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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Die psychologische Unmöglichkeit eines sozialdemokratischen Staates

derungen im sittlichen Bedürfnis begründet seien. Es giebt allerdings sitt¬
liche Prinzipien, die, wenn sie sich mich nicht bei jedem Volke vorfinden, sich
doch bei jedem Bolle mit der Zeit entwickeln müssen, aber diese Prinzipien
sind kein Recht, sie sind nur Forderungen, die in sittlichen Bedürfnissen der
menschlichen Natur begründet sind. Nur deswegen, weil das Wesen des
Rechtes so oft übersehen wird, nimmt jede politische und soziale Partei hoch¬
fahrend das Recht für ihre Prinzipien in Anspruch, statt sie bescheiden in
einem allgemeinen Bedürfnis zu begründen.

Die Sozialdemokratie übersieht aber auch, daß alles Recht, alle soziale
Ordnung überhaupt auf Macht, ja Gewalt beruht, und zwar nicht auf der
Macht des Staates oder der Gesellschaft in Abstritt,", sondern auf Personen,
die die thatsächliche Macht innehaben; der Staat in Äbstraoto hat gar leine
Macht. Weil es aber nur durch machthabende Personen möglich ist, eine
rechtliche und soziale Ordnung in der Gesellschaft zu gründen und zu erhalten,
so bezahlen sich auch diese Personen für ihre Organisation durch Eigentum
an Grundbesitz und Kapital; ja noch mehr, Grundbesitz und Kapital sind die
Grundlagen ihrer Macht, nur durch diesen Besitz haben sie Macht, und nur
durch diese Macht ist eine soziale Ordnung möglich. Daher müssen sich in
jeder Staatsordnung solche machthabende Personen finden, mögen sie nun
dem Adel oder der Geldaristokratie angehören; im sozialdemokratischen Staate
würde an ihre Stelle die Büreaukratie treten und würde sich bald die nötige
materielle Unterlage ihrer Macht verschaffen. Grundbesitz und Kapital bilden
den Schwerpunkt der Macht, und ein zivilisirter Staat, in dein es keinen
solchen Schwerpunkt der Macht gäbe, in dem die Machtverhältnisse veränderlich
wären wie das Meer, wird nie lange bestehen können. Nodbertus-Jagetzow
hat ganz Recht, wenn er behauptet, daß erst mit der Teilung der Arbeit Grund¬
besitz und Kapital, ja das Privateigentum überhaupt seineu Anfang genommen
habe; er übersieht aber, daß das deswegen der Fall war, weil erst mit der
Teilung der Arbeit eine soziale Organisation notwendig wurde, daher auch
eine organisatorische Macht, d. h. Leute, die die Macht hatten, Ordnung zu
schaffen. Die Ordnung schafft sich nie von selbst, noch kann sie von der bloßen
Idee der Gesellschaft oder des Staates geschaffen werden, denn diese hat ihren
realen Bestand nur in den einzelnen Gliedern.

Es ist aber leider in der menschlichen Natur begründet, daß die Mäch¬
tigen mehr sür sich nehmen, als zur Aufrechthaltung der sozialen Ordnung
notwendig ist, daß sie den Untergebenen oft nur das nackte Leben übrig lassen.
Dieser unvernünftige Egoismus führt zu sozialen Revolutionen, die irgend¬
welchen neuen Zustand schaffen, der schließlich wieder in den Kapitalstaat ein¬
mündet. Dieser Egoismus wird niemals zu vernichten sein, aber er kann,
sobald er als unvernünftig erkannt ist, zu öffentlichen Einrichtungen führen,
die ihn einschränken.


Gvenzboten III 1891
Die psychologische Unmöglichkeit eines sozialdemokratischen Staates

derungen im sittlichen Bedürfnis begründet seien. Es giebt allerdings sitt¬
liche Prinzipien, die, wenn sie sich mich nicht bei jedem Volke vorfinden, sich
doch bei jedem Bolle mit der Zeit entwickeln müssen, aber diese Prinzipien
sind kein Recht, sie sind nur Forderungen, die in sittlichen Bedürfnissen der
menschlichen Natur begründet sind. Nur deswegen, weil das Wesen des
Rechtes so oft übersehen wird, nimmt jede politische und soziale Partei hoch¬
fahrend das Recht für ihre Prinzipien in Anspruch, statt sie bescheiden in
einem allgemeinen Bedürfnis zu begründen.

Die Sozialdemokratie übersieht aber auch, daß alles Recht, alle soziale
Ordnung überhaupt auf Macht, ja Gewalt beruht, und zwar nicht auf der
Macht des Staates oder der Gesellschaft in Abstritt,», sondern auf Personen,
die die thatsächliche Macht innehaben; der Staat in Äbstraoto hat gar leine
Macht. Weil es aber nur durch machthabende Personen möglich ist, eine
rechtliche und soziale Ordnung in der Gesellschaft zu gründen und zu erhalten,
so bezahlen sich auch diese Personen für ihre Organisation durch Eigentum
an Grundbesitz und Kapital; ja noch mehr, Grundbesitz und Kapital sind die
Grundlagen ihrer Macht, nur durch diesen Besitz haben sie Macht, und nur
durch diese Macht ist eine soziale Ordnung möglich. Daher müssen sich in
jeder Staatsordnung solche machthabende Personen finden, mögen sie nun
dem Adel oder der Geldaristokratie angehören; im sozialdemokratischen Staate
würde an ihre Stelle die Büreaukratie treten und würde sich bald die nötige
materielle Unterlage ihrer Macht verschaffen. Grundbesitz und Kapital bilden
den Schwerpunkt der Macht, und ein zivilisirter Staat, in dein es keinen
solchen Schwerpunkt der Macht gäbe, in dem die Machtverhältnisse veränderlich
wären wie das Meer, wird nie lange bestehen können. Nodbertus-Jagetzow
hat ganz Recht, wenn er behauptet, daß erst mit der Teilung der Arbeit Grund¬
besitz und Kapital, ja das Privateigentum überhaupt seineu Anfang genommen
habe; er übersieht aber, daß das deswegen der Fall war, weil erst mit der
Teilung der Arbeit eine soziale Organisation notwendig wurde, daher auch
eine organisatorische Macht, d. h. Leute, die die Macht hatten, Ordnung zu
schaffen. Die Ordnung schafft sich nie von selbst, noch kann sie von der bloßen
Idee der Gesellschaft oder des Staates geschaffen werden, denn diese hat ihren
realen Bestand nur in den einzelnen Gliedern.

Es ist aber leider in der menschlichen Natur begründet, daß die Mäch¬
tigen mehr sür sich nehmen, als zur Aufrechthaltung der sozialen Ordnung
notwendig ist, daß sie den Untergebenen oft nur das nackte Leben übrig lassen.
Dieser unvernünftige Egoismus führt zu sozialen Revolutionen, die irgend¬
welchen neuen Zustand schaffen, der schließlich wieder in den Kapitalstaat ein¬
mündet. Dieser Egoismus wird niemals zu vernichten sein, aber er kann,
sobald er als unvernünftig erkannt ist, zu öffentlichen Einrichtungen führen,
die ihn einschränken.


Gvenzboten III 1891
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[0257] Die psychologische Unmöglichkeit eines sozialdemokratischen Staates derungen im sittlichen Bedürfnis begründet seien. Es giebt allerdings sitt¬ liche Prinzipien, die, wenn sie sich mich nicht bei jedem Volke vorfinden, sich doch bei jedem Bolle mit der Zeit entwickeln müssen, aber diese Prinzipien sind kein Recht, sie sind nur Forderungen, die in sittlichen Bedürfnissen der menschlichen Natur begründet sind. Nur deswegen, weil das Wesen des Rechtes so oft übersehen wird, nimmt jede politische und soziale Partei hoch¬ fahrend das Recht für ihre Prinzipien in Anspruch, statt sie bescheiden in einem allgemeinen Bedürfnis zu begründen. Die Sozialdemokratie übersieht aber auch, daß alles Recht, alle soziale Ordnung überhaupt auf Macht, ja Gewalt beruht, und zwar nicht auf der Macht des Staates oder der Gesellschaft in Abstritt,», sondern auf Personen, die die thatsächliche Macht innehaben; der Staat in Äbstraoto hat gar leine Macht. Weil es aber nur durch machthabende Personen möglich ist, eine rechtliche und soziale Ordnung in der Gesellschaft zu gründen und zu erhalten, so bezahlen sich auch diese Personen für ihre Organisation durch Eigentum an Grundbesitz und Kapital; ja noch mehr, Grundbesitz und Kapital sind die Grundlagen ihrer Macht, nur durch diesen Besitz haben sie Macht, und nur durch diese Macht ist eine soziale Ordnung möglich. Daher müssen sich in jeder Staatsordnung solche machthabende Personen finden, mögen sie nun dem Adel oder der Geldaristokratie angehören; im sozialdemokratischen Staate würde an ihre Stelle die Büreaukratie treten und würde sich bald die nötige materielle Unterlage ihrer Macht verschaffen. Grundbesitz und Kapital bilden den Schwerpunkt der Macht, und ein zivilisirter Staat, in dein es keinen solchen Schwerpunkt der Macht gäbe, in dem die Machtverhältnisse veränderlich wären wie das Meer, wird nie lange bestehen können. Nodbertus-Jagetzow hat ganz Recht, wenn er behauptet, daß erst mit der Teilung der Arbeit Grund¬ besitz und Kapital, ja das Privateigentum überhaupt seineu Anfang genommen habe; er übersieht aber, daß das deswegen der Fall war, weil erst mit der Teilung der Arbeit eine soziale Organisation notwendig wurde, daher auch eine organisatorische Macht, d. h. Leute, die die Macht hatten, Ordnung zu schaffen. Die Ordnung schafft sich nie von selbst, noch kann sie von der bloßen Idee der Gesellschaft oder des Staates geschaffen werden, denn diese hat ihren realen Bestand nur in den einzelnen Gliedern. Es ist aber leider in der menschlichen Natur begründet, daß die Mäch¬ tigen mehr sür sich nehmen, als zur Aufrechthaltung der sozialen Ordnung notwendig ist, daß sie den Untergebenen oft nur das nackte Leben übrig lassen. Dieser unvernünftige Egoismus führt zu sozialen Revolutionen, die irgend¬ welchen neuen Zustand schaffen, der schließlich wieder in den Kapitalstaat ein¬ mündet. Dieser Egoismus wird niemals zu vernichten sein, aber er kann, sobald er als unvernünftig erkannt ist, zu öffentlichen Einrichtungen führen, die ihn einschränken. Gvenzboten III 1891

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/257>, abgerufen am 26.08.2024.