Litteratur¬ geschichte ihre Aufgabe bereits erfüllt hat. Ihr Ziel kann sie aber nur dadurch erreichen, daß sich die vier Richtungen, die philologische, die kultur¬ geschichtliche, die Positivistische und die ästhetisch-moralische, vereinigen und gemeinsam von einem einheitlichen Gesichtspunkt aus eine wirkliche prag¬ matische Geschichte und keine bloße Chronik der Litteratur zu stände bringen. Diesen fruchtbaren Gedanken hat zuerst Ter Brink in seiner Straßburger Rektoratsrede Über die Aufgabe der Litteraturgeschichte (Straßburg, Heitz, 1891) ausgesprochen und damit gleichsam zu seiner von den Grenzboten früher besprochenen Geschichte der englischen Litteratur, worin er jene Aufgabe schon praktisch gelöst hat, die theoretischen Grundsätze aufgestellt. Er wendet sich vor allem gegen die unter seinen Fachgenossen vielfach verbreitete Ansicht, daß sich der Literarhistoriker bei der Erforschung sprachlicher Geisteswerke auf die formell-ästhetische Seite zu beschränken habe, daß die Litteraturgeschichte also nichts weiter als die „Wissenschaft von der Entwicklung der Kunst sprach¬ licher Darstellung" sei. Scharfsinnig führt er aus, daß, wer Litteraturgeschichte schreibe, auch die künstlerische Gestaltung der Sprache kennen müsse; diese Gestaltung zeige sich nach der sinnfälligen Seite in der rhythmischen Gliederung des Vers- und Strophenbaues, in der phonetischen Syntax der Leute, der Klangfarben und der Lautsymbolik, in den Imponderabilien der Sprache, d. h. in in den Gefühlswerten der Worte; nach der geistigen Seite zeige sie sich in der rhe¬ torischen Syntax der Tropen, der Worte und Satzfigurcn und in der stilistischen Syntax der Auswahl der Vorstellungen, der Abfolge und Art ihrer Verknüpfung. Was für den Musiker die Akustik, für den Maler die Farbenlehre ist, das muß für den Schriftsteller die Stilistik sein; es ist daher ein großer Maugel unsrer Lite¬ rarhistoriker und Kritiker, daß sie eine stilistische Charakteristik schriftstellerischer Erzeugnisse kaum einzugehen pflegen. Aber die Hauptsache bei der Beurteilung einer Dichtung bleibt nach Ter Brink doch einerseits die Komposition, d. h. die Wahl der Stilgattuug, die künstlerische Anordnung und die poetische Vortrags¬ weise, andrerseits die Konzeption der Ideen, d. h. die Fähigkeit, den geistigen Inhalt des Stoffes zu erfassen, ihn poetisch wirkungsvoll umzugestalten, den frucht¬ baren Keim darin zu erkennen, ihn abzulösen und zu einem weit verzweigten Baume emporwachsen zu lassen. Diese Konzeption hängt aber von der ganzen ästhetisch-moralischen Persönlichkeit des Dichters ab; sie und die in ihr lebenden wirksamen Ideen müssen daher auch das Zentralobjekt für die litterarische Betrachtung bilden. Von jenen drei Wurzeln der Dichtung hat jede wieder ihre besondre Geschichte: die Geschichte der poetischen Kunstform oder der poetischen Technik, die Geschichte der dichterischen Stoffe oder der litterarischen Überlieferung und endlich die Geschichte der allgemein herrschenden Ideen und des individuellen schöpferischen Geistes. Philologie, Ästhetik, Kulturgeschichte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/283>, abgerufen am 23.07.2024.