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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Die psychologische Unmöglichkeit eines sozialoemokrcmschen Staates

Unvermeidlich wäre es auch, wenn man das Großkapital irgendwie be¬
schränke", den Arbeitslohn irgendwie heben wollte, den internationalen Weg zu
betreten; denn jede anch noch so allmähliche Beschränkung des Großkapitals
und Hebung des Arbeitslohnes in einem Staate allein würde das Kapital
dorthin treiben, wo diese Beschränkung nicht besteht und der Arbeitslohn
niedriger ist. Diesem internationalen Weg steht heute die nationale Idee ent¬
gegen, die mehr als je an Kraft gewonnen hat. Die Heilung der allgemeinen
sozialen Übel bedarf aber eines gewissen Kosmopolitismus; ich meine darunter
nicht jenen internationalen Sinn, der stets bereit ist, seine eigne Nationalität
wegzuwerfen, um eine fremde einzutauschen, sondern nur den, der es dahin
brächte, daß die einzelnen Nationen es nicht verschmähten, gemeinschaftlich
gewisse gemeinsame Güter anzustreben. Heutzutage wollen aber die meisten
Nationen gemeinsame Vorteile deshalb nicht gemeinschaftlich zu erreichen
suchen, weil diese Vorteile nicht auch andern Nationen als der eignen zu gute
kommen sollen.

Ein zweites, was zur Heilung der sozialen Übel beitragen könnte, ist die
Volkserziehung. Heute wird in der Schule überhaupt nicht erzogen, sondern
es wird dem Kinde ein bestimmter Lehrstoff beigebracht; die Charakterbildung
bleibt ausschließlich der Familie überlasse", wenigstens ist es nur guter Wille
des Lehrers, wenn er hier etwas thut. Die Familie wird auch immer der
Ort eigentlicher Charakterbildung bleiben müssen, aber die Schule kann und
soll sie darin unterstützen; sie soll das Mitgefühl möglichst nnszubilden streben,
sie soll stets auf die Gefühle andrer hinweisen, die bei irgendeiner Handlungs¬
weise entstehen, kurz, sie soll das innere Leben der Nebenmenschen ans Grund
des eignen Seelenlebens kennen lehren, damit der Uebermensch nicht als bloße
Sache der äußern Welt behandelt wird; denn nur auf Grund des eignen
Seelenlebens kann man das fremde erkennen, und die Kenntnis des fremden
Seelenlebens wird wieder dazu führen, das eigne vorurteilsloser beurteilen zu
lernen. Dazu kann aber unmöglich die bloße Kenntnis der äußern Natur
anleiten; diese gelangt in ihrem steten Bestreben, die Innerlichkeit des Men¬
schen in Äußerlichkeit zu verwandeln, schließlich dazu, die Innerlichkeit des
Menschen zu vernachlässigen, wenn nicht zu leugnen. Die, die den natur¬
wissenschaftlichen Unterricht in den Vordergrund der Erziehung stellen wollen,
würden durch Vernachlässigung des Gemütslebens schließlich nur eine Verrohung
des Kindes zu Wege bringen. Daß die Erziehung auch darauf hinarbeiten
müßte, die Nationen einander näher zu bringen (ohne die eigne Nation auf-
zugeben), auch im Fremde" den Nebenmenschen liebe" zu lehren, nicht aber
ihn als ein Objekt zu betrachten, das wenigstens politisch zu übervorteilen
höchst verdienstlich sei, versteht sich von selbst.

So viel ist sicher: man mag die soziale Frage drehen und wenden, wie man
will, immer wird sie darauf hindrängen, den internationalen Weg zu betreten.




Die psychologische Unmöglichkeit eines sozialoemokrcmschen Staates

Unvermeidlich wäre es auch, wenn man das Großkapital irgendwie be¬
schränke», den Arbeitslohn irgendwie heben wollte, den internationalen Weg zu
betreten; denn jede anch noch so allmähliche Beschränkung des Großkapitals
und Hebung des Arbeitslohnes in einem Staate allein würde das Kapital
dorthin treiben, wo diese Beschränkung nicht besteht und der Arbeitslohn
niedriger ist. Diesem internationalen Weg steht heute die nationale Idee ent¬
gegen, die mehr als je an Kraft gewonnen hat. Die Heilung der allgemeinen
sozialen Übel bedarf aber eines gewissen Kosmopolitismus; ich meine darunter
nicht jenen internationalen Sinn, der stets bereit ist, seine eigne Nationalität
wegzuwerfen, um eine fremde einzutauschen, sondern nur den, der es dahin
brächte, daß die einzelnen Nationen es nicht verschmähten, gemeinschaftlich
gewisse gemeinsame Güter anzustreben. Heutzutage wollen aber die meisten
Nationen gemeinsame Vorteile deshalb nicht gemeinschaftlich zu erreichen
suchen, weil diese Vorteile nicht auch andern Nationen als der eignen zu gute
kommen sollen.

Ein zweites, was zur Heilung der sozialen Übel beitragen könnte, ist die
Volkserziehung. Heute wird in der Schule überhaupt nicht erzogen, sondern
es wird dem Kinde ein bestimmter Lehrstoff beigebracht; die Charakterbildung
bleibt ausschließlich der Familie überlasse», wenigstens ist es nur guter Wille
des Lehrers, wenn er hier etwas thut. Die Familie wird auch immer der
Ort eigentlicher Charakterbildung bleiben müssen, aber die Schule kann und
soll sie darin unterstützen; sie soll das Mitgefühl möglichst nnszubilden streben,
sie soll stets auf die Gefühle andrer hinweisen, die bei irgendeiner Handlungs¬
weise entstehen, kurz, sie soll das innere Leben der Nebenmenschen ans Grund
des eignen Seelenlebens kennen lehren, damit der Uebermensch nicht als bloße
Sache der äußern Welt behandelt wird; denn nur auf Grund des eignen
Seelenlebens kann man das fremde erkennen, und die Kenntnis des fremden
Seelenlebens wird wieder dazu führen, das eigne vorurteilsloser beurteilen zu
lernen. Dazu kann aber unmöglich die bloße Kenntnis der äußern Natur
anleiten; diese gelangt in ihrem steten Bestreben, die Innerlichkeit des Men¬
schen in Äußerlichkeit zu verwandeln, schließlich dazu, die Innerlichkeit des
Menschen zu vernachlässigen, wenn nicht zu leugnen. Die, die den natur¬
wissenschaftlichen Unterricht in den Vordergrund der Erziehung stellen wollen,
würden durch Vernachlässigung des Gemütslebens schließlich nur eine Verrohung
des Kindes zu Wege bringen. Daß die Erziehung auch darauf hinarbeiten
müßte, die Nationen einander näher zu bringen (ohne die eigne Nation auf-
zugeben), auch im Fremde» den Nebenmenschen liebe» zu lehren, nicht aber
ihn als ein Objekt zu betrachten, das wenigstens politisch zu übervorteilen
höchst verdienstlich sei, versteht sich von selbst.

So viel ist sicher: man mag die soziale Frage drehen und wenden, wie man
will, immer wird sie darauf hindrängen, den internationalen Weg zu betreten.




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[0259] Die psychologische Unmöglichkeit eines sozialoemokrcmschen Staates Unvermeidlich wäre es auch, wenn man das Großkapital irgendwie be¬ schränke», den Arbeitslohn irgendwie heben wollte, den internationalen Weg zu betreten; denn jede anch noch so allmähliche Beschränkung des Großkapitals und Hebung des Arbeitslohnes in einem Staate allein würde das Kapital dorthin treiben, wo diese Beschränkung nicht besteht und der Arbeitslohn niedriger ist. Diesem internationalen Weg steht heute die nationale Idee ent¬ gegen, die mehr als je an Kraft gewonnen hat. Die Heilung der allgemeinen sozialen Übel bedarf aber eines gewissen Kosmopolitismus; ich meine darunter nicht jenen internationalen Sinn, der stets bereit ist, seine eigne Nationalität wegzuwerfen, um eine fremde einzutauschen, sondern nur den, der es dahin brächte, daß die einzelnen Nationen es nicht verschmähten, gemeinschaftlich gewisse gemeinsame Güter anzustreben. Heutzutage wollen aber die meisten Nationen gemeinsame Vorteile deshalb nicht gemeinschaftlich zu erreichen suchen, weil diese Vorteile nicht auch andern Nationen als der eignen zu gute kommen sollen. Ein zweites, was zur Heilung der sozialen Übel beitragen könnte, ist die Volkserziehung. Heute wird in der Schule überhaupt nicht erzogen, sondern es wird dem Kinde ein bestimmter Lehrstoff beigebracht; die Charakterbildung bleibt ausschließlich der Familie überlasse», wenigstens ist es nur guter Wille des Lehrers, wenn er hier etwas thut. Die Familie wird auch immer der Ort eigentlicher Charakterbildung bleiben müssen, aber die Schule kann und soll sie darin unterstützen; sie soll das Mitgefühl möglichst nnszubilden streben, sie soll stets auf die Gefühle andrer hinweisen, die bei irgendeiner Handlungs¬ weise entstehen, kurz, sie soll das innere Leben der Nebenmenschen ans Grund des eignen Seelenlebens kennen lehren, damit der Uebermensch nicht als bloße Sache der äußern Welt behandelt wird; denn nur auf Grund des eignen Seelenlebens kann man das fremde erkennen, und die Kenntnis des fremden Seelenlebens wird wieder dazu führen, das eigne vorurteilsloser beurteilen zu lernen. Dazu kann aber unmöglich die bloße Kenntnis der äußern Natur anleiten; diese gelangt in ihrem steten Bestreben, die Innerlichkeit des Men¬ schen in Äußerlichkeit zu verwandeln, schließlich dazu, die Innerlichkeit des Menschen zu vernachlässigen, wenn nicht zu leugnen. Die, die den natur¬ wissenschaftlichen Unterricht in den Vordergrund der Erziehung stellen wollen, würden durch Vernachlässigung des Gemütslebens schließlich nur eine Verrohung des Kindes zu Wege bringen. Daß die Erziehung auch darauf hinarbeiten müßte, die Nationen einander näher zu bringen (ohne die eigne Nation auf- zugeben), auch im Fremde» den Nebenmenschen liebe» zu lehren, nicht aber ihn als ein Objekt zu betrachten, das wenigstens politisch zu übervorteilen höchst verdienstlich sei, versteht sich von selbst. So viel ist sicher: man mag die soziale Frage drehen und wenden, wie man will, immer wird sie darauf hindrängen, den internationalen Weg zu betreten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/259>, abgerufen am 23.07.2024.