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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Doktrinarismus

genug. Wenn Physiker in unsrer Zeit die Vewegungsmitteilung durch Stoß
für die einzig mögliche Art der Einwirkung der Körper auf einander erklären,
weil uns keine andre begreiflich sei. so wird hier unsre Fähigkeit zum Be¬
greifen (Vorstellen) zum Maßstabe des in Wirklichkeit möglichen gemacht.
Wenn gewisse ethische Systeme behaupten, daß sich der menschliche Wille jedes¬
mal im Sinne des größten Lnsterfolges bestimme, so wird hier für tue Er¬
klärung der Willenshandlungeu eine zwar sehr einfache Schablone aufgestellt,
deren allgemeine Anwendbarkeit jedoch kaum durch hinlänglich viele psycho¬
logische Analysen gesichert scheint. Doktrinäre Einseitigkeit ist es endlich auch,
wenn man, wie es so oft geschieht, einerseits das System des Freihandels, ander¬
seits das des Protektionismus als das allein heilsame hinstellen will, denn
es wird der Fehler gemacht, daß man eine Norm, die in gewissen Verhält-
nissen vielleicht vollkommen zutrifft, deshalb ohne weiteres zu eiuer allgemcm-
giltigen erheben will.

Gewiß ist also der Begriff, das abstrakte Schema, die Hypothese em
wichtiges und unentbehrliches'Werkzeug der Erkenntnis, um in der Manmch-
faltigkeit der Thatsachen einen Zusammenhang herzustellen und dem Denken
so einen Überblick über sie zu sichern. aber es darf dabei acht vergessen
werden, daß der Begriff immer ein Flüssiges bleiben muß. niemals aber
erhärten darf; die Grundlage haben immer die Thatsachen zu bilden, der
Begriff ist nur die Form ihrer Ordnung in unserm Geiste.

Beinahe umgekehrt verhält sich nun die Sache auf dem Gebiete der "prak¬
tischen" Vernunft. Alles vernünftige Handeln zielt darauf ab, neue That¬
sachen zu schaffen und durch diese eine Idee zu verwirklichen; hier ist also
das Allgemeine, der Gedanke zuerst da, und das Besondre, die Thatsache, lard
durch das Allgemeine bestimmt. Es ist ein Irrtum, wenn so oft gesagt uurd,
daß aus der Erkenntnis der uus umgebenden Welt und ihrer Gesetze die
Ideale des menschlichen Lebens, die Ziele, denen der Mensch zuzustreben hat.
sich von selbst ergäben. Allerdings steht der Mensch nicht außer der Natur,
er ist ein Kind, entsprungen aus ihrem Schoße, er ist ihren Einflüssen fort¬
dauernd ausgesetzt und bei dem Streben nach Verwirklichung seiner Ideale
gebunden an die° Mittel, die sie ihm zu diesem Zwecke zur Verfügung stellt.
Aber die Aufgaben seines Lebens kann und muß sich der Einzelne selbst stellen,
und ebenso ist überhaupt das menschliche Kulturideal ein Selbstgeschaffenes,
keinesfalls braucht es sich die Menschheit von außen aufdrängen zu lassen.
Ganz überflttssigerweise hat man sich deshalb vom moralischen Standpunkte
aus über die Lehre von der tierischen Abstammung des Menschen und über
den Nachweis ereifert, daß das gesamte tierische Leben in einem rücksichtslosen
Kampf ums Dasein aufgeht, worin die Grundsätze unsrer überlieferten Sitten-
lehre nicht die mindeste Anerkennung finden. Erdballen denn diese Thatsachen
irgend einen zwingenden Grund dafür, daß nun auch die Menschheit das


Doktrinarismus

genug. Wenn Physiker in unsrer Zeit die Vewegungsmitteilung durch Stoß
für die einzig mögliche Art der Einwirkung der Körper auf einander erklären,
weil uns keine andre begreiflich sei. so wird hier unsre Fähigkeit zum Be¬
greifen (Vorstellen) zum Maßstabe des in Wirklichkeit möglichen gemacht.
Wenn gewisse ethische Systeme behaupten, daß sich der menschliche Wille jedes¬
mal im Sinne des größten Lnsterfolges bestimme, so wird hier für tue Er¬
klärung der Willenshandlungeu eine zwar sehr einfache Schablone aufgestellt,
deren allgemeine Anwendbarkeit jedoch kaum durch hinlänglich viele psycho¬
logische Analysen gesichert scheint. Doktrinäre Einseitigkeit ist es endlich auch,
wenn man, wie es so oft geschieht, einerseits das System des Freihandels, ander¬
seits das des Protektionismus als das allein heilsame hinstellen will, denn
es wird der Fehler gemacht, daß man eine Norm, die in gewissen Verhält-
nissen vielleicht vollkommen zutrifft, deshalb ohne weiteres zu eiuer allgemcm-
giltigen erheben will.

Gewiß ist also der Begriff, das abstrakte Schema, die Hypothese em
wichtiges und unentbehrliches'Werkzeug der Erkenntnis, um in der Manmch-
faltigkeit der Thatsachen einen Zusammenhang herzustellen und dem Denken
so einen Überblick über sie zu sichern. aber es darf dabei acht vergessen
werden, daß der Begriff immer ein Flüssiges bleiben muß. niemals aber
erhärten darf; die Grundlage haben immer die Thatsachen zu bilden, der
Begriff ist nur die Form ihrer Ordnung in unserm Geiste.

Beinahe umgekehrt verhält sich nun die Sache auf dem Gebiete der „prak¬
tischen" Vernunft. Alles vernünftige Handeln zielt darauf ab, neue That¬
sachen zu schaffen und durch diese eine Idee zu verwirklichen; hier ist also
das Allgemeine, der Gedanke zuerst da, und das Besondre, die Thatsache, lard
durch das Allgemeine bestimmt. Es ist ein Irrtum, wenn so oft gesagt uurd,
daß aus der Erkenntnis der uus umgebenden Welt und ihrer Gesetze die
Ideale des menschlichen Lebens, die Ziele, denen der Mensch zuzustreben hat.
sich von selbst ergäben. Allerdings steht der Mensch nicht außer der Natur,
er ist ein Kind, entsprungen aus ihrem Schoße, er ist ihren Einflüssen fort¬
dauernd ausgesetzt und bei dem Streben nach Verwirklichung seiner Ideale
gebunden an die° Mittel, die sie ihm zu diesem Zwecke zur Verfügung stellt.
Aber die Aufgaben seines Lebens kann und muß sich der Einzelne selbst stellen,
und ebenso ist überhaupt das menschliche Kulturideal ein Selbstgeschaffenes,
keinesfalls braucht es sich die Menschheit von außen aufdrängen zu lassen.
Ganz überflttssigerweise hat man sich deshalb vom moralischen Standpunkte
aus über die Lehre von der tierischen Abstammung des Menschen und über
den Nachweis ereifert, daß das gesamte tierische Leben in einem rücksichtslosen
Kampf ums Dasein aufgeht, worin die Grundsätze unsrer überlieferten Sitten-
lehre nicht die mindeste Anerkennung finden. Erdballen denn diese Thatsachen
irgend einen zwingenden Grund dafür, daß nun auch die Menschheit das


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[0075] Doktrinarismus genug. Wenn Physiker in unsrer Zeit die Vewegungsmitteilung durch Stoß für die einzig mögliche Art der Einwirkung der Körper auf einander erklären, weil uns keine andre begreiflich sei. so wird hier unsre Fähigkeit zum Be¬ greifen (Vorstellen) zum Maßstabe des in Wirklichkeit möglichen gemacht. Wenn gewisse ethische Systeme behaupten, daß sich der menschliche Wille jedes¬ mal im Sinne des größten Lnsterfolges bestimme, so wird hier für tue Er¬ klärung der Willenshandlungeu eine zwar sehr einfache Schablone aufgestellt, deren allgemeine Anwendbarkeit jedoch kaum durch hinlänglich viele psycho¬ logische Analysen gesichert scheint. Doktrinäre Einseitigkeit ist es endlich auch, wenn man, wie es so oft geschieht, einerseits das System des Freihandels, ander¬ seits das des Protektionismus als das allein heilsame hinstellen will, denn es wird der Fehler gemacht, daß man eine Norm, die in gewissen Verhält- nissen vielleicht vollkommen zutrifft, deshalb ohne weiteres zu eiuer allgemcm- giltigen erheben will. Gewiß ist also der Begriff, das abstrakte Schema, die Hypothese em wichtiges und unentbehrliches'Werkzeug der Erkenntnis, um in der Manmch- faltigkeit der Thatsachen einen Zusammenhang herzustellen und dem Denken so einen Überblick über sie zu sichern. aber es darf dabei acht vergessen werden, daß der Begriff immer ein Flüssiges bleiben muß. niemals aber erhärten darf; die Grundlage haben immer die Thatsachen zu bilden, der Begriff ist nur die Form ihrer Ordnung in unserm Geiste. Beinahe umgekehrt verhält sich nun die Sache auf dem Gebiete der „prak¬ tischen" Vernunft. Alles vernünftige Handeln zielt darauf ab, neue That¬ sachen zu schaffen und durch diese eine Idee zu verwirklichen; hier ist also das Allgemeine, der Gedanke zuerst da, und das Besondre, die Thatsache, lard durch das Allgemeine bestimmt. Es ist ein Irrtum, wenn so oft gesagt uurd, daß aus der Erkenntnis der uus umgebenden Welt und ihrer Gesetze die Ideale des menschlichen Lebens, die Ziele, denen der Mensch zuzustreben hat. sich von selbst ergäben. Allerdings steht der Mensch nicht außer der Natur, er ist ein Kind, entsprungen aus ihrem Schoße, er ist ihren Einflüssen fort¬ dauernd ausgesetzt und bei dem Streben nach Verwirklichung seiner Ideale gebunden an die° Mittel, die sie ihm zu diesem Zwecke zur Verfügung stellt. Aber die Aufgaben seines Lebens kann und muß sich der Einzelne selbst stellen, und ebenso ist überhaupt das menschliche Kulturideal ein Selbstgeschaffenes, keinesfalls braucht es sich die Menschheit von außen aufdrängen zu lassen. Ganz überflttssigerweise hat man sich deshalb vom moralischen Standpunkte aus über die Lehre von der tierischen Abstammung des Menschen und über den Nachweis ereifert, daß das gesamte tierische Leben in einem rücksichtslosen Kampf ums Dasein aufgeht, worin die Grundsätze unsrer überlieferten Sitten- lehre nicht die mindeste Anerkennung finden. Erdballen denn diese Thatsachen irgend einen zwingenden Grund dafür, daß nun auch die Menschheit das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/75>, abgerufen am 24.07.2024.