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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Unsre Biircailkraien

Wäre, besteht heute wohl überall Einverständnis. Sie könnte recht gut mich
auf alle Zivilsachen, auf die Oberlandesgerichte und selbst aus das Reichs¬
gericht ausgedehnt werden, wem? sich passende Formen und vor allein tüchtige
Männer finden ließen, die "eben den sonstigen zahllosen Anforderungen des
öffentlichen Lebens auch dieses Opfer zu bringen bereit waren. Muß es
denn aber durchaus in der unförnllichen vorsüudflutlichcu Gestalt des Ge-
schworncngerichts geschehen, das man auf dem Umweg über Frankreich aus
der Rumpelkammer des englischen Gerichtsverfahrens herübergeholt hat zu
einer Zeit, wo die Sonne der bürgerlichen Freiheit nur über Albion zu leuchten
schien? Ich habe den mittelalterlichen Hokuspokus der Bildung der Ge-
schwvrnenbank, die feierlichen Ablehnungen -- merkwürdigerweise gerade der
Geschwornen, die dem Staatsanwalt oder dem Verteidiger vorher dringende
Abhaltungen für den Sitznngstag angezeigt hatten --, die Lammsgeduld
andrer, die gern angethan hätten, aber vier Wochen lang hinter einander
täglich von neuem nach ihrer zehn Meilen weit entfernten Heimat entlassen
wurden, nie ohne Heiterkeit beobachtet. Auch die obligate Begrüßung der
Herren Geschwornen bei Beginn, der Dank des Vorsitzenden bei Schluß der
Sitzungen, der tiefempfundene Gegendank des Obmannes, gelegentlich auch seine
Quittung über spitze Redensarten, die Nichtigkeit der gefüllten Wahrsprüche
betreffend, haben mir viel Vergnügen gemacht. Ernster ist schon das Bild
des Angeklagten, der mitunter das Gefühl haben mag, als werde über sein
Leben, seine Freiheit oder seine Ehre gewürfelt, wenn er den Reflex einer
glänzenden Redewendung des Staatsanwalts und dann wieder des Verteidigers
ans den Gesichtern der Geschwornen verfolgt. Ein schwacher Trost, dnß in
stärkeren Prozentsatz ungerechtfertigte Freisprechungen als ungerechte Ver¬
urteilungen herauszukommen Pflegen. Ist es nicht traurig: hüben und drüben,
am Nichtertisch wie auf der Geschworueubank eruste, tüchtige Männer, beide
bereit -- die Geschwornen unter bewunderungswürdigen Opfern an Zeit und
Geld --, uach ihrem besten Vermögen das Recht zu finden, sich nicht keimend,
sich nicht verstehend oder sich mißverstehend, durch das Gesetz ängstlich vor
jeder verantwortlichen gegenseitigen Aussprache behütet, so dringend auf beiden
Seiten auch das Bedürfnis darnach empfunden wird -- es waren zwei Königs¬
kinder, sie konnten zusammen nicht kommen! Wenn der einzige Grund, den
man für dieses unsinnige Gebilde geltend macht: den Richtern müsse jede Be-
einflussung der Geschwornen unmöglich gemacht werden, wirklich Stand hielte,
d. h. wenn die Geschwornen wirklich so wenig Charakter und Urteil besäßen,
daß sie solchen, wie man ohne weiteres unterlegt, ihrer Rechtsüberzeugung
zuwiderlaufenden Einflüssen nicht zu widerstehen vermochten, dann sollte man
doch auch so konsequent sein, für die Mitwirkung solcher Elemente in jeder
Form zu danken. Wären unsre besten Männer, wäre unser ganzes Volk
schon so weit herunter, dann lohnte es doch wahrhaftig nicht mehr, eine"?


Unsre Biircailkraien

Wäre, besteht heute wohl überall Einverständnis. Sie könnte recht gut mich
auf alle Zivilsachen, auf die Oberlandesgerichte und selbst aus das Reichs¬
gericht ausgedehnt werden, wem? sich passende Formen und vor allein tüchtige
Männer finden ließen, die »eben den sonstigen zahllosen Anforderungen des
öffentlichen Lebens auch dieses Opfer zu bringen bereit waren. Muß es
denn aber durchaus in der unförnllichen vorsüudflutlichcu Gestalt des Ge-
schworncngerichts geschehen, das man auf dem Umweg über Frankreich aus
der Rumpelkammer des englischen Gerichtsverfahrens herübergeholt hat zu
einer Zeit, wo die Sonne der bürgerlichen Freiheit nur über Albion zu leuchten
schien? Ich habe den mittelalterlichen Hokuspokus der Bildung der Ge-
schwvrnenbank, die feierlichen Ablehnungen — merkwürdigerweise gerade der
Geschwornen, die dem Staatsanwalt oder dem Verteidiger vorher dringende
Abhaltungen für den Sitznngstag angezeigt hatten —, die Lammsgeduld
andrer, die gern angethan hätten, aber vier Wochen lang hinter einander
täglich von neuem nach ihrer zehn Meilen weit entfernten Heimat entlassen
wurden, nie ohne Heiterkeit beobachtet. Auch die obligate Begrüßung der
Herren Geschwornen bei Beginn, der Dank des Vorsitzenden bei Schluß der
Sitzungen, der tiefempfundene Gegendank des Obmannes, gelegentlich auch seine
Quittung über spitze Redensarten, die Nichtigkeit der gefüllten Wahrsprüche
betreffend, haben mir viel Vergnügen gemacht. Ernster ist schon das Bild
des Angeklagten, der mitunter das Gefühl haben mag, als werde über sein
Leben, seine Freiheit oder seine Ehre gewürfelt, wenn er den Reflex einer
glänzenden Redewendung des Staatsanwalts und dann wieder des Verteidigers
ans den Gesichtern der Geschwornen verfolgt. Ein schwacher Trost, dnß in
stärkeren Prozentsatz ungerechtfertigte Freisprechungen als ungerechte Ver¬
urteilungen herauszukommen Pflegen. Ist es nicht traurig: hüben und drüben,
am Nichtertisch wie auf der Geschworueubank eruste, tüchtige Männer, beide
bereit — die Geschwornen unter bewunderungswürdigen Opfern an Zeit und
Geld —, uach ihrem besten Vermögen das Recht zu finden, sich nicht keimend,
sich nicht verstehend oder sich mißverstehend, durch das Gesetz ängstlich vor
jeder verantwortlichen gegenseitigen Aussprache behütet, so dringend auf beiden
Seiten auch das Bedürfnis darnach empfunden wird — es waren zwei Königs¬
kinder, sie konnten zusammen nicht kommen! Wenn der einzige Grund, den
man für dieses unsinnige Gebilde geltend macht: den Richtern müsse jede Be-
einflussung der Geschwornen unmöglich gemacht werden, wirklich Stand hielte,
d. h. wenn die Geschwornen wirklich so wenig Charakter und Urteil besäßen,
daß sie solchen, wie man ohne weiteres unterlegt, ihrer Rechtsüberzeugung
zuwiderlaufenden Einflüssen nicht zu widerstehen vermochten, dann sollte man
doch auch so konsequent sein, für die Mitwirkung solcher Elemente in jeder
Form zu danken. Wären unsre besten Männer, wäre unser ganzes Volk
schon so weit herunter, dann lohnte es doch wahrhaftig nicht mehr, eine»?


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[0411] Unsre Biircailkraien Wäre, besteht heute wohl überall Einverständnis. Sie könnte recht gut mich auf alle Zivilsachen, auf die Oberlandesgerichte und selbst aus das Reichs¬ gericht ausgedehnt werden, wem? sich passende Formen und vor allein tüchtige Männer finden ließen, die »eben den sonstigen zahllosen Anforderungen des öffentlichen Lebens auch dieses Opfer zu bringen bereit waren. Muß es denn aber durchaus in der unförnllichen vorsüudflutlichcu Gestalt des Ge- schworncngerichts geschehen, das man auf dem Umweg über Frankreich aus der Rumpelkammer des englischen Gerichtsverfahrens herübergeholt hat zu einer Zeit, wo die Sonne der bürgerlichen Freiheit nur über Albion zu leuchten schien? Ich habe den mittelalterlichen Hokuspokus der Bildung der Ge- schwvrnenbank, die feierlichen Ablehnungen — merkwürdigerweise gerade der Geschwornen, die dem Staatsanwalt oder dem Verteidiger vorher dringende Abhaltungen für den Sitznngstag angezeigt hatten —, die Lammsgeduld andrer, die gern angethan hätten, aber vier Wochen lang hinter einander täglich von neuem nach ihrer zehn Meilen weit entfernten Heimat entlassen wurden, nie ohne Heiterkeit beobachtet. Auch die obligate Begrüßung der Herren Geschwornen bei Beginn, der Dank des Vorsitzenden bei Schluß der Sitzungen, der tiefempfundene Gegendank des Obmannes, gelegentlich auch seine Quittung über spitze Redensarten, die Nichtigkeit der gefüllten Wahrsprüche betreffend, haben mir viel Vergnügen gemacht. Ernster ist schon das Bild des Angeklagten, der mitunter das Gefühl haben mag, als werde über sein Leben, seine Freiheit oder seine Ehre gewürfelt, wenn er den Reflex einer glänzenden Redewendung des Staatsanwalts und dann wieder des Verteidigers ans den Gesichtern der Geschwornen verfolgt. Ein schwacher Trost, dnß in stärkeren Prozentsatz ungerechtfertigte Freisprechungen als ungerechte Ver¬ urteilungen herauszukommen Pflegen. Ist es nicht traurig: hüben und drüben, am Nichtertisch wie auf der Geschworueubank eruste, tüchtige Männer, beide bereit — die Geschwornen unter bewunderungswürdigen Opfern an Zeit und Geld —, uach ihrem besten Vermögen das Recht zu finden, sich nicht keimend, sich nicht verstehend oder sich mißverstehend, durch das Gesetz ängstlich vor jeder verantwortlichen gegenseitigen Aussprache behütet, so dringend auf beiden Seiten auch das Bedürfnis darnach empfunden wird — es waren zwei Königs¬ kinder, sie konnten zusammen nicht kommen! Wenn der einzige Grund, den man für dieses unsinnige Gebilde geltend macht: den Richtern müsse jede Be- einflussung der Geschwornen unmöglich gemacht werden, wirklich Stand hielte, d. h. wenn die Geschwornen wirklich so wenig Charakter und Urteil besäßen, daß sie solchen, wie man ohne weiteres unterlegt, ihrer Rechtsüberzeugung zuwiderlaufenden Einflüssen nicht zu widerstehen vermochten, dann sollte man doch auch so konsequent sein, für die Mitwirkung solcher Elemente in jeder Form zu danken. Wären unsre besten Männer, wäre unser ganzes Volk schon so weit herunter, dann lohnte es doch wahrhaftig nicht mehr, eine»?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/411>, abgerufen am 24.07.2024.