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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Zur politischen Lage

politischen Scharfblick bewundert, wenn sie zur Thatsache wird, und über die
man mitleidig die Achseln zuckt, wenn sie durch die Ereignisse widerlegt wird.
Ein großer Staatsmann ist der, der sich in den: einen wie in dem andern
Fall nicht überraschen läßt, der es versteht, im rechten Augenblick den
Faktor der von ihm vertretenen Interessen so zur Geltung zu bringen, daß
sich beim Abschluß einer Kette von Ereignissen der ihm günstigste Kreis bildet.
Das Suchen uach der Kombination, die die günstigste nationale Entwicklung
gestattet, bildet das Ziel, das allseitig erstrebt wird, hier mit diesen, dort mit
jenen Mitteln. Gewordene Staaten, die sich national geschlossen und ihre
Grenzen bereits den innern Bedürfnissen und den natürlichen Verhältnissen
entsprechend gezogen haben, brauchen dazu Frieden mit den Nachbarn rechts
nud links, oben und unten; werdende Staaten, deren Ehrgeiz das Ziel noch
nicht mit Hunden greift, oder die das Ziel uur auf Kosten andrer erreichen
können, suchen die Gelegenheit, gewaltsam zu ergreifen, was ihnen von selbst
nicht in den Schoß fallen will. Sie wollen den Krieg, und da nnn einmal
die europäische Völkerfamilie ein Ganzes ist, dessen Glieder auf einander ein-
wirken müsse:?, so muß die Frage zur Entscheidung kommen, wer stärker ist,
die Satter oder die Hungrigen.

Wir wollen, in der steten Einsicht, daß genan das Gegenteil zutreffe"
könnte, den Versuch machen, die Umstände zusammenzufassen, die für die
weitere Dauer des nunmehr über zwanzig Jahre währenden Weltfriedens sprechen.

Vor allem: alle die, die über Krieg und Frieden zu bestimmen habe",
versichern bei jedem Anlaß, daß sie den Frieden wollen und an den Frieden
glauben. Das hat Kaiser Wilhelm gethan, das thut der Zar, das thun
Lord Salisbury, Nndiui, Carnot, ja sogar -- um den kleinen nicht das
Wort zu nehmen -- das thun Bulgaren, Serben, Griechen und tut-ti <zMnti.
Bei jeder Parlamentseröffnung, bei jedem Jubiläum, bei jeder Ausstellnngs-
feier -- und wo wird nicht ausgestellt? -- ja fast bei jedem Festessen können
wir es hören. Gleich uach dem Braten folgt die Friedensrede, und es ist
wahrhaft bewunderungswürdig, ums alles als Friedenszeichen von einem
geübten Friedeusredner erwiesen werden kann. Nimmt Rußland eine neue
Anleihe auf: bedeutsames Friedenszeichen oder, wie der Redner sagt,
Friedeusshmptom, denn es trügt sich mit weitaussehenden Unternehmungen,
die Zeit brauchen, um zu reifen. Bekommt Wyschnegradski kein Geld von
Rothschild: Friedenszeichen, denn ohne Geld kann man nicht Krieg führen.
Erfindet Frankreich ein bessres Pulver: Friedenszeichen, denn nun müssen die
Gewehre umgeändert werden; taugt die Erfindung nichts: Friedenszeichen,
denn ohne die Gewißheit technischer Überlegenheit wird Frankreich nie anfangen.
Verfolgt Nußland die Juden, Friedenszeichen: denn ohne Juden kann Rußland
nichts machen; läßt Nußland in seiner Bedrückung der Juden nach, Friedens¬
zeichen: denn die ungehemmte Macht des Judentums findet ihre Rechnung


Zur politischen Lage

politischen Scharfblick bewundert, wenn sie zur Thatsache wird, und über die
man mitleidig die Achseln zuckt, wenn sie durch die Ereignisse widerlegt wird.
Ein großer Staatsmann ist der, der sich in den: einen wie in dem andern
Fall nicht überraschen läßt, der es versteht, im rechten Augenblick den
Faktor der von ihm vertretenen Interessen so zur Geltung zu bringen, daß
sich beim Abschluß einer Kette von Ereignissen der ihm günstigste Kreis bildet.
Das Suchen uach der Kombination, die die günstigste nationale Entwicklung
gestattet, bildet das Ziel, das allseitig erstrebt wird, hier mit diesen, dort mit
jenen Mitteln. Gewordene Staaten, die sich national geschlossen und ihre
Grenzen bereits den innern Bedürfnissen und den natürlichen Verhältnissen
entsprechend gezogen haben, brauchen dazu Frieden mit den Nachbarn rechts
nud links, oben und unten; werdende Staaten, deren Ehrgeiz das Ziel noch
nicht mit Hunden greift, oder die das Ziel uur auf Kosten andrer erreichen
können, suchen die Gelegenheit, gewaltsam zu ergreifen, was ihnen von selbst
nicht in den Schoß fallen will. Sie wollen den Krieg, und da nnn einmal
die europäische Völkerfamilie ein Ganzes ist, dessen Glieder auf einander ein-
wirken müsse:?, so muß die Frage zur Entscheidung kommen, wer stärker ist,
die Satter oder die Hungrigen.

Wir wollen, in der steten Einsicht, daß genan das Gegenteil zutreffe»
könnte, den Versuch machen, die Umstände zusammenzufassen, die für die
weitere Dauer des nunmehr über zwanzig Jahre währenden Weltfriedens sprechen.

Vor allem: alle die, die über Krieg und Frieden zu bestimmen habe»,
versichern bei jedem Anlaß, daß sie den Frieden wollen und an den Frieden
glauben. Das hat Kaiser Wilhelm gethan, das thut der Zar, das thun
Lord Salisbury, Nndiui, Carnot, ja sogar — um den kleinen nicht das
Wort zu nehmen — das thun Bulgaren, Serben, Griechen und tut-ti <zMnti.
Bei jeder Parlamentseröffnung, bei jedem Jubiläum, bei jeder Ausstellnngs-
feier — und wo wird nicht ausgestellt? — ja fast bei jedem Festessen können
wir es hören. Gleich uach dem Braten folgt die Friedensrede, und es ist
wahrhaft bewunderungswürdig, ums alles als Friedenszeichen von einem
geübten Friedeusredner erwiesen werden kann. Nimmt Rußland eine neue
Anleihe auf: bedeutsames Friedenszeichen oder, wie der Redner sagt,
Friedeusshmptom, denn es trügt sich mit weitaussehenden Unternehmungen,
die Zeit brauchen, um zu reifen. Bekommt Wyschnegradski kein Geld von
Rothschild: Friedenszeichen, denn ohne Geld kann man nicht Krieg führen.
Erfindet Frankreich ein bessres Pulver: Friedenszeichen, denn nun müssen die
Gewehre umgeändert werden; taugt die Erfindung nichts: Friedenszeichen,
denn ohne die Gewißheit technischer Überlegenheit wird Frankreich nie anfangen.
Verfolgt Nußland die Juden, Friedenszeichen: denn ohne Juden kann Rußland
nichts machen; läßt Nußland in seiner Bedrückung der Juden nach, Friedens¬
zeichen: denn die ungehemmte Macht des Judentums findet ihre Rechnung


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[0539] Zur politischen Lage politischen Scharfblick bewundert, wenn sie zur Thatsache wird, und über die man mitleidig die Achseln zuckt, wenn sie durch die Ereignisse widerlegt wird. Ein großer Staatsmann ist der, der sich in den: einen wie in dem andern Fall nicht überraschen läßt, der es versteht, im rechten Augenblick den Faktor der von ihm vertretenen Interessen so zur Geltung zu bringen, daß sich beim Abschluß einer Kette von Ereignissen der ihm günstigste Kreis bildet. Das Suchen uach der Kombination, die die günstigste nationale Entwicklung gestattet, bildet das Ziel, das allseitig erstrebt wird, hier mit diesen, dort mit jenen Mitteln. Gewordene Staaten, die sich national geschlossen und ihre Grenzen bereits den innern Bedürfnissen und den natürlichen Verhältnissen entsprechend gezogen haben, brauchen dazu Frieden mit den Nachbarn rechts nud links, oben und unten; werdende Staaten, deren Ehrgeiz das Ziel noch nicht mit Hunden greift, oder die das Ziel uur auf Kosten andrer erreichen können, suchen die Gelegenheit, gewaltsam zu ergreifen, was ihnen von selbst nicht in den Schoß fallen will. Sie wollen den Krieg, und da nnn einmal die europäische Völkerfamilie ein Ganzes ist, dessen Glieder auf einander ein- wirken müsse:?, so muß die Frage zur Entscheidung kommen, wer stärker ist, die Satter oder die Hungrigen. Wir wollen, in der steten Einsicht, daß genan das Gegenteil zutreffe» könnte, den Versuch machen, die Umstände zusammenzufassen, die für die weitere Dauer des nunmehr über zwanzig Jahre währenden Weltfriedens sprechen. Vor allem: alle die, die über Krieg und Frieden zu bestimmen habe», versichern bei jedem Anlaß, daß sie den Frieden wollen und an den Frieden glauben. Das hat Kaiser Wilhelm gethan, das thut der Zar, das thun Lord Salisbury, Nndiui, Carnot, ja sogar — um den kleinen nicht das Wort zu nehmen — das thun Bulgaren, Serben, Griechen und tut-ti <zMnti. Bei jeder Parlamentseröffnung, bei jedem Jubiläum, bei jeder Ausstellnngs- feier — und wo wird nicht ausgestellt? — ja fast bei jedem Festessen können wir es hören. Gleich uach dem Braten folgt die Friedensrede, und es ist wahrhaft bewunderungswürdig, ums alles als Friedenszeichen von einem geübten Friedeusredner erwiesen werden kann. Nimmt Rußland eine neue Anleihe auf: bedeutsames Friedenszeichen oder, wie der Redner sagt, Friedeusshmptom, denn es trügt sich mit weitaussehenden Unternehmungen, die Zeit brauchen, um zu reifen. Bekommt Wyschnegradski kein Geld von Rothschild: Friedenszeichen, denn ohne Geld kann man nicht Krieg führen. Erfindet Frankreich ein bessres Pulver: Friedenszeichen, denn nun müssen die Gewehre umgeändert werden; taugt die Erfindung nichts: Friedenszeichen, denn ohne die Gewißheit technischer Überlegenheit wird Frankreich nie anfangen. Verfolgt Nußland die Juden, Friedenszeichen: denn ohne Juden kann Rußland nichts machen; läßt Nußland in seiner Bedrückung der Juden nach, Friedens¬ zeichen: denn die ungehemmte Macht des Judentums findet ihre Rechnung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/539>, abgerufen am 24.07.2024.