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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Zum dunkeln Kapitel der Kulturgeschichte

Opfer durchs Erhalten seiner Gesundheit und frischen Lebenskraft wie seines
höchsten Gutes, eines reinen und ruhigen Gewissens, entschädigt finden wird.
Bei einem englischen Arzte heißt es: Es kann gar nicht eindringlich genug
gepredigt werden, daß die strengste Enthaltsamkeit und Reinheit gleich über¬
einstimmend sind mit physiologischen wie mit sittlichen Gesetzen, und daß die
Nachgiebigkeit gegen Wünsche, Begierden und Leidenschaften ebensowenig mit
physiologischen und physischen wie mit moralischen und religiösen Gründen
gerechtfertigt werden kann.

Um den leichtsinnigen, sittenlosen Geschlechtsverkehr zu entschuldigen oder
gar zu rechtfertigen, haben erfinderische Geister sogar Krankheiten ersonnen,
die jeden Enthaltsamen befallen sollen; man bezeichnet sie mit dem Namen
"Enthaltsamkeitsstörungen," sie sollen im Geschlechtsleben das sein, was
in der Ernährungsfrage der Hungertyphus ist. Ribbing wendet sich mit
aller Entschiedenheit gegen diese Annahme und verurteilt jeden Arzt, der
irgendwelche Störungen im Organismus als Folge" der Enthaltsamkeit be¬
zeichnet und dadurch gleichsam eine verlockende Gesuudheitsprümie auf Aus¬
schreitung und Unzucht setzt. Es ist in der That ein trauriges Zeichen für
die mangelhafte hygienische Bildung unsrer Zeit, daß man selbst gewisse Krank¬
heiten älterer Jungfrauen, z. V. die Hysterie, auf den unbefriedigten Geschlechts¬
trieb zurückführt. Denn hier sind die Ursachen der krankhaften Erscheinungen
niemals physischer, sondern stets moralischer oder psychischer Art; was so viele
Frauen unsrer Zeit hysterisch macht, das ist nicht die Unthätigkeit ihrer Fort¬
pflanzungsorgane, sondern vielmehr der Maugel eines wirklichen Lebenszieles,
die fortwährende Beschäftigung mit dem eignen Ich, mit Nichtigkeiten, Träu¬
mereien und Geist und Seele leer lassenden Dingen. Die unverheirateten
Frauen, die im Leben zu ringen, die selbst den Kampf ums Dasein aufzunehmen
haben, sind der Hysterie nicht mehr ausgesetzt als Ehefrauen. Es ist ein
großes Verdienst Ribbings, auf diese gefährlichen Irrtümer hingewiesen und
der Charakterschwäche und dem Laster die Larve hygienischer Rechtfertigung
abgerissen zu haben.

Nur in den Zeiten, wo sich der Menschheit eine krankhafte Nervosität
bemächtigt hat, finden wir wie heutzutage unter der männlichen Jugend einen
so auffallenden Maugel an aller Selbstbeherrschung und eine völlige Gleich-
giltigkeit gegen den Vorwurf geschlechtlicher Vergehungen. Krafft-Ebing hat
durchaus Recht, wenn er meint, daß die überhandnehmende Nervosität unsrer
Zeit überall neuropathisch belastete Wesen zündte, den Geschlechtstrieb gerade
in den schwächlichsten Menschen unnatürlich steigere, zum Mißbrauch antreibe
und bei fortbestehender Lüsternheit, aber verminderter Potenz zu den sogenannten
perversen Akten führe. . .

Mit der durch Schule und Gesellschaft künstlich erzeugten Nervosität hängt
aufs engste zusammen die überall in erschreckender Weise überhandnehmende


Zum dunkeln Kapitel der Kulturgeschichte

Opfer durchs Erhalten seiner Gesundheit und frischen Lebenskraft wie seines
höchsten Gutes, eines reinen und ruhigen Gewissens, entschädigt finden wird.
Bei einem englischen Arzte heißt es: Es kann gar nicht eindringlich genug
gepredigt werden, daß die strengste Enthaltsamkeit und Reinheit gleich über¬
einstimmend sind mit physiologischen wie mit sittlichen Gesetzen, und daß die
Nachgiebigkeit gegen Wünsche, Begierden und Leidenschaften ebensowenig mit
physiologischen und physischen wie mit moralischen und religiösen Gründen
gerechtfertigt werden kann.

Um den leichtsinnigen, sittenlosen Geschlechtsverkehr zu entschuldigen oder
gar zu rechtfertigen, haben erfinderische Geister sogar Krankheiten ersonnen,
die jeden Enthaltsamen befallen sollen; man bezeichnet sie mit dem Namen
„Enthaltsamkeitsstörungen," sie sollen im Geschlechtsleben das sein, was
in der Ernährungsfrage der Hungertyphus ist. Ribbing wendet sich mit
aller Entschiedenheit gegen diese Annahme und verurteilt jeden Arzt, der
irgendwelche Störungen im Organismus als Folge» der Enthaltsamkeit be¬
zeichnet und dadurch gleichsam eine verlockende Gesuudheitsprümie auf Aus¬
schreitung und Unzucht setzt. Es ist in der That ein trauriges Zeichen für
die mangelhafte hygienische Bildung unsrer Zeit, daß man selbst gewisse Krank¬
heiten älterer Jungfrauen, z. V. die Hysterie, auf den unbefriedigten Geschlechts¬
trieb zurückführt. Denn hier sind die Ursachen der krankhaften Erscheinungen
niemals physischer, sondern stets moralischer oder psychischer Art; was so viele
Frauen unsrer Zeit hysterisch macht, das ist nicht die Unthätigkeit ihrer Fort¬
pflanzungsorgane, sondern vielmehr der Maugel eines wirklichen Lebenszieles,
die fortwährende Beschäftigung mit dem eignen Ich, mit Nichtigkeiten, Träu¬
mereien und Geist und Seele leer lassenden Dingen. Die unverheirateten
Frauen, die im Leben zu ringen, die selbst den Kampf ums Dasein aufzunehmen
haben, sind der Hysterie nicht mehr ausgesetzt als Ehefrauen. Es ist ein
großes Verdienst Ribbings, auf diese gefährlichen Irrtümer hingewiesen und
der Charakterschwäche und dem Laster die Larve hygienischer Rechtfertigung
abgerissen zu haben.

Nur in den Zeiten, wo sich der Menschheit eine krankhafte Nervosität
bemächtigt hat, finden wir wie heutzutage unter der männlichen Jugend einen
so auffallenden Maugel an aller Selbstbeherrschung und eine völlige Gleich-
giltigkeit gegen den Vorwurf geschlechtlicher Vergehungen. Krafft-Ebing hat
durchaus Recht, wenn er meint, daß die überhandnehmende Nervosität unsrer
Zeit überall neuropathisch belastete Wesen zündte, den Geschlechtstrieb gerade
in den schwächlichsten Menschen unnatürlich steigere, zum Mißbrauch antreibe
und bei fortbestehender Lüsternheit, aber verminderter Potenz zu den sogenannten
perversen Akten führe. . .

Mit der durch Schule und Gesellschaft künstlich erzeugten Nervosität hängt
aufs engste zusammen die überall in erschreckender Weise überhandnehmende


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[0619] Zum dunkeln Kapitel der Kulturgeschichte Opfer durchs Erhalten seiner Gesundheit und frischen Lebenskraft wie seines höchsten Gutes, eines reinen und ruhigen Gewissens, entschädigt finden wird. Bei einem englischen Arzte heißt es: Es kann gar nicht eindringlich genug gepredigt werden, daß die strengste Enthaltsamkeit und Reinheit gleich über¬ einstimmend sind mit physiologischen wie mit sittlichen Gesetzen, und daß die Nachgiebigkeit gegen Wünsche, Begierden und Leidenschaften ebensowenig mit physiologischen und physischen wie mit moralischen und religiösen Gründen gerechtfertigt werden kann. Um den leichtsinnigen, sittenlosen Geschlechtsverkehr zu entschuldigen oder gar zu rechtfertigen, haben erfinderische Geister sogar Krankheiten ersonnen, die jeden Enthaltsamen befallen sollen; man bezeichnet sie mit dem Namen „Enthaltsamkeitsstörungen," sie sollen im Geschlechtsleben das sein, was in der Ernährungsfrage der Hungertyphus ist. Ribbing wendet sich mit aller Entschiedenheit gegen diese Annahme und verurteilt jeden Arzt, der irgendwelche Störungen im Organismus als Folge» der Enthaltsamkeit be¬ zeichnet und dadurch gleichsam eine verlockende Gesuudheitsprümie auf Aus¬ schreitung und Unzucht setzt. Es ist in der That ein trauriges Zeichen für die mangelhafte hygienische Bildung unsrer Zeit, daß man selbst gewisse Krank¬ heiten älterer Jungfrauen, z. V. die Hysterie, auf den unbefriedigten Geschlechts¬ trieb zurückführt. Denn hier sind die Ursachen der krankhaften Erscheinungen niemals physischer, sondern stets moralischer oder psychischer Art; was so viele Frauen unsrer Zeit hysterisch macht, das ist nicht die Unthätigkeit ihrer Fort¬ pflanzungsorgane, sondern vielmehr der Maugel eines wirklichen Lebenszieles, die fortwährende Beschäftigung mit dem eignen Ich, mit Nichtigkeiten, Träu¬ mereien und Geist und Seele leer lassenden Dingen. Die unverheirateten Frauen, die im Leben zu ringen, die selbst den Kampf ums Dasein aufzunehmen haben, sind der Hysterie nicht mehr ausgesetzt als Ehefrauen. Es ist ein großes Verdienst Ribbings, auf diese gefährlichen Irrtümer hingewiesen und der Charakterschwäche und dem Laster die Larve hygienischer Rechtfertigung abgerissen zu haben. Nur in den Zeiten, wo sich der Menschheit eine krankhafte Nervosität bemächtigt hat, finden wir wie heutzutage unter der männlichen Jugend einen so auffallenden Maugel an aller Selbstbeherrschung und eine völlige Gleich- giltigkeit gegen den Vorwurf geschlechtlicher Vergehungen. Krafft-Ebing hat durchaus Recht, wenn er meint, daß die überhandnehmende Nervosität unsrer Zeit überall neuropathisch belastete Wesen zündte, den Geschlechtstrieb gerade in den schwächlichsten Menschen unnatürlich steigere, zum Mißbrauch antreibe und bei fortbestehender Lüsternheit, aber verminderter Potenz zu den sogenannten perversen Akten führe. . . Mit der durch Schule und Gesellschaft künstlich erzeugten Nervosität hängt aufs engste zusammen die überall in erschreckender Weise überhandnehmende

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/619>, abgerufen am 04.07.2024.