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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Wer hat Recht?

empfinden, der, mochte er nun Mecklenburg, Neapel oder Preußen heißen, alle,
die Vaterlandsliebe verrieten, einkerkerte oder verbannte? Waren die Westfalen
der unglückseligen Rheinbundszeit verpflichtet, ihr von Napoleon geschaffnes
Königreich zu lieben? Wir sind weit entfernt davon, unser ehrwürdiges
deutsches Reich, den Staat Preußen und seine großen Männer mit jenen
elenden Gebilden zu vergleichen, aber dem allgemeinen Gesetze des Staatslebens,
daß der Staat sich die Liebe seiner Unterthanen erst zu verdienen habe, bleibt
anch Preußen und Deutschland unterworfen. Gerade im letzten Jahre haben
wir aus den höhern Schichten der bürgerlichen Parteien heraus so manche
Stimme vernommen, die auf merkliche Abkühlung der Liebe zum Staate
schließen ließ, weil die Betreffenden eine Abkühlung der Gegenliebe wahr¬
genommen zu haben glaubten. Und doch hat ihnen gegenüber der Staat anch
in diesem Jahre niemals die unfreundlichen Züge des schnauzenden Polizisten
getragen, während mancher Wanderbursch, Tagelöhner und Fabrikarbeiter gar
keine andre Erscheinungsform des Staates kennt als das Gesicht und die
Uniform des Polizisten.

Als den Grundfehler der "proletarisch-wissenschaftlichen Anschauung" be¬
zeichnet der Verfasser, "daß ihr die materiellen Güter allein gelten." Wir
wollen dahingestellt sein lassen, ob die wissenschaftlichen Begründer des Ma¬
terialismus in Deutschland, ein Büchner, ein Vogt, ein Häckel, ein Feuerbach,
ein David Strauß Proletarier siud oder waren, ob die bürgerlichen Parteien
nnr nach dem Himmelreich und seiner Gerechtigkeit trachten, wie Christus das
Streben nach den höchsten idealen Gütern nennt; ob alle Fabrikbesitzer, Ma¬
gnaten, Großhändler, Professoren, Landrichter u. s. w. den sinnlichen Gewissen
so abgestorben sind wie Bernhard von Clnirvcmx, der nicht wußte, ob er Öl
oder Wasser trank, ob seine Zelle ein oder zwei Fenster hätte, und der von
schonen Gegenständen nur Notiz nahm, um sie als Fallstricke des Teufels
ihren Besitzern zu verleiden. Wir wollen es für ausgemacht ansehen, daß
jedem Anhänger der bürgerlichen Parteien die Höhe seines Einkommens völlig
gleichgiltig ist, und daß, wenn ihm wider Willen eine Erhöhung aufgenötigt
wird, er gar nicht daran denkt, seiner täglichen Kartoffelmcchlzeit einen sinn¬
lichen Genuß hinzuzufügen, sondern daß er den Überschuß sofort auf dem
Altare des Vaterlandes opfert und dem Stenerfiskus zur Verfügung stellt.
Aber der Verfasser begeht den Fehler, daß er über der falschen Philosophie
der Sozialdemokratie die volkswirtschaftlichen Ansichten des Sozialismus über¬
sieht, in denen manches Nichtige steckt. Daß die Proletarier von Nehbrnten
und Burgunder, von Palästen und seidnen Pfühlen träumen, ist das Natür¬
lichste von der Welt; auf den Bau vou Luftschlössern verlegen sich immer
nur Leute, die keine Aussicht haben, es zu einem wirklichen Schlosse zu bringe";
solche Phantasien haben auch gar nichts zu bedeuten. Aber ausgegangen ist
die sozialistische Lehre nicht von solchen Luftschlössern - diese bilden nnr die


Grenzboten UI 1891 ^
Wer hat Recht?

empfinden, der, mochte er nun Mecklenburg, Neapel oder Preußen heißen, alle,
die Vaterlandsliebe verrieten, einkerkerte oder verbannte? Waren die Westfalen
der unglückseligen Rheinbundszeit verpflichtet, ihr von Napoleon geschaffnes
Königreich zu lieben? Wir sind weit entfernt davon, unser ehrwürdiges
deutsches Reich, den Staat Preußen und seine großen Männer mit jenen
elenden Gebilden zu vergleichen, aber dem allgemeinen Gesetze des Staatslebens,
daß der Staat sich die Liebe seiner Unterthanen erst zu verdienen habe, bleibt
anch Preußen und Deutschland unterworfen. Gerade im letzten Jahre haben
wir aus den höhern Schichten der bürgerlichen Parteien heraus so manche
Stimme vernommen, die auf merkliche Abkühlung der Liebe zum Staate
schließen ließ, weil die Betreffenden eine Abkühlung der Gegenliebe wahr¬
genommen zu haben glaubten. Und doch hat ihnen gegenüber der Staat anch
in diesem Jahre niemals die unfreundlichen Züge des schnauzenden Polizisten
getragen, während mancher Wanderbursch, Tagelöhner und Fabrikarbeiter gar
keine andre Erscheinungsform des Staates kennt als das Gesicht und die
Uniform des Polizisten.

Als den Grundfehler der „proletarisch-wissenschaftlichen Anschauung" be¬
zeichnet der Verfasser, „daß ihr die materiellen Güter allein gelten." Wir
wollen dahingestellt sein lassen, ob die wissenschaftlichen Begründer des Ma¬
terialismus in Deutschland, ein Büchner, ein Vogt, ein Häckel, ein Feuerbach,
ein David Strauß Proletarier siud oder waren, ob die bürgerlichen Parteien
nnr nach dem Himmelreich und seiner Gerechtigkeit trachten, wie Christus das
Streben nach den höchsten idealen Gütern nennt; ob alle Fabrikbesitzer, Ma¬
gnaten, Großhändler, Professoren, Landrichter u. s. w. den sinnlichen Gewissen
so abgestorben sind wie Bernhard von Clnirvcmx, der nicht wußte, ob er Öl
oder Wasser trank, ob seine Zelle ein oder zwei Fenster hätte, und der von
schonen Gegenständen nur Notiz nahm, um sie als Fallstricke des Teufels
ihren Besitzern zu verleiden. Wir wollen es für ausgemacht ansehen, daß
jedem Anhänger der bürgerlichen Parteien die Höhe seines Einkommens völlig
gleichgiltig ist, und daß, wenn ihm wider Willen eine Erhöhung aufgenötigt
wird, er gar nicht daran denkt, seiner täglichen Kartoffelmcchlzeit einen sinn¬
lichen Genuß hinzuzufügen, sondern daß er den Überschuß sofort auf dem
Altare des Vaterlandes opfert und dem Stenerfiskus zur Verfügung stellt.
Aber der Verfasser begeht den Fehler, daß er über der falschen Philosophie
der Sozialdemokratie die volkswirtschaftlichen Ansichten des Sozialismus über¬
sieht, in denen manches Nichtige steckt. Daß die Proletarier von Nehbrnten
und Burgunder, von Palästen und seidnen Pfühlen träumen, ist das Natür¬
lichste von der Welt; auf den Bau vou Luftschlössern verlegen sich immer
nur Leute, die keine Aussicht haben, es zu einem wirklichen Schlosse zu bringe»;
solche Phantasien haben auch gar nichts zu bedeuten. Aber ausgegangen ist
die sozialistische Lehre nicht von solchen Luftschlössern - diese bilden nnr die


Grenzboten UI 1891 ^
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/121>, abgerufen am 23.07.2024.