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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Die psychologische Unmöglichkeit eines socialdemokratischen Staates

und mag Arbeiter sein, wer dn will, wenn die allgemeine Menschenliebe herrscht,
so wird der Besitzer dein Arbeiter feilte Mühe so zu lohnen suchen, daß sich
der Arbeiter so wohl befindet wie der Besitzer. Aber auch wenn der vernünftige
Egoismus allein herrschte, wäre die-Lage des Arbeiters nicht schlecht, der ver¬
nünftige Egoist müßte den Arbeiter so weit befriedigen, daß das Vergleichungs¬
gefühl des Neides keine bedrohliche Starke erlangen konnte; mit andern Worten,
er müßte ihm eine behagliche Existenz zu verschaffen suchen.

Es herrscht nun weder die vernünftige Menschenliebe, noch der vernünftige
Egoismus allein in der Welt, sondern beide sind in den Ursachen der mensch¬
lichen Handlungen unentwirrbar unter einander und mit der unvernünftigen
Menschenliebe und dem unvernünftigen Egoismus vermengt. Es scheint aber
doch der unvernünftige Egoismus vvrzuherrschen, sonst hätten sich nicht solche
Zustände bilden können, wie sie thatsächlich bestehen: die Bildung großer Ver¬
mögen durch Ausbeutung andrer. Dieser unvernünftige Egoismus treibt die
Menge der Sozialdemokratie in die Arme, und doch würde derselbe Egoismus
auch wieder aus der Sozialdemokratie herausführen. Es verhält sich hier so
wie bei dem vorigen Punkte: die Unselbständigkeit und Abhängigkeit der Ar¬
beiter von ihren Arbeitsherren treibt sie der Sozialdemokratie zu, und dieselbe
Unselbständigkeit würde sie wieder aus dem sozialdemokratischen Staate hinaus¬
treiben.

Nehmen wir an, der sozialdemokratische Staat wäre fix und fertig, dann
müßte es Verwaltungen geben, die das von Einzelnen oder Genossenschaften
abgelieferte Arbeitserzeugnis auf feine Güte zu prüfen hätten; denn nicht jede
Arbeit kann bezahlt werden, sondern nur die von gewisser Güte. Die Be¬
hörden müßten daher ein gewisses Maß von Güte der Arbeit für die Bezah¬
lung aufstellen; schlechtere Arbeit müßte als umgethan betrachtet werden. Die
Folge davon wäre, daß niemand über dieses Maß gut arbeiten würde, denn
weswegen sollte er besser als die andern arbeiten und doch nicht mehr als sie
erhalten? (Wollte man aber jede Arbeit nach ihrem Werte abschätzen, so
müßte es fast mehr Beamte als Arbeiter geben, und trotzdem wären die größten
Streitigkeiten und allgemeine Unzufriedenheit nicht zu vermeiden.) Es würde
also mit der Zeit die gesamte Arbeit auf ein niedrigstes Maß von Güte herab¬
sinken. Man könnte nun meinen, der Gedanke, daß das, was man verarbeitet,
auch wieder zur Verteilung gelange, daß also jeder sein eigner Feind sei, wenn
er schlecht arbeite, müßte zum Antriebe dienen, gut zu arbeiten. Dieser An¬
trieb würde aber durch zwei andre Umstände aufgehalten werden. Kein Ar¬
beiter bekäme nämlich sein eignes Arbeitserzeugnis zum Verbrauch (oder we¬
nigstens nur ganz ausnahmsweise), sondern das andrer Arbeiter; wenn er daher
auch selbst gut arbeitete, so nützte ihm das nichts, denn er arbeitete für die
andern, und die andern arbeiteten für ihn; wenn er noch so gut arbeitete, so
Hütte er doch gar teilte Sicherheit, daß die andern auch so gut arbeiteten, daß


Die psychologische Unmöglichkeit eines socialdemokratischen Staates

und mag Arbeiter sein, wer dn will, wenn die allgemeine Menschenliebe herrscht,
so wird der Besitzer dein Arbeiter feilte Mühe so zu lohnen suchen, daß sich
der Arbeiter so wohl befindet wie der Besitzer. Aber auch wenn der vernünftige
Egoismus allein herrschte, wäre die-Lage des Arbeiters nicht schlecht, der ver¬
nünftige Egoist müßte den Arbeiter so weit befriedigen, daß das Vergleichungs¬
gefühl des Neides keine bedrohliche Starke erlangen konnte; mit andern Worten,
er müßte ihm eine behagliche Existenz zu verschaffen suchen.

Es herrscht nun weder die vernünftige Menschenliebe, noch der vernünftige
Egoismus allein in der Welt, sondern beide sind in den Ursachen der mensch¬
lichen Handlungen unentwirrbar unter einander und mit der unvernünftigen
Menschenliebe und dem unvernünftigen Egoismus vermengt. Es scheint aber
doch der unvernünftige Egoismus vvrzuherrschen, sonst hätten sich nicht solche
Zustände bilden können, wie sie thatsächlich bestehen: die Bildung großer Ver¬
mögen durch Ausbeutung andrer. Dieser unvernünftige Egoismus treibt die
Menge der Sozialdemokratie in die Arme, und doch würde derselbe Egoismus
auch wieder aus der Sozialdemokratie herausführen. Es verhält sich hier so
wie bei dem vorigen Punkte: die Unselbständigkeit und Abhängigkeit der Ar¬
beiter von ihren Arbeitsherren treibt sie der Sozialdemokratie zu, und dieselbe
Unselbständigkeit würde sie wieder aus dem sozialdemokratischen Staate hinaus¬
treiben.

Nehmen wir an, der sozialdemokratische Staat wäre fix und fertig, dann
müßte es Verwaltungen geben, die das von Einzelnen oder Genossenschaften
abgelieferte Arbeitserzeugnis auf feine Güte zu prüfen hätten; denn nicht jede
Arbeit kann bezahlt werden, sondern nur die von gewisser Güte. Die Be¬
hörden müßten daher ein gewisses Maß von Güte der Arbeit für die Bezah¬
lung aufstellen; schlechtere Arbeit müßte als umgethan betrachtet werden. Die
Folge davon wäre, daß niemand über dieses Maß gut arbeiten würde, denn
weswegen sollte er besser als die andern arbeiten und doch nicht mehr als sie
erhalten? (Wollte man aber jede Arbeit nach ihrem Werte abschätzen, so
müßte es fast mehr Beamte als Arbeiter geben, und trotzdem wären die größten
Streitigkeiten und allgemeine Unzufriedenheit nicht zu vermeiden.) Es würde
also mit der Zeit die gesamte Arbeit auf ein niedrigstes Maß von Güte herab¬
sinken. Man könnte nun meinen, der Gedanke, daß das, was man verarbeitet,
auch wieder zur Verteilung gelange, daß also jeder sein eigner Feind sei, wenn
er schlecht arbeite, müßte zum Antriebe dienen, gut zu arbeiten. Dieser An¬
trieb würde aber durch zwei andre Umstände aufgehalten werden. Kein Ar¬
beiter bekäme nämlich sein eignes Arbeitserzeugnis zum Verbrauch (oder we¬
nigstens nur ganz ausnahmsweise), sondern das andrer Arbeiter; wenn er daher
auch selbst gut arbeitete, so nützte ihm das nichts, denn er arbeitete für die
andern, und die andern arbeiteten für ihn; wenn er noch so gut arbeitete, so
Hütte er doch gar teilte Sicherheit, daß die andern auch so gut arbeiteten, daß


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[0250] Die psychologische Unmöglichkeit eines socialdemokratischen Staates und mag Arbeiter sein, wer dn will, wenn die allgemeine Menschenliebe herrscht, so wird der Besitzer dein Arbeiter feilte Mühe so zu lohnen suchen, daß sich der Arbeiter so wohl befindet wie der Besitzer. Aber auch wenn der vernünftige Egoismus allein herrschte, wäre die-Lage des Arbeiters nicht schlecht, der ver¬ nünftige Egoist müßte den Arbeiter so weit befriedigen, daß das Vergleichungs¬ gefühl des Neides keine bedrohliche Starke erlangen konnte; mit andern Worten, er müßte ihm eine behagliche Existenz zu verschaffen suchen. Es herrscht nun weder die vernünftige Menschenliebe, noch der vernünftige Egoismus allein in der Welt, sondern beide sind in den Ursachen der mensch¬ lichen Handlungen unentwirrbar unter einander und mit der unvernünftigen Menschenliebe und dem unvernünftigen Egoismus vermengt. Es scheint aber doch der unvernünftige Egoismus vvrzuherrschen, sonst hätten sich nicht solche Zustände bilden können, wie sie thatsächlich bestehen: die Bildung großer Ver¬ mögen durch Ausbeutung andrer. Dieser unvernünftige Egoismus treibt die Menge der Sozialdemokratie in die Arme, und doch würde derselbe Egoismus auch wieder aus der Sozialdemokratie herausführen. Es verhält sich hier so wie bei dem vorigen Punkte: die Unselbständigkeit und Abhängigkeit der Ar¬ beiter von ihren Arbeitsherren treibt sie der Sozialdemokratie zu, und dieselbe Unselbständigkeit würde sie wieder aus dem sozialdemokratischen Staate hinaus¬ treiben. Nehmen wir an, der sozialdemokratische Staat wäre fix und fertig, dann müßte es Verwaltungen geben, die das von Einzelnen oder Genossenschaften abgelieferte Arbeitserzeugnis auf feine Güte zu prüfen hätten; denn nicht jede Arbeit kann bezahlt werden, sondern nur die von gewisser Güte. Die Be¬ hörden müßten daher ein gewisses Maß von Güte der Arbeit für die Bezah¬ lung aufstellen; schlechtere Arbeit müßte als umgethan betrachtet werden. Die Folge davon wäre, daß niemand über dieses Maß gut arbeiten würde, denn weswegen sollte er besser als die andern arbeiten und doch nicht mehr als sie erhalten? (Wollte man aber jede Arbeit nach ihrem Werte abschätzen, so müßte es fast mehr Beamte als Arbeiter geben, und trotzdem wären die größten Streitigkeiten und allgemeine Unzufriedenheit nicht zu vermeiden.) Es würde also mit der Zeit die gesamte Arbeit auf ein niedrigstes Maß von Güte herab¬ sinken. Man könnte nun meinen, der Gedanke, daß das, was man verarbeitet, auch wieder zur Verteilung gelange, daß also jeder sein eigner Feind sei, wenn er schlecht arbeite, müßte zum Antriebe dienen, gut zu arbeiten. Dieser An¬ trieb würde aber durch zwei andre Umstände aufgehalten werden. Kein Ar¬ beiter bekäme nämlich sein eignes Arbeitserzeugnis zum Verbrauch (oder we¬ nigstens nur ganz ausnahmsweise), sondern das andrer Arbeiter; wenn er daher auch selbst gut arbeitete, so nützte ihm das nichts, denn er arbeitete für die andern, und die andern arbeiteten für ihn; wenn er noch so gut arbeitete, so Hütte er doch gar teilte Sicherheit, daß die andern auch so gut arbeiteten, daß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/250>, abgerufen am 23.07.2024.