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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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D.is gleiche Wahlrecht

nehmenden Nachfolger des großen Staatsmannes abgeben. Und warum sollte
ein Nachfolger nicht einmal Barzilai oder Jmbriani heißen, da Frankreich ein
Ministerium Goblet erlebt hat und die erste beste Abstimmung den wenig
ehrwürdigen Greis Gladstone noch einmal an die Spitze der Geschäfte bringen
kann, trotz aller Thorheiten, die er getrieben hat und noch treibt.

Das sind Phantasiegebilde, die aber einer realen Grundlage nicht ent¬
behren, und die Moral davon ist: mit einem parlamentarisch regierten Staate
lassen sich keine soliden Bündnisse abschließen.

Selbstverständlich werden diesen Zusammenhang alle die nicht zugeben,
die an Parlamentarismus und allgemeines Stimmrecht so fest und einfältig
glauben, wie andre an Sebastian Kneipp oder an das Wasser von Lourdes.
Wenn irgendwo die Staatsmaschine nicht ganz glatt arbeitet, so liegt daS
einzig daran, daß entweder das Wundermittel überhaupt fehlt, oder daß die
beiden Ingredienzien nicht richtig gemischt werden. Deutschland hat das all¬
gemeine Wahlrecht, aber nicht den Parlamentarismus, Österreich und Belgien
besitzen ihn, doch nur beschränkte Wahlen, daher sind die erleuchtetsten Liberalen
darüber einig, daß ein parlamentarisches Ministerium in Berlin, allgemeine
Wahlen in Wien und Brüssel sofort alle Schwierigkeiten und Verlegenheiten
beseitigen würden, mögen sie nationaler, politischer, religiöser oder wirtschaft¬
licher und sozialer Natur sein. In wahrhaft rührender Unschuld bringen die
Zeitungen immer wieder den Satz vor, das allgemeine Stimmrecht lasse alle
Parteien zu Worte kommen, und in friedlicher Erörterung verlören alle Be¬
strebungen ihren etwa gefährlichen Charakter. Als ob z. B. durch den Ein¬
tritt von Sozialdemokraten in den deutschen Reichstag die soziale Frage in
das Stadium ruhiger Erörterung gebracht, die Gegensätze gemildert worden
wären; als ob nicht ungeachtet des überall thätigen Bemühens um die Ver¬
besserung des Loses der Arbeiterbevölkerung von dieser selbst Pflastersteine,
Revolver, Dolche und Dynamik als Argumente für ihre Wünsche bevorzugt
würden. Oder verdient etwa die beliebte Ausrede, für die "bedauerlichen
Ausschreitungen" seien nicht die Arbeiter, nicht die Sozialdemokraten, sondern
die Anarchisten verantwortlich zu machen, ernsthafte Berücksichtigung? Die
verschiedenen Gruppen unterscheiden sich in der Hauptsache nur durch das
größere oder geringere Maß von Vorsicht. Die einen wollen das Oberste zu
unterst stürzen, aber "nur mit gesetzlichen Mitteln," die andern beginnen das
Reformwerk frisch und frei mit Mordanfällen auf Polizeibeamte und Gendarmen
oder noch verruchter und zugleich feiger mit Petarden u. tgi. Wie weit die
Verwirrung der sittlichen Begriffe gediehen ist, haben uns wieder die Vorgänge
in der italienischen und in der französischen Kammer gelehrt, wo die Leute,
die mit ihrem Leib und Leben für die Aufrechterhaltung der Ordnung und
den Schutz ihrer Mitbürger einstehen mußten, als Mörder gebrandmarkt
wurden, weil sie sich ihrer Haut gewehrt haben, anstatt die Angriffe einer


D.is gleiche Wahlrecht

nehmenden Nachfolger des großen Staatsmannes abgeben. Und warum sollte
ein Nachfolger nicht einmal Barzilai oder Jmbriani heißen, da Frankreich ein
Ministerium Goblet erlebt hat und die erste beste Abstimmung den wenig
ehrwürdigen Greis Gladstone noch einmal an die Spitze der Geschäfte bringen
kann, trotz aller Thorheiten, die er getrieben hat und noch treibt.

Das sind Phantasiegebilde, die aber einer realen Grundlage nicht ent¬
behren, und die Moral davon ist: mit einem parlamentarisch regierten Staate
lassen sich keine soliden Bündnisse abschließen.

Selbstverständlich werden diesen Zusammenhang alle die nicht zugeben,
die an Parlamentarismus und allgemeines Stimmrecht so fest und einfältig
glauben, wie andre an Sebastian Kneipp oder an das Wasser von Lourdes.
Wenn irgendwo die Staatsmaschine nicht ganz glatt arbeitet, so liegt daS
einzig daran, daß entweder das Wundermittel überhaupt fehlt, oder daß die
beiden Ingredienzien nicht richtig gemischt werden. Deutschland hat das all¬
gemeine Wahlrecht, aber nicht den Parlamentarismus, Österreich und Belgien
besitzen ihn, doch nur beschränkte Wahlen, daher sind die erleuchtetsten Liberalen
darüber einig, daß ein parlamentarisches Ministerium in Berlin, allgemeine
Wahlen in Wien und Brüssel sofort alle Schwierigkeiten und Verlegenheiten
beseitigen würden, mögen sie nationaler, politischer, religiöser oder wirtschaft¬
licher und sozialer Natur sein. In wahrhaft rührender Unschuld bringen die
Zeitungen immer wieder den Satz vor, das allgemeine Stimmrecht lasse alle
Parteien zu Worte kommen, und in friedlicher Erörterung verlören alle Be¬
strebungen ihren etwa gefährlichen Charakter. Als ob z. B. durch den Ein¬
tritt von Sozialdemokraten in den deutschen Reichstag die soziale Frage in
das Stadium ruhiger Erörterung gebracht, die Gegensätze gemildert worden
wären; als ob nicht ungeachtet des überall thätigen Bemühens um die Ver¬
besserung des Loses der Arbeiterbevölkerung von dieser selbst Pflastersteine,
Revolver, Dolche und Dynamik als Argumente für ihre Wünsche bevorzugt
würden. Oder verdient etwa die beliebte Ausrede, für die „bedauerlichen
Ausschreitungen" seien nicht die Arbeiter, nicht die Sozialdemokraten, sondern
die Anarchisten verantwortlich zu machen, ernsthafte Berücksichtigung? Die
verschiedenen Gruppen unterscheiden sich in der Hauptsache nur durch das
größere oder geringere Maß von Vorsicht. Die einen wollen das Oberste zu
unterst stürzen, aber „nur mit gesetzlichen Mitteln," die andern beginnen das
Reformwerk frisch und frei mit Mordanfällen auf Polizeibeamte und Gendarmen
oder noch verruchter und zugleich feiger mit Petarden u. tgi. Wie weit die
Verwirrung der sittlichen Begriffe gediehen ist, haben uns wieder die Vorgänge
in der italienischen und in der französischen Kammer gelehrt, wo die Leute,
die mit ihrem Leib und Leben für die Aufrechterhaltung der Ordnung und
den Schutz ihrer Mitbürger einstehen mußten, als Mörder gebrandmarkt
wurden, weil sie sich ihrer Haut gewehrt haben, anstatt die Angriffe einer


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/359>, abgerufen am 24.07.2024.