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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Doktrinarismus

Etymologisch wäre der Doktrinarismus etwa zu erklären als die Neigung
zu einer Ein- und Unterordnung des Einzelnen in den Zusammenhang eines
allgemeinen Systems, wie sie eben bei der Anordnung eines gegebenen Stoffes
zu einem wissenschaftlichen Lehrgebäude (äovtrirm) stattfindet; zu einer fehler¬
haften Einseitigkeit könnte sich diese Neigung gestalten, wenn man dabei zu
wenig auf die besondre Beschaffenheit der Thatsachen, die Eigentümlichkeiten
des einzelnen Gegenstandes oder Falles Rücksicht nimmt, sondern vorwiegend
die Beziehungen des Einzelnen zum allgemeinen im Auge hat.

Wir befinden uns also hier einem tiefgreifenden Gegensatze gegenüber,
der insbesondre, wie die Logik zeigt, überall in der Bewegung unsers Denkens
zur Geltung und in den mannichfachsten Formen zur Darstellung kommt, dem
Gegensatze zwischen der abstrahirenden und der spezifizireudeu Thätigkeit
des Denkens. Durch Abstraktion suchen wir das Übereinstimmende im Ein¬
zelnen, bilden wir allgemeine Begriffe, gelangen wir von der Vielheit besondrer
Fälle zu dem allgemeinen, sie beherrschenden Gesetze; durch Spezifikation ermitteln
wir die Verschiedenheiten des anscheinend übereinstimmenden, scheiden wir die
Gattung in Unterarten, stellen wir die Einschränkungen fest, unter denen die
allgemeine Regel auf den einzelnen Fall Anwendung findet. Keine dieser beiden
Thätigkeiten kaun entbehrt werden, am allerwenigsten die verallgemeinernde.
Denn die Unterschiede der Dinge, die Vielförmigkeit der Thatsachen brauchen
uicht erst gesucht zu werde", sie sind das ursprünglich gegebene, und es ist
die erste und wichtigste Bethätigung der menschlichen Vernunft, daß sie Gleich¬
förmigkeit und Regel herausfindet, sowie sich auch das vernünftige Wesen in
seinem Handeln erst dadurch vom Tiere unterscheidet, daß es sein Verhalten
nach allgemeinen Regeln einrichtet und sich nicht von wechselnden Eindrücken
bestimmen läßt. Insofern ist die Vernunft ihrem ganzen Wesen nach doktrinär
iur allgemeinsten Sinne des Wortes, und zwar ebensowohl die "theoretische"
^'>e die "praktische" Vernunft; doch ist anderseits klar, daß dieser Richtung
"und gewisse Grenzen gesetzt sein werden, über die hinaus man in Einseitigkeit
und Irrtum gerät. Diese Grenzbestimmuug gestaltet sich nun aber sehr ver¬
schieden, je nachdem wir die Bethätigung des Denkens im Dienste der Wissen¬
schaft oder im Dienste des Lebens im Ange haben, und zwar so, daß wir
entgegen der gewöhnlichen Annahme dem praktischen Doktrinarismus im all¬
gemeinen mehr Recht und ein weiteres Bereich zugestehen müssen als dem
theoretischen.

Im wissenschaftlichen Denken giebt es zwei Methoden, die darauf abzielen,
das Besondere dem Allgemeinen unterzuordnen, die Induktion und die Deduk¬
tion. Die erstere steigt vom Besondern zum Allgemeinen auf, die letztere geht
den umgekehrte" Weg; auf Induktion beruht die Bildung aller Begriffe und
°le Auffindung der Gesetze, die Deduktion prüft die Nichtigkeit der erlangten
Verallgemeinerungen, indem sie von ihnen zum Vesoudern zurückgeht, und


Grenzboten II 1891 9
Doktrinarismus

Etymologisch wäre der Doktrinarismus etwa zu erklären als die Neigung
zu einer Ein- und Unterordnung des Einzelnen in den Zusammenhang eines
allgemeinen Systems, wie sie eben bei der Anordnung eines gegebenen Stoffes
zu einem wissenschaftlichen Lehrgebäude (äovtrirm) stattfindet; zu einer fehler¬
haften Einseitigkeit könnte sich diese Neigung gestalten, wenn man dabei zu
wenig auf die besondre Beschaffenheit der Thatsachen, die Eigentümlichkeiten
des einzelnen Gegenstandes oder Falles Rücksicht nimmt, sondern vorwiegend
die Beziehungen des Einzelnen zum allgemeinen im Auge hat.

Wir befinden uns also hier einem tiefgreifenden Gegensatze gegenüber,
der insbesondre, wie die Logik zeigt, überall in der Bewegung unsers Denkens
zur Geltung und in den mannichfachsten Formen zur Darstellung kommt, dem
Gegensatze zwischen der abstrahirenden und der spezifizireudeu Thätigkeit
des Denkens. Durch Abstraktion suchen wir das Übereinstimmende im Ein¬
zelnen, bilden wir allgemeine Begriffe, gelangen wir von der Vielheit besondrer
Fälle zu dem allgemeinen, sie beherrschenden Gesetze; durch Spezifikation ermitteln
wir die Verschiedenheiten des anscheinend übereinstimmenden, scheiden wir die
Gattung in Unterarten, stellen wir die Einschränkungen fest, unter denen die
allgemeine Regel auf den einzelnen Fall Anwendung findet. Keine dieser beiden
Thätigkeiten kaun entbehrt werden, am allerwenigsten die verallgemeinernde.
Denn die Unterschiede der Dinge, die Vielförmigkeit der Thatsachen brauchen
uicht erst gesucht zu werde», sie sind das ursprünglich gegebene, und es ist
die erste und wichtigste Bethätigung der menschlichen Vernunft, daß sie Gleich¬
förmigkeit und Regel herausfindet, sowie sich auch das vernünftige Wesen in
seinem Handeln erst dadurch vom Tiere unterscheidet, daß es sein Verhalten
nach allgemeinen Regeln einrichtet und sich nicht von wechselnden Eindrücken
bestimmen läßt. Insofern ist die Vernunft ihrem ganzen Wesen nach doktrinär
iur allgemeinsten Sinne des Wortes, und zwar ebensowohl die „theoretische"
^'>e die „praktische" Vernunft; doch ist anderseits klar, daß dieser Richtung
"und gewisse Grenzen gesetzt sein werden, über die hinaus man in Einseitigkeit
und Irrtum gerät. Diese Grenzbestimmuug gestaltet sich nun aber sehr ver¬
schieden, je nachdem wir die Bethätigung des Denkens im Dienste der Wissen¬
schaft oder im Dienste des Lebens im Ange haben, und zwar so, daß wir
entgegen der gewöhnlichen Annahme dem praktischen Doktrinarismus im all¬
gemeinen mehr Recht und ein weiteres Bereich zugestehen müssen als dem
theoretischen.

Im wissenschaftlichen Denken giebt es zwei Methoden, die darauf abzielen,
das Besondere dem Allgemeinen unterzuordnen, die Induktion und die Deduk¬
tion. Die erstere steigt vom Besondern zum Allgemeinen auf, die letztere geht
den umgekehrte» Weg; auf Induktion beruht die Bildung aller Begriffe und
°le Auffindung der Gesetze, die Deduktion prüft die Nichtigkeit der erlangten
Verallgemeinerungen, indem sie von ihnen zum Vesoudern zurückgeht, und


Grenzboten II 1891 9
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[0073] Doktrinarismus Etymologisch wäre der Doktrinarismus etwa zu erklären als die Neigung zu einer Ein- und Unterordnung des Einzelnen in den Zusammenhang eines allgemeinen Systems, wie sie eben bei der Anordnung eines gegebenen Stoffes zu einem wissenschaftlichen Lehrgebäude (äovtrirm) stattfindet; zu einer fehler¬ haften Einseitigkeit könnte sich diese Neigung gestalten, wenn man dabei zu wenig auf die besondre Beschaffenheit der Thatsachen, die Eigentümlichkeiten des einzelnen Gegenstandes oder Falles Rücksicht nimmt, sondern vorwiegend die Beziehungen des Einzelnen zum allgemeinen im Auge hat. Wir befinden uns also hier einem tiefgreifenden Gegensatze gegenüber, der insbesondre, wie die Logik zeigt, überall in der Bewegung unsers Denkens zur Geltung und in den mannichfachsten Formen zur Darstellung kommt, dem Gegensatze zwischen der abstrahirenden und der spezifizireudeu Thätigkeit des Denkens. Durch Abstraktion suchen wir das Übereinstimmende im Ein¬ zelnen, bilden wir allgemeine Begriffe, gelangen wir von der Vielheit besondrer Fälle zu dem allgemeinen, sie beherrschenden Gesetze; durch Spezifikation ermitteln wir die Verschiedenheiten des anscheinend übereinstimmenden, scheiden wir die Gattung in Unterarten, stellen wir die Einschränkungen fest, unter denen die allgemeine Regel auf den einzelnen Fall Anwendung findet. Keine dieser beiden Thätigkeiten kaun entbehrt werden, am allerwenigsten die verallgemeinernde. Denn die Unterschiede der Dinge, die Vielförmigkeit der Thatsachen brauchen uicht erst gesucht zu werde», sie sind das ursprünglich gegebene, und es ist die erste und wichtigste Bethätigung der menschlichen Vernunft, daß sie Gleich¬ förmigkeit und Regel herausfindet, sowie sich auch das vernünftige Wesen in seinem Handeln erst dadurch vom Tiere unterscheidet, daß es sein Verhalten nach allgemeinen Regeln einrichtet und sich nicht von wechselnden Eindrücken bestimmen läßt. Insofern ist die Vernunft ihrem ganzen Wesen nach doktrinär iur allgemeinsten Sinne des Wortes, und zwar ebensowohl die „theoretische" ^'>e die „praktische" Vernunft; doch ist anderseits klar, daß dieser Richtung "und gewisse Grenzen gesetzt sein werden, über die hinaus man in Einseitigkeit und Irrtum gerät. Diese Grenzbestimmuug gestaltet sich nun aber sehr ver¬ schieden, je nachdem wir die Bethätigung des Denkens im Dienste der Wissen¬ schaft oder im Dienste des Lebens im Ange haben, und zwar so, daß wir entgegen der gewöhnlichen Annahme dem praktischen Doktrinarismus im all¬ gemeinen mehr Recht und ein weiteres Bereich zugestehen müssen als dem theoretischen. Im wissenschaftlichen Denken giebt es zwei Methoden, die darauf abzielen, das Besondere dem Allgemeinen unterzuordnen, die Induktion und die Deduk¬ tion. Die erstere steigt vom Besondern zum Allgemeinen auf, die letztere geht den umgekehrte» Weg; auf Induktion beruht die Bildung aller Begriffe und °le Auffindung der Gesetze, die Deduktion prüft die Nichtigkeit der erlangten Verallgemeinerungen, indem sie von ihnen zum Vesoudern zurückgeht, und Grenzboten II 1891 9

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/73>, abgerufen am 04.07.2024.