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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Das Stenographieimivesen

lich die berechtigte Geringschätzung des stenographischen Wesens oder vielmehr
Unwesens. Den Behörden ist das zögernde Abwarten gegenüber dem steno¬
graphischen Ansturm nicht übel zu nehmen, denn die maßlose Übertreibung,
das dünkelhafte Großthun, die Schmähsucht und die Unfähigkeit in den steno¬
graphische!, Kreisen werden unwillkürlich auf die von ihnen vertretene Sache
übertragen. Hier können nur die Stenographen selbst Wandel schaffen, indem
sie diese Auswüchse mit scharfem Messer abschneiden und die Leitung ihrer
Vereinigungen künftig nur in berufene Hände legen.

Die deutsche Stenographie hat sich leider lange Zeit in absteigender Linie
entwickelt. Der erste, der ein deutsches System schuf (1678), C. A. Ramsay. war
ein gelehrter Arzt und Chemiker, aber sein Werk war verfrüht und blieb unbeachtet.
Selbst am Ende des vorigen Jahrhunderts war der Boden noch nicht genügend
für die Sache vorbereitet. Wäre er es gewesen, so hätte die deutsche Stenographie
achtungsvollere Aufnahme gefunden als später, denn es waren zwei hohe
geistliche Würdenträger, die Konsistorialräte Mosengeil in Meiningen und
Horstig in Bückeburg, die damals mit stenographischen Systemen hervortraten.
Von da an ist die Stenographie bei uns mehr und mehr ans den .Kreisen
der produktiven Männer der Feder in die der kopirenden hinabgesunken.
Gabelsberger hatte eine halbe seminaristische und gar keine akademische Bildung,
er verbrachte sein Leben als Snbalternbeamter in den Schreibstuben der Be¬
hörden und kniffelte und diftelte dabei so lange mit Versuchen herum, bis er
seine Nedezeichenkunst fertig hatte. Stolze hatte das Gymnasium zwar be¬
sucht, aber uicht durchlaufen, akademische Bildung war ihm außer dem ge¬
legentlichen Besuch vou Universitätsvorlesungen nicht zu teil geworden. Als
Registratur einer Versicherungsgesellschaft sann er über das Verhältnis von
Sprache und Schrift nach und fand schließlich leitende Gesichtspunkte, die er
beim Aufbau seiner Kurzschrift befolgte. Der dritte in dem Kleeblatt der
ältern deutschen Stenographieberühmtheiten, Arends, ist der einzige, der eine
abgeschlossene Gymnasial- und Universitütsbilduug aufzuweisen hatte. Ver¬
möge dieser Schulung und seiner Stellung als Schriftsteller wäre er wohl
der Mann gewesen, in der Stenographie Wissenschaft und Praxis glücklich
zu verbinden und die Wertschätzung der Stenographie in den gebildeter,!
Kreisen zu erhöhen. Er saßte aber sein Ziel, lediglich eine kürzere Schrift zu
bilden, nicht scharf ins Auge, vermengte in unklarer Romantik die Steno¬
graphie mit dem Gedanken an ein Schriftideal und konnte deshalb weder für
den einen noch für den andern Zweck etwas Förderliches leisten. Durch seine
volksfreuudliche Schwärmerei ließ er sich verleiten, die Stenographie nicht in
die Kreise der Gebildeten, sondern unter die Handwerker und Arbeiter zu
tragen. Aus den Nachfolgern genügt es, zwei herauszugreifen: Roller -- einen
ehemaligen Tischlergesellen, und Lehmann -- einen Leistenschneider. Wenn
etwas verwunderlich ist, so ist es der Umstand, daß trotz solcher "Meister"


Das Stenographieimivesen

lich die berechtigte Geringschätzung des stenographischen Wesens oder vielmehr
Unwesens. Den Behörden ist das zögernde Abwarten gegenüber dem steno¬
graphischen Ansturm nicht übel zu nehmen, denn die maßlose Übertreibung,
das dünkelhafte Großthun, die Schmähsucht und die Unfähigkeit in den steno¬
graphische!, Kreisen werden unwillkürlich auf die von ihnen vertretene Sache
übertragen. Hier können nur die Stenographen selbst Wandel schaffen, indem
sie diese Auswüchse mit scharfem Messer abschneiden und die Leitung ihrer
Vereinigungen künftig nur in berufene Hände legen.

Die deutsche Stenographie hat sich leider lange Zeit in absteigender Linie
entwickelt. Der erste, der ein deutsches System schuf (1678), C. A. Ramsay. war
ein gelehrter Arzt und Chemiker, aber sein Werk war verfrüht und blieb unbeachtet.
Selbst am Ende des vorigen Jahrhunderts war der Boden noch nicht genügend
für die Sache vorbereitet. Wäre er es gewesen, so hätte die deutsche Stenographie
achtungsvollere Aufnahme gefunden als später, denn es waren zwei hohe
geistliche Würdenträger, die Konsistorialräte Mosengeil in Meiningen und
Horstig in Bückeburg, die damals mit stenographischen Systemen hervortraten.
Von da an ist die Stenographie bei uns mehr und mehr ans den .Kreisen
der produktiven Männer der Feder in die der kopirenden hinabgesunken.
Gabelsberger hatte eine halbe seminaristische und gar keine akademische Bildung,
er verbrachte sein Leben als Snbalternbeamter in den Schreibstuben der Be¬
hörden und kniffelte und diftelte dabei so lange mit Versuchen herum, bis er
seine Nedezeichenkunst fertig hatte. Stolze hatte das Gymnasium zwar be¬
sucht, aber uicht durchlaufen, akademische Bildung war ihm außer dem ge¬
legentlichen Besuch vou Universitätsvorlesungen nicht zu teil geworden. Als
Registratur einer Versicherungsgesellschaft sann er über das Verhältnis von
Sprache und Schrift nach und fand schließlich leitende Gesichtspunkte, die er
beim Aufbau seiner Kurzschrift befolgte. Der dritte in dem Kleeblatt der
ältern deutschen Stenographieberühmtheiten, Arends, ist der einzige, der eine
abgeschlossene Gymnasial- und Universitütsbilduug aufzuweisen hatte. Ver¬
möge dieser Schulung und seiner Stellung als Schriftsteller wäre er wohl
der Mann gewesen, in der Stenographie Wissenschaft und Praxis glücklich
zu verbinden und die Wertschätzung der Stenographie in den gebildeter,!
Kreisen zu erhöhen. Er saßte aber sein Ziel, lediglich eine kürzere Schrift zu
bilden, nicht scharf ins Auge, vermengte in unklarer Romantik die Steno¬
graphie mit dem Gedanken an ein Schriftideal und konnte deshalb weder für
den einen noch für den andern Zweck etwas Förderliches leisten. Durch seine
volksfreuudliche Schwärmerei ließ er sich verleiten, die Stenographie nicht in
die Kreise der Gebildeten, sondern unter die Handwerker und Arbeiter zu
tragen. Aus den Nachfolgern genügt es, zwei herauszugreifen: Roller — einen
ehemaligen Tischlergesellen, und Lehmann — einen Leistenschneider. Wenn
etwas verwunderlich ist, so ist es der Umstand, daß trotz solcher „Meister"


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[0622] Das Stenographieimivesen lich die berechtigte Geringschätzung des stenographischen Wesens oder vielmehr Unwesens. Den Behörden ist das zögernde Abwarten gegenüber dem steno¬ graphischen Ansturm nicht übel zu nehmen, denn die maßlose Übertreibung, das dünkelhafte Großthun, die Schmähsucht und die Unfähigkeit in den steno¬ graphische!, Kreisen werden unwillkürlich auf die von ihnen vertretene Sache übertragen. Hier können nur die Stenographen selbst Wandel schaffen, indem sie diese Auswüchse mit scharfem Messer abschneiden und die Leitung ihrer Vereinigungen künftig nur in berufene Hände legen. Die deutsche Stenographie hat sich leider lange Zeit in absteigender Linie entwickelt. Der erste, der ein deutsches System schuf (1678), C. A. Ramsay. war ein gelehrter Arzt und Chemiker, aber sein Werk war verfrüht und blieb unbeachtet. Selbst am Ende des vorigen Jahrhunderts war der Boden noch nicht genügend für die Sache vorbereitet. Wäre er es gewesen, so hätte die deutsche Stenographie achtungsvollere Aufnahme gefunden als später, denn es waren zwei hohe geistliche Würdenträger, die Konsistorialräte Mosengeil in Meiningen und Horstig in Bückeburg, die damals mit stenographischen Systemen hervortraten. Von da an ist die Stenographie bei uns mehr und mehr ans den .Kreisen der produktiven Männer der Feder in die der kopirenden hinabgesunken. Gabelsberger hatte eine halbe seminaristische und gar keine akademische Bildung, er verbrachte sein Leben als Snbalternbeamter in den Schreibstuben der Be¬ hörden und kniffelte und diftelte dabei so lange mit Versuchen herum, bis er seine Nedezeichenkunst fertig hatte. Stolze hatte das Gymnasium zwar be¬ sucht, aber uicht durchlaufen, akademische Bildung war ihm außer dem ge¬ legentlichen Besuch vou Universitätsvorlesungen nicht zu teil geworden. Als Registratur einer Versicherungsgesellschaft sann er über das Verhältnis von Sprache und Schrift nach und fand schließlich leitende Gesichtspunkte, die er beim Aufbau seiner Kurzschrift befolgte. Der dritte in dem Kleeblatt der ältern deutschen Stenographieberühmtheiten, Arends, ist der einzige, der eine abgeschlossene Gymnasial- und Universitütsbilduug aufzuweisen hatte. Ver¬ möge dieser Schulung und seiner Stellung als Schriftsteller wäre er wohl der Mann gewesen, in der Stenographie Wissenschaft und Praxis glücklich zu verbinden und die Wertschätzung der Stenographie in den gebildeter,! Kreisen zu erhöhen. Er saßte aber sein Ziel, lediglich eine kürzere Schrift zu bilden, nicht scharf ins Auge, vermengte in unklarer Romantik die Steno¬ graphie mit dem Gedanken an ein Schriftideal und konnte deshalb weder für den einen noch für den andern Zweck etwas Förderliches leisten. Durch seine volksfreuudliche Schwärmerei ließ er sich verleiten, die Stenographie nicht in die Kreise der Gebildeten, sondern unter die Handwerker und Arbeiter zu tragen. Aus den Nachfolgern genügt es, zwei herauszugreifen: Roller — einen ehemaligen Tischlergesellen, und Lehmann — einen Leistenschneider. Wenn etwas verwunderlich ist, so ist es der Umstand, daß trotz solcher „Meister"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/622>, abgerufen am 24.07.2024.