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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Litteratur

allem durch fröhliche Symposien, Berliner Ballhausstudieu, Kölner Karnevals¬
abenteuer, nächtliche Fahrten mit einer jener gefährlichen Schönen, die zwar im
entscheidenden Augenblicke sich und dem Freunde "die Reue ersparen," es aber
übelnehmen, falls dieser entscheidende Atigenblick ausbleibt, und durch ähnliche Dinge
vermittelt wirds und am Schlüsse das Pathos vernimmt, mit dem der bisherige
Oberlehrer und nunmehrige Abgeordnete Lehrende Mark auf der Rednerbühne des
preußischen Abgeordnetenhauses "Beseitigung der Schranken, welche das altklassische
Gymnasium vor die freie Entwicklung unsers deutschen Volkstums und der treibenden
Kräfte unsrer heutigen Welt aufgetürmt hat" fordert, so erwehrt man sich schwer
des Gedankens an eine satirische Absicht. Auch die Art, wie der Held von vorn¬
herein an den Drahtfaden eines schlauen Berliner Kanzleiratsehepaares gelenkt wird,
dessen hübsches Töchterlein Elly er zu Anfang der Geschichte geheiratet und nur
deshalb bekommen hat, weil Kanzleirat Dobert besser weiß, als der Oberlehrer
selbst, welchen Reichtum der westfälische Bauernsohn dereinst erben wird, wie er sich
schließlich vom Schwiegerpapa auf die große Streberbühne ziehen läßt, ist schwer
zu vereinigen mit einem Helden, den man ernsthaft nehmen soll. Und doch kann
alles in vollem Ernst gemeint sein. "Oberlehrer Mark" trägt das Bodenstedtsche
Motto:


Wie zwei sich finden, die sich lieben,
Flut ich täglich in neuen Romanen beschrieben;
Doch wie sie durchs Leben beisammen bleiben,
Scheint mir eine größere Kunst zu beschreiben.

Und so scheint denn der Roman ganz ernstlich ein Menschenschicksal darstellen zu
sollen, oder vielmehr die Schicksale eines jungen Paares, die mit der Hochzeitsreise
an den Comersee anheben und, über ein Gymnasiallehrerjahrzehnt in Nheinbach
hinweg, in einer herrschaftlichen Wohnung in der Berliner Lützowstraße enden, in
der der Abgeordnete Mark Ministerialdirektoren und andre mächtige Persönlichkeiten
mit 1868er Josephshöfer und ähnlichen guten Dingen bewirtet. Natürlicherweise
hat der künftige Volksvertreter, der im Verlauf seiner Erlebnisse sich aus einem
Altphilologen in einen überzeugten Realschulmann wandelt, inzwischen eine Menge
von Erfahrungen zu machen, davon einige oben angedeutet wurden. Und wenn
man auch versteht, daß es dem realistischen Darsteller von heute nichts verschlägt,
den Menschen, den er vorführen will, in eine Anzahl kleiner Lumpereien und be¬
denklicher Situationen zu verstricke", so begreift man doch schwer, falls das Ganze
nicht Satire sein soll, warum der biedere Lehrende von der ersten bis zur letzten
Seite der Narr und Pinsel des findigen geheimen Kanzlcirats bleibt. Man müßte
denn die Moral daraus entnehmen sollen, daß gewisse Naturen zu ihrem Glück
geleitet werden müssen, wie man im Blindekuhspiel an einen Baum oder in eine
Zimmerecke geführt wird. Jedenfalls schüttet diese Art von Lebeusdarstellung
Wasser auf die Mühle der unbarmherzigen Bekämpfer und Zerstörer der heutigen
Gesellschaft.






Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunvw in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig -- Druck von Carl Marquart in Leipzig
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allem durch fröhliche Symposien, Berliner Ballhausstudieu, Kölner Karnevals¬
abenteuer, nächtliche Fahrten mit einer jener gefährlichen Schönen, die zwar im
entscheidenden Augenblicke sich und dem Freunde „die Reue ersparen," es aber
übelnehmen, falls dieser entscheidende Atigenblick ausbleibt, und durch ähnliche Dinge
vermittelt wirds und am Schlüsse das Pathos vernimmt, mit dem der bisherige
Oberlehrer und nunmehrige Abgeordnete Lehrende Mark auf der Rednerbühne des
preußischen Abgeordnetenhauses „Beseitigung der Schranken, welche das altklassische
Gymnasium vor die freie Entwicklung unsers deutschen Volkstums und der treibenden
Kräfte unsrer heutigen Welt aufgetürmt hat" fordert, so erwehrt man sich schwer
des Gedankens an eine satirische Absicht. Auch die Art, wie der Held von vorn¬
herein an den Drahtfaden eines schlauen Berliner Kanzleiratsehepaares gelenkt wird,
dessen hübsches Töchterlein Elly er zu Anfang der Geschichte geheiratet und nur
deshalb bekommen hat, weil Kanzleirat Dobert besser weiß, als der Oberlehrer
selbst, welchen Reichtum der westfälische Bauernsohn dereinst erben wird, wie er sich
schließlich vom Schwiegerpapa auf die große Streberbühne ziehen läßt, ist schwer
zu vereinigen mit einem Helden, den man ernsthaft nehmen soll. Und doch kann
alles in vollem Ernst gemeint sein. „Oberlehrer Mark" trägt das Bodenstedtsche
Motto:


Wie zwei sich finden, die sich lieben,
Flut ich täglich in neuen Romanen beschrieben;
Doch wie sie durchs Leben beisammen bleiben,
Scheint mir eine größere Kunst zu beschreiben.

Und so scheint denn der Roman ganz ernstlich ein Menschenschicksal darstellen zu
sollen, oder vielmehr die Schicksale eines jungen Paares, die mit der Hochzeitsreise
an den Comersee anheben und, über ein Gymnasiallehrerjahrzehnt in Nheinbach
hinweg, in einer herrschaftlichen Wohnung in der Berliner Lützowstraße enden, in
der der Abgeordnete Mark Ministerialdirektoren und andre mächtige Persönlichkeiten
mit 1868er Josephshöfer und ähnlichen guten Dingen bewirtet. Natürlicherweise
hat der künftige Volksvertreter, der im Verlauf seiner Erlebnisse sich aus einem
Altphilologen in einen überzeugten Realschulmann wandelt, inzwischen eine Menge
von Erfahrungen zu machen, davon einige oben angedeutet wurden. Und wenn
man auch versteht, daß es dem realistischen Darsteller von heute nichts verschlägt,
den Menschen, den er vorführen will, in eine Anzahl kleiner Lumpereien und be¬
denklicher Situationen zu verstricke», so begreift man doch schwer, falls das Ganze
nicht Satire sein soll, warum der biedere Lehrende von der ersten bis zur letzten
Seite der Narr und Pinsel des findigen geheimen Kanzlcirats bleibt. Man müßte
denn die Moral daraus entnehmen sollen, daß gewisse Naturen zu ihrem Glück
geleitet werden müssen, wie man im Blindekuhspiel an einen Baum oder in eine
Zimmerecke geführt wird. Jedenfalls schüttet diese Art von Lebeusdarstellung
Wasser auf die Mühle der unbarmherzigen Bekämpfer und Zerstörer der heutigen
Gesellschaft.






Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunvw in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig — Druck von Carl Marquart in Leipzig
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[0104] Litteratur allem durch fröhliche Symposien, Berliner Ballhausstudieu, Kölner Karnevals¬ abenteuer, nächtliche Fahrten mit einer jener gefährlichen Schönen, die zwar im entscheidenden Augenblicke sich und dem Freunde „die Reue ersparen," es aber übelnehmen, falls dieser entscheidende Atigenblick ausbleibt, und durch ähnliche Dinge vermittelt wirds und am Schlüsse das Pathos vernimmt, mit dem der bisherige Oberlehrer und nunmehrige Abgeordnete Lehrende Mark auf der Rednerbühne des preußischen Abgeordnetenhauses „Beseitigung der Schranken, welche das altklassische Gymnasium vor die freie Entwicklung unsers deutschen Volkstums und der treibenden Kräfte unsrer heutigen Welt aufgetürmt hat" fordert, so erwehrt man sich schwer des Gedankens an eine satirische Absicht. Auch die Art, wie der Held von vorn¬ herein an den Drahtfaden eines schlauen Berliner Kanzleiratsehepaares gelenkt wird, dessen hübsches Töchterlein Elly er zu Anfang der Geschichte geheiratet und nur deshalb bekommen hat, weil Kanzleirat Dobert besser weiß, als der Oberlehrer selbst, welchen Reichtum der westfälische Bauernsohn dereinst erben wird, wie er sich schließlich vom Schwiegerpapa auf die große Streberbühne ziehen läßt, ist schwer zu vereinigen mit einem Helden, den man ernsthaft nehmen soll. Und doch kann alles in vollem Ernst gemeint sein. „Oberlehrer Mark" trägt das Bodenstedtsche Motto: Wie zwei sich finden, die sich lieben, Flut ich täglich in neuen Romanen beschrieben; Doch wie sie durchs Leben beisammen bleiben, Scheint mir eine größere Kunst zu beschreiben. Und so scheint denn der Roman ganz ernstlich ein Menschenschicksal darstellen zu sollen, oder vielmehr die Schicksale eines jungen Paares, die mit der Hochzeitsreise an den Comersee anheben und, über ein Gymnasiallehrerjahrzehnt in Nheinbach hinweg, in einer herrschaftlichen Wohnung in der Berliner Lützowstraße enden, in der der Abgeordnete Mark Ministerialdirektoren und andre mächtige Persönlichkeiten mit 1868er Josephshöfer und ähnlichen guten Dingen bewirtet. Natürlicherweise hat der künftige Volksvertreter, der im Verlauf seiner Erlebnisse sich aus einem Altphilologen in einen überzeugten Realschulmann wandelt, inzwischen eine Menge von Erfahrungen zu machen, davon einige oben angedeutet wurden. Und wenn man auch versteht, daß es dem realistischen Darsteller von heute nichts verschlägt, den Menschen, den er vorführen will, in eine Anzahl kleiner Lumpereien und be¬ denklicher Situationen zu verstricke», so begreift man doch schwer, falls das Ganze nicht Satire sein soll, warum der biedere Lehrende von der ersten bis zur letzten Seite der Narr und Pinsel des findigen geheimen Kanzlcirats bleibt. Man müßte denn die Moral daraus entnehmen sollen, daß gewisse Naturen zu ihrem Glück geleitet werden müssen, wie man im Blindekuhspiel an einen Baum oder in eine Zimmerecke geführt wird. Jedenfalls schüttet diese Art von Lebeusdarstellung Wasser auf die Mühle der unbarmherzigen Bekämpfer und Zerstörer der heutigen Gesellschaft. Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunvw in Leipzig Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig — Druck von Carl Marquart in Leipzig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/104>, abgerufen am 23.07.2024.