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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Sitten der Zehntausend von Menschen, die in spanischer Poesie lebendig und
greifbar deutlich geschildert sind, von allem ab, was uns vertraut, uus über¬
liefert ist. Es ist eine Welt, die wir verstehen, in der wir aber nicht mit
leben können, selbst der Gehalt des rein menschlichen, allgemein menschlichen,
der sich, wie in jeder echten Dichtung, anch in der spanischen Poesie findet,
ist in neunundneunzig von je hundert Dichtungen so stark mit spanischer
Besonderheit und spanischem Glauben gemischt, daß er nicht rein und un-
mittelbar zu wirken vermag. Und das gilt nicht nur von uns deutschen Pro¬
testanten, sondern im wesentlichen auch von den deutscheu Katholiken. Weil
die spanischen Dramatiker des siebzehnten Jahrhunderts die letzten großen von
katholischer Überzeugung und katholischer Weltanschauung erfüllten Dichter ge¬
wesen sind, versucht die ultramontane Kritik und Litteratnrweisheit immer
aufs neue Lope de Vega und Calderon unsern katholischen Landsleuten als
poetische Geistesncchrnng zu empfehle". Selbst wenn zwischen der ekstatischen
Glanbensglut, der fanatischen Kirchlichkeit der Spanier und dem Glaubens¬
leben und der religiösen Empfindung deutscher Katholiken kein so weiter und
tiefer Abstand wäre, als er thatsächlich vorhanden ist, so macht es doch die
Grundverschiedenheit der gesellschaftlichen Zustände, der Menschen, ihrer häus¬
lichen und persönlichen Ideale, anch für deutsche Katholiken des neunzehnten
Jahrhunderts völlig unmöglich, in der spanischen Dichtung warm und heimisch
zu werden und sie ohne Reflexion lind historische Beihilfe zu genießen.

Als das Publikum des Dresdner Hoftheaters, gegen Tieck aufgehetzt,
Calderons "Dame Kobold" ausgepfiffen hatte, konnte man das allerdings ein
Urteil zu Gunsten der Trivialität gegen die Feinheit und graziöse Beweglichkeit
des spanischen Lustspiels nennen. Aber nachdem ein halbes Jahrhundert lang
fortgesetzte Versuche gemacht worden sind, eine größere Anzahl spanischer Dramen
bei uns einzubürgern, seitdem längst kein Streit mehr über den poetischen
Wert der spanischen Litteratur stattfindet, aber anch die vortrefflichsten
Übertragungen und Bearbeitungen immer wieder nur einen kleinsten, engsten
Kreis von Lesern zu erwerben vermochten, nachdem der unüberwindliche Unter¬
schied spanischen und deutschen Lebens zum allgemeiner"! Bewußtsein gelangt
ist, wird mau kaum auf eine Änderung der Sachlage hoffen dürfen. Und
alle tendenziöse Betonung der Rechtgläubigkeit und Andachtsglut der Spanier
kann diese Sachlage uur verschlimmern, nicht verbessern.

Dies schließt natürlich nicht aus, daß Litteraturgeschichte und Litteratur-
kunde nach wie vor Anteil an der vergangnen Herrlichkeit der spanischen
poetischen Litteratur nehmen. Vor kurzem ist wieder eine umfassende und
gründliche Arbeit von Adolf Schüffer,*) eine Geschichte des spanischen



Geschichte des spanischen Nntionaldramas von Adolf Schäffer. Zwei
Bände. Leipzig, F, A. Brockhaus, 1890.

Sitten der Zehntausend von Menschen, die in spanischer Poesie lebendig und
greifbar deutlich geschildert sind, von allem ab, was uns vertraut, uus über¬
liefert ist. Es ist eine Welt, die wir verstehen, in der wir aber nicht mit
leben können, selbst der Gehalt des rein menschlichen, allgemein menschlichen,
der sich, wie in jeder echten Dichtung, anch in der spanischen Poesie findet,
ist in neunundneunzig von je hundert Dichtungen so stark mit spanischer
Besonderheit und spanischem Glauben gemischt, daß er nicht rein und un-
mittelbar zu wirken vermag. Und das gilt nicht nur von uns deutschen Pro¬
testanten, sondern im wesentlichen auch von den deutscheu Katholiken. Weil
die spanischen Dramatiker des siebzehnten Jahrhunderts die letzten großen von
katholischer Überzeugung und katholischer Weltanschauung erfüllten Dichter ge¬
wesen sind, versucht die ultramontane Kritik und Litteratnrweisheit immer
aufs neue Lope de Vega und Calderon unsern katholischen Landsleuten als
poetische Geistesncchrnng zu empfehle». Selbst wenn zwischen der ekstatischen
Glanbensglut, der fanatischen Kirchlichkeit der Spanier und dem Glaubens¬
leben und der religiösen Empfindung deutscher Katholiken kein so weiter und
tiefer Abstand wäre, als er thatsächlich vorhanden ist, so macht es doch die
Grundverschiedenheit der gesellschaftlichen Zustände, der Menschen, ihrer häus¬
lichen und persönlichen Ideale, anch für deutsche Katholiken des neunzehnten
Jahrhunderts völlig unmöglich, in der spanischen Dichtung warm und heimisch
zu werden und sie ohne Reflexion lind historische Beihilfe zu genießen.

Als das Publikum des Dresdner Hoftheaters, gegen Tieck aufgehetzt,
Calderons „Dame Kobold" ausgepfiffen hatte, konnte man das allerdings ein
Urteil zu Gunsten der Trivialität gegen die Feinheit und graziöse Beweglichkeit
des spanischen Lustspiels nennen. Aber nachdem ein halbes Jahrhundert lang
fortgesetzte Versuche gemacht worden sind, eine größere Anzahl spanischer Dramen
bei uns einzubürgern, seitdem längst kein Streit mehr über den poetischen
Wert der spanischen Litteratur stattfindet, aber anch die vortrefflichsten
Übertragungen und Bearbeitungen immer wieder nur einen kleinsten, engsten
Kreis von Lesern zu erwerben vermochten, nachdem der unüberwindliche Unter¬
schied spanischen und deutschen Lebens zum allgemeiner»! Bewußtsein gelangt
ist, wird mau kaum auf eine Änderung der Sachlage hoffen dürfen. Und
alle tendenziöse Betonung der Rechtgläubigkeit und Andachtsglut der Spanier
kann diese Sachlage uur verschlimmern, nicht verbessern.

Dies schließt natürlich nicht aus, daß Litteraturgeschichte und Litteratur-
kunde nach wie vor Anteil an der vergangnen Herrlichkeit der spanischen
poetischen Litteratur nehmen. Vor kurzem ist wieder eine umfassende und
gründliche Arbeit von Adolf Schüffer,*) eine Geschichte des spanischen



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Bände. Leipzig, F, A. Brockhaus, 1890.
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[0346] Sitten der Zehntausend von Menschen, die in spanischer Poesie lebendig und greifbar deutlich geschildert sind, von allem ab, was uns vertraut, uus über¬ liefert ist. Es ist eine Welt, die wir verstehen, in der wir aber nicht mit leben können, selbst der Gehalt des rein menschlichen, allgemein menschlichen, der sich, wie in jeder echten Dichtung, anch in der spanischen Poesie findet, ist in neunundneunzig von je hundert Dichtungen so stark mit spanischer Besonderheit und spanischem Glauben gemischt, daß er nicht rein und un- mittelbar zu wirken vermag. Und das gilt nicht nur von uns deutschen Pro¬ testanten, sondern im wesentlichen auch von den deutscheu Katholiken. Weil die spanischen Dramatiker des siebzehnten Jahrhunderts die letzten großen von katholischer Überzeugung und katholischer Weltanschauung erfüllten Dichter ge¬ wesen sind, versucht die ultramontane Kritik und Litteratnrweisheit immer aufs neue Lope de Vega und Calderon unsern katholischen Landsleuten als poetische Geistesncchrnng zu empfehle». Selbst wenn zwischen der ekstatischen Glanbensglut, der fanatischen Kirchlichkeit der Spanier und dem Glaubens¬ leben und der religiösen Empfindung deutscher Katholiken kein so weiter und tiefer Abstand wäre, als er thatsächlich vorhanden ist, so macht es doch die Grundverschiedenheit der gesellschaftlichen Zustände, der Menschen, ihrer häus¬ lichen und persönlichen Ideale, anch für deutsche Katholiken des neunzehnten Jahrhunderts völlig unmöglich, in der spanischen Dichtung warm und heimisch zu werden und sie ohne Reflexion lind historische Beihilfe zu genießen. Als das Publikum des Dresdner Hoftheaters, gegen Tieck aufgehetzt, Calderons „Dame Kobold" ausgepfiffen hatte, konnte man das allerdings ein Urteil zu Gunsten der Trivialität gegen die Feinheit und graziöse Beweglichkeit des spanischen Lustspiels nennen. Aber nachdem ein halbes Jahrhundert lang fortgesetzte Versuche gemacht worden sind, eine größere Anzahl spanischer Dramen bei uns einzubürgern, seitdem längst kein Streit mehr über den poetischen Wert der spanischen Litteratur stattfindet, aber anch die vortrefflichsten Übertragungen und Bearbeitungen immer wieder nur einen kleinsten, engsten Kreis von Lesern zu erwerben vermochten, nachdem der unüberwindliche Unter¬ schied spanischen und deutschen Lebens zum allgemeiner»! Bewußtsein gelangt ist, wird mau kaum auf eine Änderung der Sachlage hoffen dürfen. Und alle tendenziöse Betonung der Rechtgläubigkeit und Andachtsglut der Spanier kann diese Sachlage uur verschlimmern, nicht verbessern. Dies schließt natürlich nicht aus, daß Litteraturgeschichte und Litteratur- kunde nach wie vor Anteil an der vergangnen Herrlichkeit der spanischen poetischen Litteratur nehmen. Vor kurzem ist wieder eine umfassende und gründliche Arbeit von Adolf Schüffer,*) eine Geschichte des spanischen Geschichte des spanischen Nntionaldramas von Adolf Schäffer. Zwei Bände. Leipzig, F, A. Brockhaus, 1890.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/346>, abgerufen am 24.07.2024.