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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Geschichtsphilosoxhische Gedanken

die ewige Unruhe aller Dinge eine sich selbst stets gleichbleibende Anordnung
unmöglich macheu. Das Gesetz aber sehen wir gerade immer auf einunddasselbe
sich hinrichten. Es gleicht einem eigensinnigen und rohen Menschen, der nichts
gegen seine Anordnung geschehen, noch anch sich von jemandem befragen laßt,
wenn einem dieses oder jenes besser vorkommt als die von jenem getroffene
Anordnung. Es ist also unmöglich, daß das immer sich selbst gleiche jemals
gut sei für das, was sich niemals gleich bleibt." Unser Ideal wäre: für das
besondre eine weitgehende Selbstverwaltung der Gemeinden, Körperschaften und
Provinzen, für das wirklich allgemeine aber, und zwar nur für dieses, eine
wirklich monarchische Regierung und Gesetzgebung, gestützt auf die Berichte
und Gutachten wirklich frei gewählter und in ihrer Gesamtheit wirklich das
ganze Volk, weil sämtliche Bestandteile des Volkes vertretender Abgeordneten.
Eben darum regt sich in vielen die Sehnsucht nach diesem Ideal, weil unsre
Zeit weiter von ihm entfernt ist, als irgend eine frühere; sind doch die alten
guten Regeln: Os minimis mein erir^t I^rg.star und I^sin brLvvin oss" oxortvt,
so ziemlich in ihr Gegenteil verkehrt worden.

Der Grundsatz: (jnisw mein ruoverv, gegen deu moderne Gesetzmachesucht
täglich verstößt, bildet in der That, wie Bismarck vor kurzem ausgesprochen
hat, den Kern einer echt konservativen Politik. Aber in ihm liegt zugleich
auch das Wesen des Liberalismus; denn worin anders sollte dieses bestehen,
als daß man nirgends ohne Not mit gesetzlichem Zwange eingreift und jeden
nach seiner Fa<)vn schalten, walten und selig werdeu läßt, so lauge diese Fayou
das Gemeinwohl nicht schädigt? Die Weltgeschichte hat kaum einen zweiten
so schlimmen Mißbrauch der Sprache auszuweisen, als daß die Wörter kon¬
servativ und liberal zur Bezeichnung entgegengesetzter Parteien gestempelt
worden sind.

Damit wären wir zu unserm eigentlichen Gegenstande zurückgekehrt. Alle
unsre Parteien streben das zu werden, was die ständischen Vertretungen von
Hause aus sind, nämlich Vertretungen von Interessengruppen. Die meisten
Politiker von Fach beklagen nun allerdings dieses Streben als ein Unglück,
und wenn die Parteien auch vollends dem Namen nach würden, was sie
ihrem Wesen nach größtenteils schon sind, so würde weithin über den Unter¬
gang des Idealismus gejammert werden. Aber Idealismus ist es doch wahr¬
lich nicht, wenn die Leute, die entweder hohe oder niedrige Getreidepreise
haben wollen, ihre Absicht durch die Berufung auf konservative oder liberale
Prinzipien verdecken, von denen niemand genau anzugeben weiß, worin sie
eigentlich bestehen. Echter Idealismus ist es, wenn jeder Stand sich selbst
durch eigne Anstrengung zu heben bemüht und dabei die Opfer zu bringen
bereit ist, die das Gemeinwohl von ihm fordert. Um aber diese beiden Auf¬
gaben erfüllen zu können, müssen alle Stände organisirt sein, denn nur dann
vermögen sie durch ihre Vertreter die ihnen zukommenden Leistungen gegen


Geschichtsphilosoxhische Gedanken

die ewige Unruhe aller Dinge eine sich selbst stets gleichbleibende Anordnung
unmöglich macheu. Das Gesetz aber sehen wir gerade immer auf einunddasselbe
sich hinrichten. Es gleicht einem eigensinnigen und rohen Menschen, der nichts
gegen seine Anordnung geschehen, noch anch sich von jemandem befragen laßt,
wenn einem dieses oder jenes besser vorkommt als die von jenem getroffene
Anordnung. Es ist also unmöglich, daß das immer sich selbst gleiche jemals
gut sei für das, was sich niemals gleich bleibt." Unser Ideal wäre: für das
besondre eine weitgehende Selbstverwaltung der Gemeinden, Körperschaften und
Provinzen, für das wirklich allgemeine aber, und zwar nur für dieses, eine
wirklich monarchische Regierung und Gesetzgebung, gestützt auf die Berichte
und Gutachten wirklich frei gewählter und in ihrer Gesamtheit wirklich das
ganze Volk, weil sämtliche Bestandteile des Volkes vertretender Abgeordneten.
Eben darum regt sich in vielen die Sehnsucht nach diesem Ideal, weil unsre
Zeit weiter von ihm entfernt ist, als irgend eine frühere; sind doch die alten
guten Regeln: Os minimis mein erir^t I^rg.star und I^sin brLvvin oss« oxortvt,
so ziemlich in ihr Gegenteil verkehrt worden.

Der Grundsatz: (jnisw mein ruoverv, gegen deu moderne Gesetzmachesucht
täglich verstößt, bildet in der That, wie Bismarck vor kurzem ausgesprochen
hat, den Kern einer echt konservativen Politik. Aber in ihm liegt zugleich
auch das Wesen des Liberalismus; denn worin anders sollte dieses bestehen,
als daß man nirgends ohne Not mit gesetzlichem Zwange eingreift und jeden
nach seiner Fa<)vn schalten, walten und selig werdeu läßt, so lauge diese Fayou
das Gemeinwohl nicht schädigt? Die Weltgeschichte hat kaum einen zweiten
so schlimmen Mißbrauch der Sprache auszuweisen, als daß die Wörter kon¬
servativ und liberal zur Bezeichnung entgegengesetzter Parteien gestempelt
worden sind.

Damit wären wir zu unserm eigentlichen Gegenstande zurückgekehrt. Alle
unsre Parteien streben das zu werden, was die ständischen Vertretungen von
Hause aus sind, nämlich Vertretungen von Interessengruppen. Die meisten
Politiker von Fach beklagen nun allerdings dieses Streben als ein Unglück,
und wenn die Parteien auch vollends dem Namen nach würden, was sie
ihrem Wesen nach größtenteils schon sind, so würde weithin über den Unter¬
gang des Idealismus gejammert werden. Aber Idealismus ist es doch wahr¬
lich nicht, wenn die Leute, die entweder hohe oder niedrige Getreidepreise
haben wollen, ihre Absicht durch die Berufung auf konservative oder liberale
Prinzipien verdecken, von denen niemand genau anzugeben weiß, worin sie
eigentlich bestehen. Echter Idealismus ist es, wenn jeder Stand sich selbst
durch eigne Anstrengung zu heben bemüht und dabei die Opfer zu bringen
bereit ist, die das Gemeinwohl von ihm fordert. Um aber diese beiden Auf¬
gaben erfüllen zu können, müssen alle Stände organisirt sein, denn nur dann
vermögen sie durch ihre Vertreter die ihnen zukommenden Leistungen gegen


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[0566] Geschichtsphilosoxhische Gedanken die ewige Unruhe aller Dinge eine sich selbst stets gleichbleibende Anordnung unmöglich macheu. Das Gesetz aber sehen wir gerade immer auf einunddasselbe sich hinrichten. Es gleicht einem eigensinnigen und rohen Menschen, der nichts gegen seine Anordnung geschehen, noch anch sich von jemandem befragen laßt, wenn einem dieses oder jenes besser vorkommt als die von jenem getroffene Anordnung. Es ist also unmöglich, daß das immer sich selbst gleiche jemals gut sei für das, was sich niemals gleich bleibt." Unser Ideal wäre: für das besondre eine weitgehende Selbstverwaltung der Gemeinden, Körperschaften und Provinzen, für das wirklich allgemeine aber, und zwar nur für dieses, eine wirklich monarchische Regierung und Gesetzgebung, gestützt auf die Berichte und Gutachten wirklich frei gewählter und in ihrer Gesamtheit wirklich das ganze Volk, weil sämtliche Bestandteile des Volkes vertretender Abgeordneten. Eben darum regt sich in vielen die Sehnsucht nach diesem Ideal, weil unsre Zeit weiter von ihm entfernt ist, als irgend eine frühere; sind doch die alten guten Regeln: Os minimis mein erir^t I^rg.star und I^sin brLvvin oss« oxortvt, so ziemlich in ihr Gegenteil verkehrt worden. Der Grundsatz: (jnisw mein ruoverv, gegen deu moderne Gesetzmachesucht täglich verstößt, bildet in der That, wie Bismarck vor kurzem ausgesprochen hat, den Kern einer echt konservativen Politik. Aber in ihm liegt zugleich auch das Wesen des Liberalismus; denn worin anders sollte dieses bestehen, als daß man nirgends ohne Not mit gesetzlichem Zwange eingreift und jeden nach seiner Fa<)vn schalten, walten und selig werdeu läßt, so lauge diese Fayou das Gemeinwohl nicht schädigt? Die Weltgeschichte hat kaum einen zweiten so schlimmen Mißbrauch der Sprache auszuweisen, als daß die Wörter kon¬ servativ und liberal zur Bezeichnung entgegengesetzter Parteien gestempelt worden sind. Damit wären wir zu unserm eigentlichen Gegenstande zurückgekehrt. Alle unsre Parteien streben das zu werden, was die ständischen Vertretungen von Hause aus sind, nämlich Vertretungen von Interessengruppen. Die meisten Politiker von Fach beklagen nun allerdings dieses Streben als ein Unglück, und wenn die Parteien auch vollends dem Namen nach würden, was sie ihrem Wesen nach größtenteils schon sind, so würde weithin über den Unter¬ gang des Idealismus gejammert werden. Aber Idealismus ist es doch wahr¬ lich nicht, wenn die Leute, die entweder hohe oder niedrige Getreidepreise haben wollen, ihre Absicht durch die Berufung auf konservative oder liberale Prinzipien verdecken, von denen niemand genau anzugeben weiß, worin sie eigentlich bestehen. Echter Idealismus ist es, wenn jeder Stand sich selbst durch eigne Anstrengung zu heben bemüht und dabei die Opfer zu bringen bereit ist, die das Gemeinwohl von ihm fordert. Um aber diese beiden Auf¬ gaben erfüllen zu können, müssen alle Stände organisirt sein, denn nur dann vermögen sie durch ihre Vertreter die ihnen zukommenden Leistungen gegen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/566>, abgerufen am 04.07.2024.