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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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setzten Meisterdramen der Spanier unterstützt wird, vollkommen genügen.
Schäffers Werk hat mit seiner größern Vollständigkeit, seiner knappern und
wesentlich nüchternern Inhaltsangabe der Dramen für ganz andre und viel
engere Lebens- und Lesekreise Bedeutung. Im Schlußwort gesteht der Ver¬
fasser selbst zu, daß er vor allem die im Auge hatte, die sich gedrungen fühlen,
der edeln kastilianischen Zunge mächtig zu werden. So wenig, meint Schäffer,
es vom "allgemeinen Kultnrstandpunkte aus" (auch eins jener verhängnisvollen
Worte, bei denen sich jeder alles denken kann!) zu beklagen sei, daß die Zeiten
einer wirklich nationalen Litteratur infolge des innigen Wechselverkehrs der
Völker. Europas unwiederbringlich vorüber seien, "so sehr gewinnt der Rückblick
auf ältere Litteraturperioden an Interesse für jeden Gebildeten. Und daß in
dem von uns behandelten Abschnitt eine der gewaltigsten Äußerungen des
Nationalgefühls eines Volkes ans Licht tritt, ist unbestreitbar. Nicht allein
steht das altspanische Theater gänzlich auf sich selbst, indem es weder dem
klassischen Altertum noch irgend einer neuern Dramatik die geringste Ver¬
pflichtung^) schuldet(I); nicht allein hat es eine bestimmende Wirkung auf die
französische, in geringerm Grade auch auf die spätere englische und italienische
Bühnendichtung geübt, es steht auch da als eine homogene Masse von so ge¬
waltigem Umfange, wie sie in der Litteraturgeschichte keiner andern Nation
wieder erscheint. Daß sich unter diesem Reichtum vieles vorfindet, was unbe¬
deutend, schal oder gar verderblich ist, daß selbst den bessern Produktionen
Fehler und Gebrechen anhaften, die uns im künstlerischen Genusse stören, ver¬
steht sich von selbst und ist von uns nicht verschleiert, sondern deutlich hervor¬
gehoben worden. Aber diese menschliche UnVollkommenheit zugegeben, bleibt
überreichlicher Stoff zu warmer Bewunderung. Mit ungeteiltem Stolze darf
das spanische Volk ans jene glorreiche Epoche zurückblicken; mit nationalem
Selbstbewußtsein darf es sich des unendlichen Schatzes freuen, dem seine Vor¬
fahren mit so rastloser Energie zusammengetragen haben. Aber auch dem
Litteratnrfreunde jeder andern Nation blühen jene Rosen, wenn er sich nnr
entschließen kann, die nicht übermäßig schlimmen Dornen zu überwinden, welche
die Erlernung der Sprache des Cervantes darbietet. Dann aber beleben sich
vor seinen erstaunten Sinnen die romantischen Gestalten einer ritterlichen Vor¬
zeit, das Dornröschen der altspanischen Dramatik schlägt die Augen auf und
belohnt mit seinem entzückenden Anblick den mutigen Erforscher seines Zauber-
reiches."

So wenig wir einen Menschen, den nach jenem "geistigen Genuß, der
aus edeln Rhythmen träuft," dürstet, vom spanischen Quell zurückhalten möchten,
so ist es doch unsre Überzeugung, daß die Periode, in der die spanische Poesie
Einfluß auf unsre eigne Litteratur gewonnen und gehabt hat, für immer
vorüber ist. Friedrich Halm war der letzte namhaftere Dichter, dessen Ent¬
wicklung uuter spanischem Einfluß stand, und der verblassende Schimmer


Grenzboten II 1891 44
spanisches

setzten Meisterdramen der Spanier unterstützt wird, vollkommen genügen.
Schäffers Werk hat mit seiner größern Vollständigkeit, seiner knappern und
wesentlich nüchternern Inhaltsangabe der Dramen für ganz andre und viel
engere Lebens- und Lesekreise Bedeutung. Im Schlußwort gesteht der Ver¬
fasser selbst zu, daß er vor allem die im Auge hatte, die sich gedrungen fühlen,
der edeln kastilianischen Zunge mächtig zu werden. So wenig, meint Schäffer,
es vom „allgemeinen Kultnrstandpunkte aus" (auch eins jener verhängnisvollen
Worte, bei denen sich jeder alles denken kann!) zu beklagen sei, daß die Zeiten
einer wirklich nationalen Litteratur infolge des innigen Wechselverkehrs der
Völker. Europas unwiederbringlich vorüber seien, „so sehr gewinnt der Rückblick
auf ältere Litteraturperioden an Interesse für jeden Gebildeten. Und daß in
dem von uns behandelten Abschnitt eine der gewaltigsten Äußerungen des
Nationalgefühls eines Volkes ans Licht tritt, ist unbestreitbar. Nicht allein
steht das altspanische Theater gänzlich auf sich selbst, indem es weder dem
klassischen Altertum noch irgend einer neuern Dramatik die geringste Ver¬
pflichtung^) schuldet(I); nicht allein hat es eine bestimmende Wirkung auf die
französische, in geringerm Grade auch auf die spätere englische und italienische
Bühnendichtung geübt, es steht auch da als eine homogene Masse von so ge¬
waltigem Umfange, wie sie in der Litteraturgeschichte keiner andern Nation
wieder erscheint. Daß sich unter diesem Reichtum vieles vorfindet, was unbe¬
deutend, schal oder gar verderblich ist, daß selbst den bessern Produktionen
Fehler und Gebrechen anhaften, die uns im künstlerischen Genusse stören, ver¬
steht sich von selbst und ist von uns nicht verschleiert, sondern deutlich hervor¬
gehoben worden. Aber diese menschliche UnVollkommenheit zugegeben, bleibt
überreichlicher Stoff zu warmer Bewunderung. Mit ungeteiltem Stolze darf
das spanische Volk ans jene glorreiche Epoche zurückblicken; mit nationalem
Selbstbewußtsein darf es sich des unendlichen Schatzes freuen, dem seine Vor¬
fahren mit so rastloser Energie zusammengetragen haben. Aber auch dem
Litteratnrfreunde jeder andern Nation blühen jene Rosen, wenn er sich nnr
entschließen kann, die nicht übermäßig schlimmen Dornen zu überwinden, welche
die Erlernung der Sprache des Cervantes darbietet. Dann aber beleben sich
vor seinen erstaunten Sinnen die romantischen Gestalten einer ritterlichen Vor¬
zeit, das Dornröschen der altspanischen Dramatik schlägt die Augen auf und
belohnt mit seinem entzückenden Anblick den mutigen Erforscher seines Zauber-
reiches."

So wenig wir einen Menschen, den nach jenem „geistigen Genuß, der
aus edeln Rhythmen träuft," dürstet, vom spanischen Quell zurückhalten möchten,
so ist es doch unsre Überzeugung, daß die Periode, in der die spanische Poesie
Einfluß auf unsre eigne Litteratur gewonnen und gehabt hat, für immer
vorüber ist. Friedrich Halm war der letzte namhaftere Dichter, dessen Ent¬
wicklung uuter spanischem Einfluß stand, und der verblassende Schimmer


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[0349] spanisches setzten Meisterdramen der Spanier unterstützt wird, vollkommen genügen. Schäffers Werk hat mit seiner größern Vollständigkeit, seiner knappern und wesentlich nüchternern Inhaltsangabe der Dramen für ganz andre und viel engere Lebens- und Lesekreise Bedeutung. Im Schlußwort gesteht der Ver¬ fasser selbst zu, daß er vor allem die im Auge hatte, die sich gedrungen fühlen, der edeln kastilianischen Zunge mächtig zu werden. So wenig, meint Schäffer, es vom „allgemeinen Kultnrstandpunkte aus" (auch eins jener verhängnisvollen Worte, bei denen sich jeder alles denken kann!) zu beklagen sei, daß die Zeiten einer wirklich nationalen Litteratur infolge des innigen Wechselverkehrs der Völker. Europas unwiederbringlich vorüber seien, „so sehr gewinnt der Rückblick auf ältere Litteraturperioden an Interesse für jeden Gebildeten. Und daß in dem von uns behandelten Abschnitt eine der gewaltigsten Äußerungen des Nationalgefühls eines Volkes ans Licht tritt, ist unbestreitbar. Nicht allein steht das altspanische Theater gänzlich auf sich selbst, indem es weder dem klassischen Altertum noch irgend einer neuern Dramatik die geringste Ver¬ pflichtung^) schuldet(I); nicht allein hat es eine bestimmende Wirkung auf die französische, in geringerm Grade auch auf die spätere englische und italienische Bühnendichtung geübt, es steht auch da als eine homogene Masse von so ge¬ waltigem Umfange, wie sie in der Litteraturgeschichte keiner andern Nation wieder erscheint. Daß sich unter diesem Reichtum vieles vorfindet, was unbe¬ deutend, schal oder gar verderblich ist, daß selbst den bessern Produktionen Fehler und Gebrechen anhaften, die uns im künstlerischen Genusse stören, ver¬ steht sich von selbst und ist von uns nicht verschleiert, sondern deutlich hervor¬ gehoben worden. Aber diese menschliche UnVollkommenheit zugegeben, bleibt überreichlicher Stoff zu warmer Bewunderung. Mit ungeteiltem Stolze darf das spanische Volk ans jene glorreiche Epoche zurückblicken; mit nationalem Selbstbewußtsein darf es sich des unendlichen Schatzes freuen, dem seine Vor¬ fahren mit so rastloser Energie zusammengetragen haben. Aber auch dem Litteratnrfreunde jeder andern Nation blühen jene Rosen, wenn er sich nnr entschließen kann, die nicht übermäßig schlimmen Dornen zu überwinden, welche die Erlernung der Sprache des Cervantes darbietet. Dann aber beleben sich vor seinen erstaunten Sinnen die romantischen Gestalten einer ritterlichen Vor¬ zeit, das Dornröschen der altspanischen Dramatik schlägt die Augen auf und belohnt mit seinem entzückenden Anblick den mutigen Erforscher seines Zauber- reiches." So wenig wir einen Menschen, den nach jenem „geistigen Genuß, der aus edeln Rhythmen träuft," dürstet, vom spanischen Quell zurückhalten möchten, so ist es doch unsre Überzeugung, daß die Periode, in der die spanische Poesie Einfluß auf unsre eigne Litteratur gewonnen und gehabt hat, für immer vorüber ist. Friedrich Halm war der letzte namhaftere Dichter, dessen Ent¬ wicklung uuter spanischem Einfluß stand, und der verblassende Schimmer Grenzboten II 1891 44

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/349>, abgerufen am 04.07.2024.