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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Schopenhauer redivivus

und die Bezeichnung "Wille" ans den "blinden Drang" überträgt, der in der
unorganischen Natur ,,als ein finstres, dumpfes Treiben, als erkenntnisloses
Streben" waltet, vernichtet er damit den Wert seiner Entdeckung: das Er¬
kennbare, das er gefunden hatte, das helle Licht des bewußten Willens giebt
er preis und bietet uns dafür als Erklürnngsgruud der Welt wieder ein
Unerkennbares und Undenkbares dar, den "blinden Drang." Indem also
Schopenhauer den Willen gerade in der Gestalt leugnet, die für die Erklärung
der Welt am notwendigsten und ganz unentbehrlich ist, verzichtet er ebenso
auf die Erklärung der Welt, d. h. ans den Kern aller Philosophie, wie der
Materialist es zu thun genötigt ist, wenn er sich nicht mit Redensarten be¬
trügt. Warum wir Gott nicht wahrnehmen, sondern nnr ahnen und auf sein
Dasein schließen können, dafür hat Schopenhauer selbst den Grund angegeben
an einer Stelle, wo er freilich gar nicht an Gott dachte. Sehr schön sagt
er (Ausgabe von Brasch. Bd. 2, S. 597): "Keiner kann über sich sehen.
Hiermit will ich sagen, jeder sieht am andern nur so viel, als er selbst auch
ist, denn er kann ihn nur nach Maßgabe seiner eignen Intelligenz fassen und
verstehen. Ist nnn diese von der niedrigsten Art, so werden alle Geistesgaben,
auch die größten, ihre Wirkung ans ihn verfehlen und er an dem Besitzer
derselben nichts wahrnehmen, als bloß das niedrigste in dessen Individua¬
lität, also nur dessen sämtliche Schwächen, Temperaments- und Charakterfehler.
Daraus wird er für ihn zusammengesetzt sein. Die höher" geistigen Fähig¬
keiten desselben siud sür ihn so wenig vorhanden, wie die Farbe für den
Blinden. Denn alle Geister sind dem unsichtbar, der keinen hat." Der Ein¬
wand, daß der niedrigere Menschengeist vom höhern doch wenigstens die sinn¬
liche Erscheinung, den Leib wahrnehme, hat in unsrer Zeit kein Gewicht mehr.
Nehmen wir doch auch die Körper- und Ätheratome nicht wahr, die nach
unsrer heutigen Physik die Grundbestandteile aller körperlichen Dinge sind,
oder, weil Schopenhauer ein heftiger Gegner der Atomistik ist, so sagen
wir lieber: ist doch diese ganze sichtbare Welt nnr "unsre Borstellung,"
daher wir selbstverständlich den nicht wahrnehmen können, der über alle
menschliche Vorstellung erhaben, uns unsre besondre Vorstellungsweise ein¬
gerichtet hat.

Deu Ontologischen Beweis nennt Schopenhauer "eine allerliebste Schnurre."
Bekanntlich besteht dieser darin, daß das Dasein Gottes ans seinem Begriff
gefolgert wird. Schopenhauer beschuldigt auch Spinoza, sich dieser "Ver¬
wechslung und Vermischung des Verhältnisses zwischen Erkenntnisgrund und
Folge mit dein zwischen Ursache und Wirkung" schuldig gemacht zu haben.
Der Herausgeber nimmt in einer Anmerkung Spinoza in Schutz, er hätte bei
dieser Gelegenheit auch für Hegel und für Anselm von Canterbury ein gutes
Wort einlegen können. Hegel hat vollkommen Recht, wenn er sagt: "Die
kantische Kritik des ontologischen Beweises hat ohne Zweifel auch dadurch eine


Schopenhauer redivivus

und die Bezeichnung „Wille" ans den „blinden Drang" überträgt, der in der
unorganischen Natur ,,als ein finstres, dumpfes Treiben, als erkenntnisloses
Streben" waltet, vernichtet er damit den Wert seiner Entdeckung: das Er¬
kennbare, das er gefunden hatte, das helle Licht des bewußten Willens giebt
er preis und bietet uns dafür als Erklürnngsgruud der Welt wieder ein
Unerkennbares und Undenkbares dar, den „blinden Drang." Indem also
Schopenhauer den Willen gerade in der Gestalt leugnet, die für die Erklärung
der Welt am notwendigsten und ganz unentbehrlich ist, verzichtet er ebenso
auf die Erklärung der Welt, d. h. ans den Kern aller Philosophie, wie der
Materialist es zu thun genötigt ist, wenn er sich nicht mit Redensarten be¬
trügt. Warum wir Gott nicht wahrnehmen, sondern nnr ahnen und auf sein
Dasein schließen können, dafür hat Schopenhauer selbst den Grund angegeben
an einer Stelle, wo er freilich gar nicht an Gott dachte. Sehr schön sagt
er (Ausgabe von Brasch. Bd. 2, S. 597): „Keiner kann über sich sehen.
Hiermit will ich sagen, jeder sieht am andern nur so viel, als er selbst auch
ist, denn er kann ihn nur nach Maßgabe seiner eignen Intelligenz fassen und
verstehen. Ist nnn diese von der niedrigsten Art, so werden alle Geistesgaben,
auch die größten, ihre Wirkung ans ihn verfehlen und er an dem Besitzer
derselben nichts wahrnehmen, als bloß das niedrigste in dessen Individua¬
lität, also nur dessen sämtliche Schwächen, Temperaments- und Charakterfehler.
Daraus wird er für ihn zusammengesetzt sein. Die höher« geistigen Fähig¬
keiten desselben siud sür ihn so wenig vorhanden, wie die Farbe für den
Blinden. Denn alle Geister sind dem unsichtbar, der keinen hat." Der Ein¬
wand, daß der niedrigere Menschengeist vom höhern doch wenigstens die sinn¬
liche Erscheinung, den Leib wahrnehme, hat in unsrer Zeit kein Gewicht mehr.
Nehmen wir doch auch die Körper- und Ätheratome nicht wahr, die nach
unsrer heutigen Physik die Grundbestandteile aller körperlichen Dinge sind,
oder, weil Schopenhauer ein heftiger Gegner der Atomistik ist, so sagen
wir lieber: ist doch diese ganze sichtbare Welt nnr „unsre Borstellung,"
daher wir selbstverständlich den nicht wahrnehmen können, der über alle
menschliche Vorstellung erhaben, uns unsre besondre Vorstellungsweise ein¬
gerichtet hat.

Deu Ontologischen Beweis nennt Schopenhauer „eine allerliebste Schnurre."
Bekanntlich besteht dieser darin, daß das Dasein Gottes ans seinem Begriff
gefolgert wird. Schopenhauer beschuldigt auch Spinoza, sich dieser „Ver¬
wechslung und Vermischung des Verhältnisses zwischen Erkenntnisgrund und
Folge mit dein zwischen Ursache und Wirkung" schuldig gemacht zu haben.
Der Herausgeber nimmt in einer Anmerkung Spinoza in Schutz, er hätte bei
dieser Gelegenheit auch für Hegel und für Anselm von Canterbury ein gutes
Wort einlegen können. Hegel hat vollkommen Recht, wenn er sagt: „Die
kantische Kritik des ontologischen Beweises hat ohne Zweifel auch dadurch eine


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/35>, abgerufen am 24.07.2024.