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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Hamerling der Philosoph

und Unabhängigkeit des persönlichen Ichs von der Außenwelt mit der unbe¬
dingtesten Selbstlosigkeit und Hingebung an das Ganze, die Zwecke der Natur
und des Alls zu vereinige"." Ja, aber wer, außer dem Katechismus, giebt
uns Auskunft über die Zwecke des Alls? Wie stelle ichs an, mich dem All
hinzugeben? Ich kann das doch immer nur mittelbar durch Hingebung an
irgend ein kleineres Ganze. Und diese verschiednen Ganzen, denen wir uns
hinzugeben haben: Familie, Stand, Gemeinde, Partei. Staat, Kirche, ge¬
raten sie nicht aller Augenblicke in Streit mit einander und mit den Zwecken
der Natur?

Daß mau als Atheist ein edler und tüchtiger Mensch sein kann, hat ja,
wenn es noch eiues Beweises bedürfen sollte, Hamerling selbst bewiesen. Er
hat noch mehr bewiesein daß man ohne Glauben an Gott dreißig Jahre lang
grausame Leiden ertragen kann, ohne Pessimist zu werden. Aber die Aufgabe,
ohne Glauben an Gott eine brauchbare Regel des Handelns für die Masse
aufzustellen, hat auch er nicht gelöst. Im zweiten Teile, Seite 207, spricht
er ein großes Wort gelassen ans. "Ihr treibt ein gefährliches Spiel, ihr
Philosophen, sagen ängstliche Gemüter, indem ihr der Moral alle Stützen des
Glaubens unter den Füßen wegzieht, um sie einzig auf deu moralischen Instinkt
zu gründe", deu doch viele von deu Aufgeklärten uicht einmal theoretisch an¬
erkennen! Darauf entgeg"c ich: Jene Stütze" sind "u" einmal morsch, kein
Verlaß "lehr auf sie! Es ist möglich, daß der moralische Instinkt für die
Menschheit nicht nnsreicht, wenn sie ihn unterdrückt und leugnet. Hat sie
wirklich nicht genug innern Halt, und muß sie deswegen zu Grunde gehen --
el, so mag sie zu Grunde gehen; sie ist in diesem Falle nicht wert, zu
bestehen!" Ist das uicht ein wenig lieblos? Was ihn selbst in seinem Leiden
aufrecht erhalten hat, das war seine gesunde Natur, in der der Wille zu",
Leben überwog, und besonders seine Freude am schönen, die ihm das Leben
stets begehrenswert erscheinen ließ. Sind das nicht auch Stützen? War
Hamerling ganz sicher, daß er auch ohne sie seiue nächste Pflicht erfüllt,
seiue körperlichen Leiden heldenmütig ertrage" hätte? Hat er sich jemals ge¬
sagt: wenn ich mich ohne diese beiden Naturgaben nicht aufrecht zu erhalten
vermag, denn bin ich nicht wert, zu bestehen? Unzählige müssen ohne sie
auskomme". Nicht jeder bringt el" heiteres Tcmpcmment mit n"f die Welt,
Hills meint in seinem Büchlein "Glück" sogar, wer ungläubig und dabei mit
fünfzig Jahren "och uicht Pessimist sei, dem fehle es an Verstand, und der
größte Teil der ärmer" Bevölkerung der nördliche" Länder hat so wenig Ge¬
legenheit, Schönes zu genießen, daß der Schönheitssinn bei ihm schon ganz
verkümmert ist. Soll man diesen Leuten vollends anch noch die Stütze der
Religion entziehe", die, "ebeubei bemerkt, "ur dort morsch ist, wo ma" sie
absichtlich oder durch ungeschickte Behandlung der kirchlichen Dinge aus¬
gehöhlt hat?


Hamerling der Philosoph

und Unabhängigkeit des persönlichen Ichs von der Außenwelt mit der unbe¬
dingtesten Selbstlosigkeit und Hingebung an das Ganze, die Zwecke der Natur
und des Alls zu vereinige»." Ja, aber wer, außer dem Katechismus, giebt
uns Auskunft über die Zwecke des Alls? Wie stelle ichs an, mich dem All
hinzugeben? Ich kann das doch immer nur mittelbar durch Hingebung an
irgend ein kleineres Ganze. Und diese verschiednen Ganzen, denen wir uns
hinzugeben haben: Familie, Stand, Gemeinde, Partei. Staat, Kirche, ge¬
raten sie nicht aller Augenblicke in Streit mit einander und mit den Zwecken
der Natur?

Daß mau als Atheist ein edler und tüchtiger Mensch sein kann, hat ja,
wenn es noch eiues Beweises bedürfen sollte, Hamerling selbst bewiesen. Er
hat noch mehr bewiesein daß man ohne Glauben an Gott dreißig Jahre lang
grausame Leiden ertragen kann, ohne Pessimist zu werden. Aber die Aufgabe,
ohne Glauben an Gott eine brauchbare Regel des Handelns für die Masse
aufzustellen, hat auch er nicht gelöst. Im zweiten Teile, Seite 207, spricht
er ein großes Wort gelassen ans. „Ihr treibt ein gefährliches Spiel, ihr
Philosophen, sagen ängstliche Gemüter, indem ihr der Moral alle Stützen des
Glaubens unter den Füßen wegzieht, um sie einzig auf deu moralischen Instinkt
zu gründe», deu doch viele von deu Aufgeklärten uicht einmal theoretisch an¬
erkennen! Darauf entgeg»c ich: Jene Stütze» sind »u» einmal morsch, kein
Verlaß »lehr auf sie! Es ist möglich, daß der moralische Instinkt für die
Menschheit nicht nnsreicht, wenn sie ihn unterdrückt und leugnet. Hat sie
wirklich nicht genug innern Halt, und muß sie deswegen zu Grunde gehen —
el, so mag sie zu Grunde gehen; sie ist in diesem Falle nicht wert, zu
bestehen!" Ist das uicht ein wenig lieblos? Was ihn selbst in seinem Leiden
aufrecht erhalten hat, das war seine gesunde Natur, in der der Wille zu»,
Leben überwog, und besonders seine Freude am schönen, die ihm das Leben
stets begehrenswert erscheinen ließ. Sind das nicht auch Stützen? War
Hamerling ganz sicher, daß er auch ohne sie seiue nächste Pflicht erfüllt,
seiue körperlichen Leiden heldenmütig ertrage» hätte? Hat er sich jemals ge¬
sagt: wenn ich mich ohne diese beiden Naturgaben nicht aufrecht zu erhalten
vermag, denn bin ich nicht wert, zu bestehen? Unzählige müssen ohne sie
auskomme». Nicht jeder bringt el» heiteres Tcmpcmment mit n»f die Welt,
Hills meint in seinem Büchlein „Glück" sogar, wer ungläubig und dabei mit
fünfzig Jahren »och uicht Pessimist sei, dem fehle es an Verstand, und der
größte Teil der ärmer» Bevölkerung der nördliche» Länder hat so wenig Ge¬
legenheit, Schönes zu genießen, daß der Schönheitssinn bei ihm schon ganz
verkümmert ist. Soll man diesen Leuten vollends anch noch die Stütze der
Religion entziehe», die, »ebeubei bemerkt, »ur dort morsch ist, wo ma» sie
absichtlich oder durch ungeschickte Behandlung der kirchlichen Dinge aus¬
gehöhlt hat?


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[0483] Hamerling der Philosoph und Unabhängigkeit des persönlichen Ichs von der Außenwelt mit der unbe¬ dingtesten Selbstlosigkeit und Hingebung an das Ganze, die Zwecke der Natur und des Alls zu vereinige»." Ja, aber wer, außer dem Katechismus, giebt uns Auskunft über die Zwecke des Alls? Wie stelle ichs an, mich dem All hinzugeben? Ich kann das doch immer nur mittelbar durch Hingebung an irgend ein kleineres Ganze. Und diese verschiednen Ganzen, denen wir uns hinzugeben haben: Familie, Stand, Gemeinde, Partei. Staat, Kirche, ge¬ raten sie nicht aller Augenblicke in Streit mit einander und mit den Zwecken der Natur? Daß mau als Atheist ein edler und tüchtiger Mensch sein kann, hat ja, wenn es noch eiues Beweises bedürfen sollte, Hamerling selbst bewiesen. Er hat noch mehr bewiesein daß man ohne Glauben an Gott dreißig Jahre lang grausame Leiden ertragen kann, ohne Pessimist zu werden. Aber die Aufgabe, ohne Glauben an Gott eine brauchbare Regel des Handelns für die Masse aufzustellen, hat auch er nicht gelöst. Im zweiten Teile, Seite 207, spricht er ein großes Wort gelassen ans. „Ihr treibt ein gefährliches Spiel, ihr Philosophen, sagen ängstliche Gemüter, indem ihr der Moral alle Stützen des Glaubens unter den Füßen wegzieht, um sie einzig auf deu moralischen Instinkt zu gründe», deu doch viele von deu Aufgeklärten uicht einmal theoretisch an¬ erkennen! Darauf entgeg»c ich: Jene Stütze» sind »u» einmal morsch, kein Verlaß »lehr auf sie! Es ist möglich, daß der moralische Instinkt für die Menschheit nicht nnsreicht, wenn sie ihn unterdrückt und leugnet. Hat sie wirklich nicht genug innern Halt, und muß sie deswegen zu Grunde gehen — el, so mag sie zu Grunde gehen; sie ist in diesem Falle nicht wert, zu bestehen!" Ist das uicht ein wenig lieblos? Was ihn selbst in seinem Leiden aufrecht erhalten hat, das war seine gesunde Natur, in der der Wille zu», Leben überwog, und besonders seine Freude am schönen, die ihm das Leben stets begehrenswert erscheinen ließ. Sind das nicht auch Stützen? War Hamerling ganz sicher, daß er auch ohne sie seiue nächste Pflicht erfüllt, seiue körperlichen Leiden heldenmütig ertrage» hätte? Hat er sich jemals ge¬ sagt: wenn ich mich ohne diese beiden Naturgaben nicht aufrecht zu erhalten vermag, denn bin ich nicht wert, zu bestehen? Unzählige müssen ohne sie auskomme». Nicht jeder bringt el» heiteres Tcmpcmment mit n»f die Welt, Hills meint in seinem Büchlein „Glück" sogar, wer ungläubig und dabei mit fünfzig Jahren »och uicht Pessimist sei, dem fehle es an Verstand, und der größte Teil der ärmer» Bevölkerung der nördliche» Länder hat so wenig Ge¬ legenheit, Schönes zu genießen, daß der Schönheitssinn bei ihm schon ganz verkümmert ist. Soll man diesen Leuten vollends anch noch die Stütze der Religion entziehe», die, »ebeubei bemerkt, »ur dort morsch ist, wo ma» sie absichtlich oder durch ungeschickte Behandlung der kirchlichen Dinge aus¬ gehöhlt hat?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/483>, abgerufen am 24.07.2024.