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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Zur Aussprache des Altgriechischen

unsre verderbte erasnlische Aussprache noch näher an die der klassischen
Athener hinanreicht als die der Neugriechen.

Wenn sich die Bittsteller in Athen gedrungen fühlten, für die neugriechische
Aussprache des Altgriechischen einzutreten, so hätten sie besser gethan, das
zerrissene, fadenscheinige und durchlöcherte Mäntelchen einer gewaltsamen
historisch-wissenschaftlichen Begründung beiseite zu lassen. Damit überzeugen
sie keinen Denkenden, schaffen vielmehr von vornherein ein gewisses Mi߬
trauen, da sich die Sache auf solchen Krücken einherbewegt. Nein, sie hätten
sich auf den Standpunkt stellen müssen, ihren Antrag lediglich aus praktischen
Gründen zu empfehlen, dann wäre ihnen die schiefe Stellung erspart geblieben,
in die sie so gekommen sind. Freilich würden sie auch dann auf bessern Erfolg
ihrer Bemühungen schwerlich zu rechnen haben- Die Zahl der Deutschen oder
genauer ausgedrückt der gymnasial-gebildeten Deutschen -- denn die, die nicht
Altgriechisch gelernt haben, können hier überhaupt uicht mitzählen -- im neu¬
griechischen Sprachgebiet ist zu gering, als daß man aus Mitleid mit ihrer
"großen Pein" gegen die innere Überzeugung eine eingreifende Umgestaltung
vornehmen dürfte. Ein Privilegium, das man ihnen gewährte, könnte, wie
schon angedeutet, leicht zu bedenklichen Schlußfolgerungen hinsichtlich der Aus¬
sprache des Lateinischen benutzt werdeu.

Und wer bürgt dafür, daß die Neugriechen, wenn man ihnen einmal den
kleinen Finger gegeben hat, nicht die ganze Hand nehmen werden? Da wird
vielleicht über kurz oder lang ans praktischen Gründen in Griechenland die
historische Rechtschreibung abgeschafft und durch eine phonetische ersetzt. Haben
wir den in Hellas lebenden Deutschen zuliebe die neugriechische Aussprache
angenommen, dann müssen wir aus demselben Grunde, wenn es den Griechen
paßt, auch eine neue Orthographie annehmen, die uns gewaltig von dein Alt¬
griechischen entfernen würde. So könnte es mit Grazie in iirllniwin fortgehen
bis zur völligen Verdrängung der altgriechischen Sprache durch die neugriechische.
Der erste Schritt würde uns auf eine schiese Ebene setzen, auf der wir keinen
Halt mehr finden könnten.

Die Sache hat aber auch noch eine andre, bisher wenig beachtete Seile,
die mit unserm geistigen Leben in engster Berührung steht. Wir haben in
unsrer Litteratur den griechischen Dichtern und Denkern wie den griechischen
Ortsnamen längst Heimatrecht gewährt; ihre Namen sind da überall zu finden,
aber alle nach erasmischer Aussprache oder in latinisirter Form. Dringt die
neugriechische Aussprache in unsre Gymnasien ein, so wird ein unheilvolles
Mißverhältnis geschaffen zwischen den in unsrer Litteratur eingebürgerten
griechischen Raumformen und deren in den Schulen gelehrter Aussprache.
Bei Lessing, Goethe, Schiller liest der junge Mann von Homer, Ödip, Orpheus,
Euripides, Pausanias, während er nach der Schulvorschrift Omir, Jdip, Orphefs,
Ewripidis, Pafsauias sagen müßte. Manche Personen- und Ortsnamen würden


Zur Aussprache des Altgriechischen

unsre verderbte erasnlische Aussprache noch näher an die der klassischen
Athener hinanreicht als die der Neugriechen.

Wenn sich die Bittsteller in Athen gedrungen fühlten, für die neugriechische
Aussprache des Altgriechischen einzutreten, so hätten sie besser gethan, das
zerrissene, fadenscheinige und durchlöcherte Mäntelchen einer gewaltsamen
historisch-wissenschaftlichen Begründung beiseite zu lassen. Damit überzeugen
sie keinen Denkenden, schaffen vielmehr von vornherein ein gewisses Mi߬
trauen, da sich die Sache auf solchen Krücken einherbewegt. Nein, sie hätten
sich auf den Standpunkt stellen müssen, ihren Antrag lediglich aus praktischen
Gründen zu empfehlen, dann wäre ihnen die schiefe Stellung erspart geblieben,
in die sie so gekommen sind. Freilich würden sie auch dann auf bessern Erfolg
ihrer Bemühungen schwerlich zu rechnen haben- Die Zahl der Deutschen oder
genauer ausgedrückt der gymnasial-gebildeten Deutschen — denn die, die nicht
Altgriechisch gelernt haben, können hier überhaupt uicht mitzählen — im neu¬
griechischen Sprachgebiet ist zu gering, als daß man aus Mitleid mit ihrer
„großen Pein" gegen die innere Überzeugung eine eingreifende Umgestaltung
vornehmen dürfte. Ein Privilegium, das man ihnen gewährte, könnte, wie
schon angedeutet, leicht zu bedenklichen Schlußfolgerungen hinsichtlich der Aus¬
sprache des Lateinischen benutzt werdeu.

Und wer bürgt dafür, daß die Neugriechen, wenn man ihnen einmal den
kleinen Finger gegeben hat, nicht die ganze Hand nehmen werden? Da wird
vielleicht über kurz oder lang ans praktischen Gründen in Griechenland die
historische Rechtschreibung abgeschafft und durch eine phonetische ersetzt. Haben
wir den in Hellas lebenden Deutschen zuliebe die neugriechische Aussprache
angenommen, dann müssen wir aus demselben Grunde, wenn es den Griechen
paßt, auch eine neue Orthographie annehmen, die uns gewaltig von dein Alt¬
griechischen entfernen würde. So könnte es mit Grazie in iirllniwin fortgehen
bis zur völligen Verdrängung der altgriechischen Sprache durch die neugriechische.
Der erste Schritt würde uns auf eine schiese Ebene setzen, auf der wir keinen
Halt mehr finden könnten.

Die Sache hat aber auch noch eine andre, bisher wenig beachtete Seile,
die mit unserm geistigen Leben in engster Berührung steht. Wir haben in
unsrer Litteratur den griechischen Dichtern und Denkern wie den griechischen
Ortsnamen längst Heimatrecht gewährt; ihre Namen sind da überall zu finden,
aber alle nach erasmischer Aussprache oder in latinisirter Form. Dringt die
neugriechische Aussprache in unsre Gymnasien ein, so wird ein unheilvolles
Mißverhältnis geschaffen zwischen den in unsrer Litteratur eingebürgerten
griechischen Raumformen und deren in den Schulen gelehrter Aussprache.
Bei Lessing, Goethe, Schiller liest der junge Mann von Homer, Ödip, Orpheus,
Euripides, Pausanias, während er nach der Schulvorschrift Omir, Jdip, Orphefs,
Ewripidis, Pafsauias sagen müßte. Manche Personen- und Ortsnamen würden


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[0368] Zur Aussprache des Altgriechischen unsre verderbte erasnlische Aussprache noch näher an die der klassischen Athener hinanreicht als die der Neugriechen. Wenn sich die Bittsteller in Athen gedrungen fühlten, für die neugriechische Aussprache des Altgriechischen einzutreten, so hätten sie besser gethan, das zerrissene, fadenscheinige und durchlöcherte Mäntelchen einer gewaltsamen historisch-wissenschaftlichen Begründung beiseite zu lassen. Damit überzeugen sie keinen Denkenden, schaffen vielmehr von vornherein ein gewisses Mi߬ trauen, da sich die Sache auf solchen Krücken einherbewegt. Nein, sie hätten sich auf den Standpunkt stellen müssen, ihren Antrag lediglich aus praktischen Gründen zu empfehlen, dann wäre ihnen die schiefe Stellung erspart geblieben, in die sie so gekommen sind. Freilich würden sie auch dann auf bessern Erfolg ihrer Bemühungen schwerlich zu rechnen haben- Die Zahl der Deutschen oder genauer ausgedrückt der gymnasial-gebildeten Deutschen — denn die, die nicht Altgriechisch gelernt haben, können hier überhaupt uicht mitzählen — im neu¬ griechischen Sprachgebiet ist zu gering, als daß man aus Mitleid mit ihrer „großen Pein" gegen die innere Überzeugung eine eingreifende Umgestaltung vornehmen dürfte. Ein Privilegium, das man ihnen gewährte, könnte, wie schon angedeutet, leicht zu bedenklichen Schlußfolgerungen hinsichtlich der Aus¬ sprache des Lateinischen benutzt werdeu. Und wer bürgt dafür, daß die Neugriechen, wenn man ihnen einmal den kleinen Finger gegeben hat, nicht die ganze Hand nehmen werden? Da wird vielleicht über kurz oder lang ans praktischen Gründen in Griechenland die historische Rechtschreibung abgeschafft und durch eine phonetische ersetzt. Haben wir den in Hellas lebenden Deutschen zuliebe die neugriechische Aussprache angenommen, dann müssen wir aus demselben Grunde, wenn es den Griechen paßt, auch eine neue Orthographie annehmen, die uns gewaltig von dein Alt¬ griechischen entfernen würde. So könnte es mit Grazie in iirllniwin fortgehen bis zur völligen Verdrängung der altgriechischen Sprache durch die neugriechische. Der erste Schritt würde uns auf eine schiese Ebene setzen, auf der wir keinen Halt mehr finden könnten. Die Sache hat aber auch noch eine andre, bisher wenig beachtete Seile, die mit unserm geistigen Leben in engster Berührung steht. Wir haben in unsrer Litteratur den griechischen Dichtern und Denkern wie den griechischen Ortsnamen längst Heimatrecht gewährt; ihre Namen sind da überall zu finden, aber alle nach erasmischer Aussprache oder in latinisirter Form. Dringt die neugriechische Aussprache in unsre Gymnasien ein, so wird ein unheilvolles Mißverhältnis geschaffen zwischen den in unsrer Litteratur eingebürgerten griechischen Raumformen und deren in den Schulen gelehrter Aussprache. Bei Lessing, Goethe, Schiller liest der junge Mann von Homer, Ödip, Orpheus, Euripides, Pausanias, während er nach der Schulvorschrift Omir, Jdip, Orphefs, Ewripidis, Pafsauias sagen müßte. Manche Personen- und Ortsnamen würden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/368>, abgerufen am 24.07.2024.