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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Zur neuen Laustphilologie

Denn auf Gegenseitigkeit und Wechselwirkung läuft dies wichtige Kapitel in
unserm Welthaushalt hinaus, das ist von den berührten Geheimnissen dasjenige,
das sich am sichersten erkennen läßt.

Sieh da, welche Aufgabe für einen Fanstphilologen! d. h. einen, der
sich nicht bloß mit Philologie sättigen und übersättigen will, sondern für die
Welt lebendiges Kapital daraus schlagen, und die müssen sich doch finden
unter dem großen Nachwuchs, der nun in Aussicht steht. Oder -- für eine
Faustphilologiu? Wirth die aber auch geben? Warum nicht, was leistet jetzt
nicht unsre Frauenwelt im Hochschwnng, auch über den Manu hinaus! Das
Natürlichste wenigstens wäre es. Hoffen wir auf die Faustvhilvlogie der
Zukunft. Freilich -- wenn man sich von jenem Schluß des Frauenfaustes
aus die Entwicklung n,ut Gestaltung rückwärts denkt, wenn sie dem neuen
Standpunkt entsprechen müßte, da schreckt man doch zurück, und ich mag mich
nicht einmal auf Andeutungen einlasse", also meinerseits kein Wort weiter
davon.

Um aber zu etwas Bescheidnerem und sichreren zu kommen: mich be¬
schäftigt seit Jahren der Gedanke angenehm, daß es möglich ist, beim wissen¬
schaftlichen Litteraturbetrieb sich uicht bloß die Werke, also die Bücher selbst,
sondern auch die Wirkung vorzustellen, die von ihnen ausgegangen ist in die
Geister und den Geist der Zeitgenossen hinein. Man kaun dann ein Buch,
wie es so auf dem Bücherbrett steht, zugleich wie einen Luft- und Lichtkreis
ausstrahlend sehen im stillen innern Schauen zu guter Stunde, der denn bei
den verschiednen Werken sehr verschieden aussieht. Das zeigt sich aber auch
dem äußern Auge zu jeder Stunde in Spuren der Wirkung, die am Buche
selbst zurückbleiben. Ich habe eine in Wittenberg gedruckte Flugschrift Luthers
aus der ersten Zeit seines Auftretens, die schmutzig aussieht bis zum Ab¬
schrecken; namentlich auf dem untern Ende jedes Blattes liegt eine kreisförmige
Schicht von Schmutz -- aber es ist Schmutz aus der Zeit der Wirkung, deren
Größe und Weite man daran nach viertehalb Jahrhunderten noch sehen kauu,
denn er kommt vom Umwenden, und es müssen rechte Arbeitshände gewesen
sein, nicht von Gelehrten, sondern von Schuhmachern, Schlossern u. s. w., die
da solche Spuren geistiger Wirkung hinterlassen haben, ich kann sie nur mit
nachdenklicher Achtung ansehen. Eine Ausgabe von den Gedichten des Andreas
Gryphius, auch viel gebraucht, trägt doch an einer Stelle am Schnitt die
Spur von stärkstem Gebrauch, es ist der Peter Squenz. Ebenso eine erste
Ausgabe von Bürgers Gedichten, stark gebraucht bis zum Abnutzen, an einer
Stelle aber der Schnitt ordentlich mit kraus zerfaserten Rande: die verrät, was
da steht, die Lenore. Auch Schnupftabak ist oft in Büchern so zurückgeblieben
als Spur des geistigen Lebens, und auch das wäre schon zu verwerten, denn
der Schnupfer nimmt seine Prise entweder wenn er sich langweilt oder wenn
er ergriffen ist, was sich dann als Wirkung an den zwischen den Blättern


GrenMcn II 1891 31
Zur neuen Laustphilologie

Denn auf Gegenseitigkeit und Wechselwirkung läuft dies wichtige Kapitel in
unserm Welthaushalt hinaus, das ist von den berührten Geheimnissen dasjenige,
das sich am sichersten erkennen läßt.

Sieh da, welche Aufgabe für einen Fanstphilologen! d. h. einen, der
sich nicht bloß mit Philologie sättigen und übersättigen will, sondern für die
Welt lebendiges Kapital daraus schlagen, und die müssen sich doch finden
unter dem großen Nachwuchs, der nun in Aussicht steht. Oder — für eine
Faustphilologiu? Wirth die aber auch geben? Warum nicht, was leistet jetzt
nicht unsre Frauenwelt im Hochschwnng, auch über den Manu hinaus! Das
Natürlichste wenigstens wäre es. Hoffen wir auf die Faustvhilvlogie der
Zukunft. Freilich — wenn man sich von jenem Schluß des Frauenfaustes
aus die Entwicklung n,ut Gestaltung rückwärts denkt, wenn sie dem neuen
Standpunkt entsprechen müßte, da schreckt man doch zurück, und ich mag mich
nicht einmal auf Andeutungen einlasse«, also meinerseits kein Wort weiter
davon.

Um aber zu etwas Bescheidnerem und sichreren zu kommen: mich be¬
schäftigt seit Jahren der Gedanke angenehm, daß es möglich ist, beim wissen¬
schaftlichen Litteraturbetrieb sich uicht bloß die Werke, also die Bücher selbst,
sondern auch die Wirkung vorzustellen, die von ihnen ausgegangen ist in die
Geister und den Geist der Zeitgenossen hinein. Man kaun dann ein Buch,
wie es so auf dem Bücherbrett steht, zugleich wie einen Luft- und Lichtkreis
ausstrahlend sehen im stillen innern Schauen zu guter Stunde, der denn bei
den verschiednen Werken sehr verschieden aussieht. Das zeigt sich aber auch
dem äußern Auge zu jeder Stunde in Spuren der Wirkung, die am Buche
selbst zurückbleiben. Ich habe eine in Wittenberg gedruckte Flugschrift Luthers
aus der ersten Zeit seines Auftretens, die schmutzig aussieht bis zum Ab¬
schrecken; namentlich auf dem untern Ende jedes Blattes liegt eine kreisförmige
Schicht von Schmutz — aber es ist Schmutz aus der Zeit der Wirkung, deren
Größe und Weite man daran nach viertehalb Jahrhunderten noch sehen kauu,
denn er kommt vom Umwenden, und es müssen rechte Arbeitshände gewesen
sein, nicht von Gelehrten, sondern von Schuhmachern, Schlossern u. s. w., die
da solche Spuren geistiger Wirkung hinterlassen haben, ich kann sie nur mit
nachdenklicher Achtung ansehen. Eine Ausgabe von den Gedichten des Andreas
Gryphius, auch viel gebraucht, trägt doch an einer Stelle am Schnitt die
Spur von stärkstem Gebrauch, es ist der Peter Squenz. Ebenso eine erste
Ausgabe von Bürgers Gedichten, stark gebraucht bis zum Abnutzen, an einer
Stelle aber der Schnitt ordentlich mit kraus zerfaserten Rande: die verrät, was
da steht, die Lenore. Auch Schnupftabak ist oft in Büchern so zurückgeblieben
als Spur des geistigen Lebens, und auch das wäre schon zu verwerten, denn
der Schnupfer nimmt seine Prise entweder wenn er sich langweilt oder wenn
er ergriffen ist, was sich dann als Wirkung an den zwischen den Blättern


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[0245] Zur neuen Laustphilologie Denn auf Gegenseitigkeit und Wechselwirkung läuft dies wichtige Kapitel in unserm Welthaushalt hinaus, das ist von den berührten Geheimnissen dasjenige, das sich am sichersten erkennen läßt. Sieh da, welche Aufgabe für einen Fanstphilologen! d. h. einen, der sich nicht bloß mit Philologie sättigen und übersättigen will, sondern für die Welt lebendiges Kapital daraus schlagen, und die müssen sich doch finden unter dem großen Nachwuchs, der nun in Aussicht steht. Oder — für eine Faustphilologiu? Wirth die aber auch geben? Warum nicht, was leistet jetzt nicht unsre Frauenwelt im Hochschwnng, auch über den Manu hinaus! Das Natürlichste wenigstens wäre es. Hoffen wir auf die Faustvhilvlogie der Zukunft. Freilich — wenn man sich von jenem Schluß des Frauenfaustes aus die Entwicklung n,ut Gestaltung rückwärts denkt, wenn sie dem neuen Standpunkt entsprechen müßte, da schreckt man doch zurück, und ich mag mich nicht einmal auf Andeutungen einlasse«, also meinerseits kein Wort weiter davon. Um aber zu etwas Bescheidnerem und sichreren zu kommen: mich be¬ schäftigt seit Jahren der Gedanke angenehm, daß es möglich ist, beim wissen¬ schaftlichen Litteraturbetrieb sich uicht bloß die Werke, also die Bücher selbst, sondern auch die Wirkung vorzustellen, die von ihnen ausgegangen ist in die Geister und den Geist der Zeitgenossen hinein. Man kaun dann ein Buch, wie es so auf dem Bücherbrett steht, zugleich wie einen Luft- und Lichtkreis ausstrahlend sehen im stillen innern Schauen zu guter Stunde, der denn bei den verschiednen Werken sehr verschieden aussieht. Das zeigt sich aber auch dem äußern Auge zu jeder Stunde in Spuren der Wirkung, die am Buche selbst zurückbleiben. Ich habe eine in Wittenberg gedruckte Flugschrift Luthers aus der ersten Zeit seines Auftretens, die schmutzig aussieht bis zum Ab¬ schrecken; namentlich auf dem untern Ende jedes Blattes liegt eine kreisförmige Schicht von Schmutz — aber es ist Schmutz aus der Zeit der Wirkung, deren Größe und Weite man daran nach viertehalb Jahrhunderten noch sehen kauu, denn er kommt vom Umwenden, und es müssen rechte Arbeitshände gewesen sein, nicht von Gelehrten, sondern von Schuhmachern, Schlossern u. s. w., die da solche Spuren geistiger Wirkung hinterlassen haben, ich kann sie nur mit nachdenklicher Achtung ansehen. Eine Ausgabe von den Gedichten des Andreas Gryphius, auch viel gebraucht, trägt doch an einer Stelle am Schnitt die Spur von stärkstem Gebrauch, es ist der Peter Squenz. Ebenso eine erste Ausgabe von Bürgers Gedichten, stark gebraucht bis zum Abnutzen, an einer Stelle aber der Schnitt ordentlich mit kraus zerfaserten Rande: die verrät, was da steht, die Lenore. Auch Schnupftabak ist oft in Büchern so zurückgeblieben als Spur des geistigen Lebens, und auch das wäre schon zu verwerten, denn der Schnupfer nimmt seine Prise entweder wenn er sich langweilt oder wenn er ergriffen ist, was sich dann als Wirkung an den zwischen den Blättern GrenMcn II 1891 31

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/245>, abgerufen am 24.07.2024.