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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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doxie oder der obligatorische Atheismus gefordert werden, immer ist es "das
Volk," das diese Forderungen stellt, als ob seine andern drei Viertel oder
neun Zehntel gar nicht vorhanden wären. Die Leute sagen und schreiben
gewöhnlich ganz doim nao so. Sie unterliegen einer ähnlichen Täuschung
durch Spiegelung, wie sie Lassalle in einer seiner Reden beschrieben hat. Er
sagt da ungefähr: In jeder Stadt von 10 bis 20000 Einwohnern giebt es ein
paar hundert Herren, Honoratioren genannt, die einander in allen Klubs,
beim Früh- und Abendschvppen, in allen Vereinssitzungen, Konzerten und
Theateraufführnngeu sehe"; was wunder, daß sich in ihrer Phantasie ihre
Zahl durch diese Nilgegenwart vervielfältigt, und daß sie sich einbilden, das
Volk zu sein. Bei unsern Parteien wird die latvptrische Täuschung vorzugs¬
weise durch die Parteipresse erzeugt. Das ist eine Erscheinung der neuern
Zeit. Ehedem wußten die Parteien immer ganz genau, daß sie das ganze
Volk weder wären, noch zu werden Aussicht hätten. Jeder Teil sagte es dem
andern mit aller mir wünschenswerten Deutlichkeit, daß er darauf ausgehe,
ihn zu unterdrücken; der poxolo ->ra,8so machte kein Hehl daraus, daß er fett
bleiben und den xopolo minuto in: Zustande der Magerkeit erhalten wolle,
während der xopolo inlnuw ohne jede Verstellung darnach strebte, fett zu
werden und die Gegner mager zu machen. Jede Partei hoffte nnn allerdings
nebenbei auch, daß bei ihrem Siege das Vaterland am besten fahren werde,
aber sie hielt sich nicht für verpflichtet, ihren eigentlichen und Hauptzweck zu
verbergen. Auch diese Art Heuchelei unsrer heutigen Politiker ist ja wohl
eine Huldigung vor der Tugend und entspringt demnach der bessern Seite der
Menschennatur. Sie hat sich in deu religiösen Kämpfen entwickelt. Schon
das fromme Wüten der Inquisition mußte nicht selten dazu dienen, politische
und andre sehr unheilige Zwecke zu verbergen, und im sechzehnten und sieb¬
zehnten Jahrhundert wurde es allgemeine Praxis, die wahre Religion für
gefährdet zu erklären, sooft man ein Stück Land erobern, einen unbequemer
Waffenstillstand brechen oder die Fahne der Empörung aufpflanzen wollte.
Es klang so schön, und alle Gewissensbedenken waren mit einem Schlage be¬
seitigt. Im achtzehnten Jahrhundert mußten dann die Humanität und Tugend
deu Vorwand für Gewaltthaten abgeben; im Namen dieses himmlischen
Schwesternpaares regierten die französischen Schreckensmänner, und keiner
Masseuabschlachtung fehlte die Weihe einer salbungsvollen Predigt.

Daß rechtschaffne Menschen bei allein, was sie thun, im allgemeinen eine
gute Absicht haben, auch wenn beim Handeln gar nicht daran gedacht wird,
und daß sie jedenfalls weit entfernt davon sind, mit Wissen und Willen das
Gemeinwohl zu schädigen, versteht sich ganz von selbst. Aber wenn sie in jede
Förderung eines Sonderiuteresses das Gemeinwohl hineinbringen, so machen
sie sich derselbe,? Geschmacklosigkeit schuldig wie die Frömmler, die kein gutes
Geschäft abschließen und kein Glas über deu Durst trinken können, ohne vor


doxie oder der obligatorische Atheismus gefordert werden, immer ist es „das
Volk," das diese Forderungen stellt, als ob seine andern drei Viertel oder
neun Zehntel gar nicht vorhanden wären. Die Leute sagen und schreiben
gewöhnlich ganz doim nao so. Sie unterliegen einer ähnlichen Täuschung
durch Spiegelung, wie sie Lassalle in einer seiner Reden beschrieben hat. Er
sagt da ungefähr: In jeder Stadt von 10 bis 20000 Einwohnern giebt es ein
paar hundert Herren, Honoratioren genannt, die einander in allen Klubs,
beim Früh- und Abendschvppen, in allen Vereinssitzungen, Konzerten und
Theateraufführnngeu sehe»; was wunder, daß sich in ihrer Phantasie ihre
Zahl durch diese Nilgegenwart vervielfältigt, und daß sie sich einbilden, das
Volk zu sein. Bei unsern Parteien wird die latvptrische Täuschung vorzugs¬
weise durch die Parteipresse erzeugt. Das ist eine Erscheinung der neuern
Zeit. Ehedem wußten die Parteien immer ganz genau, daß sie das ganze
Volk weder wären, noch zu werden Aussicht hätten. Jeder Teil sagte es dem
andern mit aller mir wünschenswerten Deutlichkeit, daß er darauf ausgehe,
ihn zu unterdrücken; der poxolo ->ra,8so machte kein Hehl daraus, daß er fett
bleiben und den xopolo minuto in: Zustande der Magerkeit erhalten wolle,
während der xopolo inlnuw ohne jede Verstellung darnach strebte, fett zu
werden und die Gegner mager zu machen. Jede Partei hoffte nnn allerdings
nebenbei auch, daß bei ihrem Siege das Vaterland am besten fahren werde,
aber sie hielt sich nicht für verpflichtet, ihren eigentlichen und Hauptzweck zu
verbergen. Auch diese Art Heuchelei unsrer heutigen Politiker ist ja wohl
eine Huldigung vor der Tugend und entspringt demnach der bessern Seite der
Menschennatur. Sie hat sich in deu religiösen Kämpfen entwickelt. Schon
das fromme Wüten der Inquisition mußte nicht selten dazu dienen, politische
und andre sehr unheilige Zwecke zu verbergen, und im sechzehnten und sieb¬
zehnten Jahrhundert wurde es allgemeine Praxis, die wahre Religion für
gefährdet zu erklären, sooft man ein Stück Land erobern, einen unbequemer
Waffenstillstand brechen oder die Fahne der Empörung aufpflanzen wollte.
Es klang so schön, und alle Gewissensbedenken waren mit einem Schlage be¬
seitigt. Im achtzehnten Jahrhundert mußten dann die Humanität und Tugend
deu Vorwand für Gewaltthaten abgeben; im Namen dieses himmlischen
Schwesternpaares regierten die französischen Schreckensmänner, und keiner
Masseuabschlachtung fehlte die Weihe einer salbungsvollen Predigt.

Daß rechtschaffne Menschen bei allein, was sie thun, im allgemeinen eine
gute Absicht haben, auch wenn beim Handeln gar nicht daran gedacht wird,
und daß sie jedenfalls weit entfernt davon sind, mit Wissen und Willen das
Gemeinwohl zu schädigen, versteht sich ganz von selbst. Aber wenn sie in jede
Förderung eines Sonderiuteresses das Gemeinwohl hineinbringen, so machen
sie sich derselbe,? Geschmacklosigkeit schuldig wie die Frömmler, die kein gutes
Geschäft abschließen und kein Glas über deu Durst trinken können, ohne vor


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/562>, abgerufen am 24.07.2024.