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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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und beschützend, so hat er es keiner recht gemacht. Das Volk, das er vom
Schuldendruck befreit, dem er die Bahn eröffnet hatte zum schrankenlosen Mit-
bewerb um alle Güter des Staates, war uicht befriedigt, denn es hatte eine
allgemeine neue Landverteilnng von ihm gehofft; den Reichen und Vornehmen
aber hatte die Seisachthie in der That schwere Verluste gebracht. So mit
Bitten, Fragen, Vorwürfen und Veschuldiguugen von beiden Seiten bestürmt,
zog er es vor, auf längere Zeit Land und Verfassung sich selbst zu überlassen
und ins Ausland zu gehe", dn er, wie Aristoteles sagt, die Verfassung weder
ändern, noch länger um ihretwillen sich den persönlichen Nnfeindnngen aus¬
setzen wollte.

Von den Staatsmännern der spätern Zeit tritt Theramenes in neue
Beleuchtung. Über ihn spricht Aristoteles ein auffallend günstiges Urteil ans.
Er sagt: "Unter den spätern athenischen Politikern scheinen die besten gewesen
zu sein Niklas, Thukhdides -- der Sohn des Melesias, nicht der Historiker --
und Theramenes. Über die ersten beiden giebt es keine Meinungsverschieden¬
heit; sie waren nach allgemeinem Urteil nicht nur ehrenwert und edel von
Charakter, sondern auch von hoher staatsmännischer Einsicht, treu dem Geiste
der alten demokratischen Verfassung. Dagegen schwankt das Urteil über The¬
ramenes infolge der politischen Kämpfe und Verfassnugsäuderungen zu seiner
Zeit. Wer aber genauer zusieht, der findet, daß er nicht etwa, wie seine
Gegner sagen, alle Verfassungen stürzte, sondern, so lange sie nichts gegen die
Gesetze anordneten, alle förderte, als ein Mann, der es vermochte, unter allen
Verfassungen seine Bürgerpflicht zu erfüllen, wonach der gute Bürger stets
zu streben hat, daß er aber, sowie sie ungesetzlich wurden, sich ihnen nicht
fügte, sondern feindlich gegen sie auftrat." Zu diesem entschiednen ^öde des
Theramenes, der uns in den bisherigen Darstellungen nur als schlauer
Opportunist zweideutigen Charakters entgegentrat, wird die Geschichtschreibung
von nun an Stellung zu nehmen, und das von ihr entworfene Bild zu re-
tonchiren haben. Sie wird sich dabei stützen ans die ausführliche Darstellung,
die in dieser Schrift Aristoteles von der Verfassung der Vierhundert und der
dreißig Tyrannen giebt.

Mit der Wiederherstellung der Demokratie im Jahre 403 v. Chr. nach
dem Sturze der dreißig Tyrannen schließt Aristoteles den ersten, historischen
Teil seiner Schrift, indem er die zwölf Staatsformen, zu denen seiner Auf¬
fassung nach die Verfassungsgeschichte Athens geführt hat, noch einmal zu¬
sammenfaßt. "Als ursprüngliche Verfassung hat die Einrichtung zu gelten,
die nach der Zuwanderung des Ion und seiner Begleiter in Attika getroffen
wurde; damals wurden sie zuerst den vier Phylen zugeteilt und setzten die
Phhlcnkönige ein. Die erste Verfassungsänderung faud unter Theseus Re¬
gierung statt, die ein wenig abbog von dem Wesen der 5tvnigsherrschaft.
Darauf folgte die Reform Drakons, bei der sie zuerst Gesetze auszeichneten.


und beschützend, so hat er es keiner recht gemacht. Das Volk, das er vom
Schuldendruck befreit, dem er die Bahn eröffnet hatte zum schrankenlosen Mit-
bewerb um alle Güter des Staates, war uicht befriedigt, denn es hatte eine
allgemeine neue Landverteilnng von ihm gehofft; den Reichen und Vornehmen
aber hatte die Seisachthie in der That schwere Verluste gebracht. So mit
Bitten, Fragen, Vorwürfen und Veschuldiguugen von beiden Seiten bestürmt,
zog er es vor, auf längere Zeit Land und Verfassung sich selbst zu überlassen
und ins Ausland zu gehe», dn er, wie Aristoteles sagt, die Verfassung weder
ändern, noch länger um ihretwillen sich den persönlichen Nnfeindnngen aus¬
setzen wollte.

Von den Staatsmännern der spätern Zeit tritt Theramenes in neue
Beleuchtung. Über ihn spricht Aristoteles ein auffallend günstiges Urteil ans.
Er sagt: „Unter den spätern athenischen Politikern scheinen die besten gewesen
zu sein Niklas, Thukhdides — der Sohn des Melesias, nicht der Historiker —
und Theramenes. Über die ersten beiden giebt es keine Meinungsverschieden¬
heit; sie waren nach allgemeinem Urteil nicht nur ehrenwert und edel von
Charakter, sondern auch von hoher staatsmännischer Einsicht, treu dem Geiste
der alten demokratischen Verfassung. Dagegen schwankt das Urteil über The¬
ramenes infolge der politischen Kämpfe und Verfassnugsäuderungen zu seiner
Zeit. Wer aber genauer zusieht, der findet, daß er nicht etwa, wie seine
Gegner sagen, alle Verfassungen stürzte, sondern, so lange sie nichts gegen die
Gesetze anordneten, alle förderte, als ein Mann, der es vermochte, unter allen
Verfassungen seine Bürgerpflicht zu erfüllen, wonach der gute Bürger stets
zu streben hat, daß er aber, sowie sie ungesetzlich wurden, sich ihnen nicht
fügte, sondern feindlich gegen sie auftrat." Zu diesem entschiednen ^öde des
Theramenes, der uns in den bisherigen Darstellungen nur als schlauer
Opportunist zweideutigen Charakters entgegentrat, wird die Geschichtschreibung
von nun an Stellung zu nehmen, und das von ihr entworfene Bild zu re-
tonchiren haben. Sie wird sich dabei stützen ans die ausführliche Darstellung,
die in dieser Schrift Aristoteles von der Verfassung der Vierhundert und der
dreißig Tyrannen giebt.

Mit der Wiederherstellung der Demokratie im Jahre 403 v. Chr. nach
dem Sturze der dreißig Tyrannen schließt Aristoteles den ersten, historischen
Teil seiner Schrift, indem er die zwölf Staatsformen, zu denen seiner Auf¬
fassung nach die Verfassungsgeschichte Athens geführt hat, noch einmal zu¬
sammenfaßt. „Als ursprüngliche Verfassung hat die Einrichtung zu gelten,
die nach der Zuwanderung des Ion und seiner Begleiter in Attika getroffen
wurde; damals wurden sie zuerst den vier Phylen zugeteilt und setzten die
Phhlcnkönige ein. Die erste Verfassungsänderung faud unter Theseus Re¬
gierung statt, die ein wenig abbog von dem Wesen der 5tvnigsherrschaft.
Darauf folgte die Reform Drakons, bei der sie zuerst Gesetze auszeichneten.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/28>, abgerufen am 24.07.2024.