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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Geschichtsphilosophische Gedanken

struirt werden, und in den parlamentarisch eingerichteten Staaten kommt es
den Regierungen gar nicht mehr darauf an, die Willeusmeinnngen und Zu¬
stände des Volkes zu erfahren, sondern nur noch darauf, eine Anzahl von
Männern zusammenzubringen, die den im Amte befindlichen Ministern gestattet,
ihre Portefeuilles zu behalten. Aber mich in jenen Staaten, die sich noch
eines wirklichen Monarchen erfreuen, und wo der Fortbestand der Regierung
nicht von der Gnade des Parlaments abhängt, glauben die Minister gewöhn¬
lich eine sogenannte feste oder sichere Regierungsmehrheit nicht entbehren zu
können, weil sie ein bestimmtes Programm für die Gesetzgebung im Kopfe
haben, das ohne die Mitwirkung der Volksvertreter nicht durchgeführt werden
kann. Dazu kommt, daß die Berichterstattung über die Zustände des Landes,
die eine Hauptpflicht der Volksvertretung wäre, gar nicht in die Tagesordnung
aufgenommen ist und nur zufällig und gelegentlich in der Debatte über ver-
schiedne Gesetzvorlagen erledigt wird. Und wenn bei solcher gelegentlichen
Berichterstattung Notstände aufgedeckt werden, so nehmen das die Minister
sehr übel. Als ob sie für alle Zustände in einem großen Lande verantwort¬
lich wären und in der Aufdeckung eines Nbelstaudes el" Vorwarf für sie läge!
Als ob eine solche Verantwortung überhaupt möglich wäre! Die Verantwor-
tung fäugt erst an, wenn entweder nachgewiesen wird, daß der Übelstand aus
einer Anordnung der Regierung entspringt, oder daß die Regierung die Mittel
hat, ihm abzuhelfen, und es nicht thntz für gewöhnlich ist keines von beiden
der Fall.

Sollten die Volksvertretungen ihren Zweck erfüllen, so müßten sie stän¬
disch gegliedert und müßte ihre Thätigkeit in andrer Weise geordnet werden.
Denken wir uns die Wahlkreise vergrößert, womöglich nach Wirtschaftsgebieten
abgegrenzt. Jeder Wahlkreis Hütte nicht einen Vertreter zu schicken, sondern
so viele, als Stände vorhanden sind (Großgrundbesitzer, Bauern, Kaufleute,
Handwerker, Fabrikanten, Hausindustrielle, Fabrikarbeiter, ländliche Tagelöhner;
die Vertretung der Beamten würde ein zweifelhafter Punkt sein). Jeder Ab¬
geordnete müßte dem Stande angehören, den er vertritt, und in seinem Wahl¬
kreise wohnen. Die Obliegenheiten der Versammlung würden sein: Vewillignng
der Einnahmen (die Hauptfunktiou aller alten Ständeversammlungen, die darin
allerdings eine zu große Macht besaßen, indem sie durch gänzliche Verweige¬
rung aller Leistungen die Staatsregierung lahm zu legen vermochten), die
Prüfung der Ausgaben, die Erstattung eines genauen Berichts über die Zu¬
stände und Wünsche der von ihnen Vertretenen, das Vorschlagen von Gesetzen
und die Zustimmung zu den von der Regierung mit Hilfe von Sachverständigen¬
kommissionen ausgearbeiteten Gesetzen. Selbst wenn das zuletzt angeführte
Recht der Volksvertretung zum Recht bloßer Begutachtung zusammenschrumpfte,
würden solche Volksvertretungen dem Volke immer noch größere Dienste leisten
als die jetzigen. Denn da ein wie immer geartetes Gutachten niemals deu


Geschichtsphilosophische Gedanken

struirt werden, und in den parlamentarisch eingerichteten Staaten kommt es
den Regierungen gar nicht mehr darauf an, die Willeusmeinnngen und Zu¬
stände des Volkes zu erfahren, sondern nur noch darauf, eine Anzahl von
Männern zusammenzubringen, die den im Amte befindlichen Ministern gestattet,
ihre Portefeuilles zu behalten. Aber mich in jenen Staaten, die sich noch
eines wirklichen Monarchen erfreuen, und wo der Fortbestand der Regierung
nicht von der Gnade des Parlaments abhängt, glauben die Minister gewöhn¬
lich eine sogenannte feste oder sichere Regierungsmehrheit nicht entbehren zu
können, weil sie ein bestimmtes Programm für die Gesetzgebung im Kopfe
haben, das ohne die Mitwirkung der Volksvertreter nicht durchgeführt werden
kann. Dazu kommt, daß die Berichterstattung über die Zustände des Landes,
die eine Hauptpflicht der Volksvertretung wäre, gar nicht in die Tagesordnung
aufgenommen ist und nur zufällig und gelegentlich in der Debatte über ver-
schiedne Gesetzvorlagen erledigt wird. Und wenn bei solcher gelegentlichen
Berichterstattung Notstände aufgedeckt werden, so nehmen das die Minister
sehr übel. Als ob sie für alle Zustände in einem großen Lande verantwort¬
lich wären und in der Aufdeckung eines Nbelstaudes el» Vorwarf für sie läge!
Als ob eine solche Verantwortung überhaupt möglich wäre! Die Verantwor-
tung fäugt erst an, wenn entweder nachgewiesen wird, daß der Übelstand aus
einer Anordnung der Regierung entspringt, oder daß die Regierung die Mittel
hat, ihm abzuhelfen, und es nicht thntz für gewöhnlich ist keines von beiden
der Fall.

Sollten die Volksvertretungen ihren Zweck erfüllen, so müßten sie stän¬
disch gegliedert und müßte ihre Thätigkeit in andrer Weise geordnet werden.
Denken wir uns die Wahlkreise vergrößert, womöglich nach Wirtschaftsgebieten
abgegrenzt. Jeder Wahlkreis Hütte nicht einen Vertreter zu schicken, sondern
so viele, als Stände vorhanden sind (Großgrundbesitzer, Bauern, Kaufleute,
Handwerker, Fabrikanten, Hausindustrielle, Fabrikarbeiter, ländliche Tagelöhner;
die Vertretung der Beamten würde ein zweifelhafter Punkt sein). Jeder Ab¬
geordnete müßte dem Stande angehören, den er vertritt, und in seinem Wahl¬
kreise wohnen. Die Obliegenheiten der Versammlung würden sein: Vewillignng
der Einnahmen (die Hauptfunktiou aller alten Ständeversammlungen, die darin
allerdings eine zu große Macht besaßen, indem sie durch gänzliche Verweige¬
rung aller Leistungen die Staatsregierung lahm zu legen vermochten), die
Prüfung der Ausgaben, die Erstattung eines genauen Berichts über die Zu¬
stände und Wünsche der von ihnen Vertretenen, das Vorschlagen von Gesetzen
und die Zustimmung zu den von der Regierung mit Hilfe von Sachverständigen¬
kommissionen ausgearbeiteten Gesetzen. Selbst wenn das zuletzt angeführte
Recht der Volksvertretung zum Recht bloßer Begutachtung zusammenschrumpfte,
würden solche Volksvertretungen dem Volke immer noch größere Dienste leisten
als die jetzigen. Denn da ein wie immer geartetes Gutachten niemals deu


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[0564] Geschichtsphilosophische Gedanken struirt werden, und in den parlamentarisch eingerichteten Staaten kommt es den Regierungen gar nicht mehr darauf an, die Willeusmeinnngen und Zu¬ stände des Volkes zu erfahren, sondern nur noch darauf, eine Anzahl von Männern zusammenzubringen, die den im Amte befindlichen Ministern gestattet, ihre Portefeuilles zu behalten. Aber mich in jenen Staaten, die sich noch eines wirklichen Monarchen erfreuen, und wo der Fortbestand der Regierung nicht von der Gnade des Parlaments abhängt, glauben die Minister gewöhn¬ lich eine sogenannte feste oder sichere Regierungsmehrheit nicht entbehren zu können, weil sie ein bestimmtes Programm für die Gesetzgebung im Kopfe haben, das ohne die Mitwirkung der Volksvertreter nicht durchgeführt werden kann. Dazu kommt, daß die Berichterstattung über die Zustände des Landes, die eine Hauptpflicht der Volksvertretung wäre, gar nicht in die Tagesordnung aufgenommen ist und nur zufällig und gelegentlich in der Debatte über ver- schiedne Gesetzvorlagen erledigt wird. Und wenn bei solcher gelegentlichen Berichterstattung Notstände aufgedeckt werden, so nehmen das die Minister sehr übel. Als ob sie für alle Zustände in einem großen Lande verantwort¬ lich wären und in der Aufdeckung eines Nbelstaudes el» Vorwarf für sie läge! Als ob eine solche Verantwortung überhaupt möglich wäre! Die Verantwor- tung fäugt erst an, wenn entweder nachgewiesen wird, daß der Übelstand aus einer Anordnung der Regierung entspringt, oder daß die Regierung die Mittel hat, ihm abzuhelfen, und es nicht thntz für gewöhnlich ist keines von beiden der Fall. Sollten die Volksvertretungen ihren Zweck erfüllen, so müßten sie stän¬ disch gegliedert und müßte ihre Thätigkeit in andrer Weise geordnet werden. Denken wir uns die Wahlkreise vergrößert, womöglich nach Wirtschaftsgebieten abgegrenzt. Jeder Wahlkreis Hütte nicht einen Vertreter zu schicken, sondern so viele, als Stände vorhanden sind (Großgrundbesitzer, Bauern, Kaufleute, Handwerker, Fabrikanten, Hausindustrielle, Fabrikarbeiter, ländliche Tagelöhner; die Vertretung der Beamten würde ein zweifelhafter Punkt sein). Jeder Ab¬ geordnete müßte dem Stande angehören, den er vertritt, und in seinem Wahl¬ kreise wohnen. Die Obliegenheiten der Versammlung würden sein: Vewillignng der Einnahmen (die Hauptfunktiou aller alten Ständeversammlungen, die darin allerdings eine zu große Macht besaßen, indem sie durch gänzliche Verweige¬ rung aller Leistungen die Staatsregierung lahm zu legen vermochten), die Prüfung der Ausgaben, die Erstattung eines genauen Berichts über die Zu¬ stände und Wünsche der von ihnen Vertretenen, das Vorschlagen von Gesetzen und die Zustimmung zu den von der Regierung mit Hilfe von Sachverständigen¬ kommissionen ausgearbeiteten Gesetzen. Selbst wenn das zuletzt angeführte Recht der Volksvertretung zum Recht bloßer Begutachtung zusammenschrumpfte, würden solche Volksvertretungen dem Volke immer noch größere Dienste leisten als die jetzigen. Denn da ein wie immer geartetes Gutachten niemals deu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/564>, abgerufen am 24.07.2024.