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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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setzt, aber schon durch die gleichzeitige Ansammlung an einem Orte wesentlich
anders empfindet, als der einzelne Leser, der sich in seinen vier Pfählen allein
in aller Muße dem Genusse eiues dichterischen Werkes hingiebt. Der Einzelne
ist dem Dichter gegenüber viel empfänglicher, viel zugänglicher als die Masse.
Im stillen t.ses-K-tßto kann der Erzähler den Leser in Gedanken- und Em-
pfindnngsreihen hineinfuhren, die von seine"'. Denken und Empfinden weit
abliegen, ja er kaun sein Interesse durch die Kunst der Darstellung selbst an
Vorgänge und Gegenstände sesseln, die ihm vielleicht abstoßend und un¬
natürlich erscheinen. Die Masse, zu der der Dramatiker spricht, ist nicht so
willig, sie besitzt, oft gegen den Willen des Einzelnen, der von der Gesnmt-
stimmung mit hingerissen wird, so viel Korpsgeist, daß sie dem Dichter
gegenüber eine ganz andre, schwerer zu bewältigende Macht darstellt als der
einzelne Leser. Und diese Thatsache, auf die nachdrücklich hingewiesen zu haben
ein besondres Verdienst des Freiherrn von Berger (Dramaturgische Bvrträge.
Wien, Konegen) ist, ist für den Erfolg eines Bühnenwerkes so bestimmend,
daß die Behauptung aufgestellt werden kann: die Dichtungsart, die sich der
mächtigsten Ausdrucksmittel bedient, die nicht dnrch das gedruckte, sondern
durch das gesprochene Wort wirkt und noch alle Mittel der Veranschaulichung,
die der Bühne zu Gebote stehen, zu Hilfe nimmt, erreicht am schwersten
den Eindruck, den der Dichter hervorrufen wollte. Die Bedingungen, unter
denen ein Drama ans die Masse in der erstrebten Weise einwirkt, festzustellen,
das wäre die Aufgabe einer Psychologie der Volksseele, die erst noch geschrieben
werden soll. Für uns ist es genug, daß diese Thatsache besteht, und daß der
Dichter sowohl wie sein Beurteiler mit ihr rechnen muß.

Wenden wir uns von der allgemeinen ästhetischen Frage zu dem besondern
Fall, der uns hier beschäftigen soll, zu dem Verhältnis des modernen Publi¬
kums zu dem modernen Drama, so erscheint anch diese beschränkte Aufgabe so
mannichfaltig und weitverzweigt, daß es genügen muß, einzelne maßgebende
Richtnngspnnkte aufzustellen. Nach dem Ausgeführten bedarf es keines Hin¬
weises mehr darauf, daß hier uur von dem Bühnendrama als dein allein
maßgeblichen die Rede ist. Zunächst erhebt sich nun die Frage nach dem
Wesen des modernen Theaterpnbliknms. Haben nur überhaupt ein solches,
und wie ist es beschaffen? Die erste Frage muß im allgemeinen verneint
werden. Wir haben wohl ein musikalisches oder, richtiger gesagt, ein Publi¬
kum für Musik -- der Unterschied der beiden Begriffe braucht nicht erst er¬
läutert zu werden --, aber kein Publikum für das Schauspiel, wenigstens nicht
in dein Sinne, wie es die Theatergeschichte früherer Jahrzehnte kennt. Die
Zahl der Schaubühnen, die mit einer ständigen Schar von Freunden rechnen
dürfen, welche mit Treue und liebevollem Interesse der Entwicklung des Instituts
und seiner Leistungen folgen, ist von Jahr zu Jahr geringer geworden, der
Stamm der Abonnenten, der für das gedeihliche Wachstum eiues Theaters


setzt, aber schon durch die gleichzeitige Ansammlung an einem Orte wesentlich
anders empfindet, als der einzelne Leser, der sich in seinen vier Pfählen allein
in aller Muße dem Genusse eiues dichterischen Werkes hingiebt. Der Einzelne
ist dem Dichter gegenüber viel empfänglicher, viel zugänglicher als die Masse.
Im stillen t.ses-K-tßto kann der Erzähler den Leser in Gedanken- und Em-
pfindnngsreihen hineinfuhren, die von seine»'. Denken und Empfinden weit
abliegen, ja er kaun sein Interesse durch die Kunst der Darstellung selbst an
Vorgänge und Gegenstände sesseln, die ihm vielleicht abstoßend und un¬
natürlich erscheinen. Die Masse, zu der der Dramatiker spricht, ist nicht so
willig, sie besitzt, oft gegen den Willen des Einzelnen, der von der Gesnmt-
stimmung mit hingerissen wird, so viel Korpsgeist, daß sie dem Dichter
gegenüber eine ganz andre, schwerer zu bewältigende Macht darstellt als der
einzelne Leser. Und diese Thatsache, auf die nachdrücklich hingewiesen zu haben
ein besondres Verdienst des Freiherrn von Berger (Dramaturgische Bvrträge.
Wien, Konegen) ist, ist für den Erfolg eines Bühnenwerkes so bestimmend,
daß die Behauptung aufgestellt werden kann: die Dichtungsart, die sich der
mächtigsten Ausdrucksmittel bedient, die nicht dnrch das gedruckte, sondern
durch das gesprochene Wort wirkt und noch alle Mittel der Veranschaulichung,
die der Bühne zu Gebote stehen, zu Hilfe nimmt, erreicht am schwersten
den Eindruck, den der Dichter hervorrufen wollte. Die Bedingungen, unter
denen ein Drama ans die Masse in der erstrebten Weise einwirkt, festzustellen,
das wäre die Aufgabe einer Psychologie der Volksseele, die erst noch geschrieben
werden soll. Für uns ist es genug, daß diese Thatsache besteht, und daß der
Dichter sowohl wie sein Beurteiler mit ihr rechnen muß.

Wenden wir uns von der allgemeinen ästhetischen Frage zu dem besondern
Fall, der uns hier beschäftigen soll, zu dem Verhältnis des modernen Publi¬
kums zu dem modernen Drama, so erscheint anch diese beschränkte Aufgabe so
mannichfaltig und weitverzweigt, daß es genügen muß, einzelne maßgebende
Richtnngspnnkte aufzustellen. Nach dem Ausgeführten bedarf es keines Hin¬
weises mehr darauf, daß hier uur von dem Bühnendrama als dein allein
maßgeblichen die Rede ist. Zunächst erhebt sich nun die Frage nach dem
Wesen des modernen Theaterpnbliknms. Haben nur überhaupt ein solches,
und wie ist es beschaffen? Die erste Frage muß im allgemeinen verneint
werden. Wir haben wohl ein musikalisches oder, richtiger gesagt, ein Publi¬
kum für Musik — der Unterschied der beiden Begriffe braucht nicht erst er¬
läutert zu werden —, aber kein Publikum für das Schauspiel, wenigstens nicht
in dein Sinne, wie es die Theatergeschichte früherer Jahrzehnte kennt. Die
Zahl der Schaubühnen, die mit einer ständigen Schar von Freunden rechnen
dürfen, welche mit Treue und liebevollem Interesse der Entwicklung des Instituts
und seiner Leistungen folgen, ist von Jahr zu Jahr geringer geworden, der
Stamm der Abonnenten, der für das gedeihliche Wachstum eiues Theaters


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/435>, abgerufen am 24.07.2024.