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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Das mittelalterliche Sektenwesen

lebensvollen Ganzen ab und spinnt sie sich in sich selber ein, so entsteht zu¬
weilen eine nützliche, zuweilen eine mehr oder weniger wertlose, nnter Um¬
ständen auch eine schädliche Sekte. Es dauert bei solchen Bewegungen oft
lange Zeit, ehe sich die Richtung zum Bessern oder schlimmern entscheidet.
Zuweilen geht eine an sich gute Neformgesellschaft allmählich und langsam in
Verderbnis über, so allmählich, daß es schwer wird, den Augenblick des Über¬
gangs anzugeben, wie ja auch die Blume im Augenblick ihrer größten Schön¬
heit und ihres stärksten Duftes an der Grenze der Fäulnis steht; man denke
an den Husitismus! Gesund erweist sich eine Reformbewegung wiederum
gerade dadurch, daß auch sie es versteht, zur rechten Zeit -- von sich ab¬
zufallen, sodaß sich in jedem einzelnen Zweige der Gesamtkirche das Spiel des
großen Ganzen wiederholt. Luther schuf, völlig im Widerspruche mit den
Grundsätzen, von denen ans er Rom bekämpft hatte, eine Kirchenverfassung
mit festen juristischen Formen lind rettete dadurch sein Werk vor dem Schick¬
sale des Husitismus und der Wiedertäufer".

Namentlich zwei Ideen sind es, die als fruchtbarer Gärungsstoff die
Kirche von den ersten Zeiten an bis heute lebendig und in Atem erhalten
haben: die Idee der evangelischen Armut und die der unsichtbaren Kirche.
Daß Christus den Reichtum und die Reichen verwünscht und seinen Jüngern
die Armut empfohlen hat, nicht etwa eine symbolische Armut, wie sich nerven¬
schwache moderne Bibelleser gern einreden, sondern die wirkliche Armut, das
unterliegt gar keinem Zweifel. Nun konnte die Kirche aber ohne Vermögen
gar nicht bestehen. Je weiter sie sich ausdehnte, je mehr soziale und Kultur-
aufgabeu ihr aus ihrem vermehrten Ansehen erwuchsen, desto mehr Vermögen
brauchte sie. Und mit dem wachsenden Vertrauen der Menschen zu ihr, mit
der wachsenden Frömmigkeit und dem wachsenden Aberglauben (beide sind
schier unzertrennliche Geschwister und oft kaum von einander zu unterscheiden)
wuchsen die Spenden der Gläubigen. Indem zugleich mehr und mehr die
Geistlichen die ausschließlichen Verwalter und Nutznießer des Kirchenvermögens
wurden (wie es denn in der Natur jeder Gesellschaft liegt, daß, je größer und
verwickelter sie wird, ihre Verwaltung mehr und mehr in die Hände von Fach¬
leuten und angestellten Beamten übergeht), erschien das Christentum nach
dieser Seite hin in sein Gegenteil verkehrt. Da aber die Idee der Armut
uicht verloren gegangen war, wurden zu ihrer Verwirklichung allerlei Kloster¬
orden gegründet. Doch auch sie unterliegen fast alle demselben Lebensgesetze.
Arm fängt ein solcher Orden an; nach und nach wird er reich, teils durch
eigne Arbeit, teils durch die Gaben, die ihm das rechtschaffen verdiente Ver¬
trauen der Gläubigen einbringt, und endlich macht er sich durch gänzlichen
auch innerlichen Abfall von seiner Idee des erworbenen Vertrauens unwert
und schreitet wohl bis zur cynischen Selbstverspottung fort, wie jener neapoli¬
tanische Abt in Zimmermanns "Einsamkeit," der berichtet, was ihm die drei


Das mittelalterliche Sektenwesen

lebensvollen Ganzen ab und spinnt sie sich in sich selber ein, so entsteht zu¬
weilen eine nützliche, zuweilen eine mehr oder weniger wertlose, nnter Um¬
ständen auch eine schädliche Sekte. Es dauert bei solchen Bewegungen oft
lange Zeit, ehe sich die Richtung zum Bessern oder schlimmern entscheidet.
Zuweilen geht eine an sich gute Neformgesellschaft allmählich und langsam in
Verderbnis über, so allmählich, daß es schwer wird, den Augenblick des Über¬
gangs anzugeben, wie ja auch die Blume im Augenblick ihrer größten Schön¬
heit und ihres stärksten Duftes an der Grenze der Fäulnis steht; man denke
an den Husitismus! Gesund erweist sich eine Reformbewegung wiederum
gerade dadurch, daß auch sie es versteht, zur rechten Zeit — von sich ab¬
zufallen, sodaß sich in jedem einzelnen Zweige der Gesamtkirche das Spiel des
großen Ganzen wiederholt. Luther schuf, völlig im Widerspruche mit den
Grundsätzen, von denen ans er Rom bekämpft hatte, eine Kirchenverfassung
mit festen juristischen Formen lind rettete dadurch sein Werk vor dem Schick¬
sale des Husitismus und der Wiedertäufer«.

Namentlich zwei Ideen sind es, die als fruchtbarer Gärungsstoff die
Kirche von den ersten Zeiten an bis heute lebendig und in Atem erhalten
haben: die Idee der evangelischen Armut und die der unsichtbaren Kirche.
Daß Christus den Reichtum und die Reichen verwünscht und seinen Jüngern
die Armut empfohlen hat, nicht etwa eine symbolische Armut, wie sich nerven¬
schwache moderne Bibelleser gern einreden, sondern die wirkliche Armut, das
unterliegt gar keinem Zweifel. Nun konnte die Kirche aber ohne Vermögen
gar nicht bestehen. Je weiter sie sich ausdehnte, je mehr soziale und Kultur-
aufgabeu ihr aus ihrem vermehrten Ansehen erwuchsen, desto mehr Vermögen
brauchte sie. Und mit dem wachsenden Vertrauen der Menschen zu ihr, mit
der wachsenden Frömmigkeit und dem wachsenden Aberglauben (beide sind
schier unzertrennliche Geschwister und oft kaum von einander zu unterscheiden)
wuchsen die Spenden der Gläubigen. Indem zugleich mehr und mehr die
Geistlichen die ausschließlichen Verwalter und Nutznießer des Kirchenvermögens
wurden (wie es denn in der Natur jeder Gesellschaft liegt, daß, je größer und
verwickelter sie wird, ihre Verwaltung mehr und mehr in die Hände von Fach¬
leuten und angestellten Beamten übergeht), erschien das Christentum nach
dieser Seite hin in sein Gegenteil verkehrt. Da aber die Idee der Armut
uicht verloren gegangen war, wurden zu ihrer Verwirklichung allerlei Kloster¬
orden gegründet. Doch auch sie unterliegen fast alle demselben Lebensgesetze.
Arm fängt ein solcher Orden an; nach und nach wird er reich, teils durch
eigne Arbeit, teils durch die Gaben, die ihm das rechtschaffen verdiente Ver¬
trauen der Gläubigen einbringt, und endlich macht er sich durch gänzlichen
auch innerlichen Abfall von seiner Idee des erworbenen Vertrauens unwert
und schreitet wohl bis zur cynischen Selbstverspottung fort, wie jener neapoli¬
tanische Abt in Zimmermanns „Einsamkeit," der berichtet, was ihm die drei


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[0234] Das mittelalterliche Sektenwesen lebensvollen Ganzen ab und spinnt sie sich in sich selber ein, so entsteht zu¬ weilen eine nützliche, zuweilen eine mehr oder weniger wertlose, nnter Um¬ ständen auch eine schädliche Sekte. Es dauert bei solchen Bewegungen oft lange Zeit, ehe sich die Richtung zum Bessern oder schlimmern entscheidet. Zuweilen geht eine an sich gute Neformgesellschaft allmählich und langsam in Verderbnis über, so allmählich, daß es schwer wird, den Augenblick des Über¬ gangs anzugeben, wie ja auch die Blume im Augenblick ihrer größten Schön¬ heit und ihres stärksten Duftes an der Grenze der Fäulnis steht; man denke an den Husitismus! Gesund erweist sich eine Reformbewegung wiederum gerade dadurch, daß auch sie es versteht, zur rechten Zeit — von sich ab¬ zufallen, sodaß sich in jedem einzelnen Zweige der Gesamtkirche das Spiel des großen Ganzen wiederholt. Luther schuf, völlig im Widerspruche mit den Grundsätzen, von denen ans er Rom bekämpft hatte, eine Kirchenverfassung mit festen juristischen Formen lind rettete dadurch sein Werk vor dem Schick¬ sale des Husitismus und der Wiedertäufer«. Namentlich zwei Ideen sind es, die als fruchtbarer Gärungsstoff die Kirche von den ersten Zeiten an bis heute lebendig und in Atem erhalten haben: die Idee der evangelischen Armut und die der unsichtbaren Kirche. Daß Christus den Reichtum und die Reichen verwünscht und seinen Jüngern die Armut empfohlen hat, nicht etwa eine symbolische Armut, wie sich nerven¬ schwache moderne Bibelleser gern einreden, sondern die wirkliche Armut, das unterliegt gar keinem Zweifel. Nun konnte die Kirche aber ohne Vermögen gar nicht bestehen. Je weiter sie sich ausdehnte, je mehr soziale und Kultur- aufgabeu ihr aus ihrem vermehrten Ansehen erwuchsen, desto mehr Vermögen brauchte sie. Und mit dem wachsenden Vertrauen der Menschen zu ihr, mit der wachsenden Frömmigkeit und dem wachsenden Aberglauben (beide sind schier unzertrennliche Geschwister und oft kaum von einander zu unterscheiden) wuchsen die Spenden der Gläubigen. Indem zugleich mehr und mehr die Geistlichen die ausschließlichen Verwalter und Nutznießer des Kirchenvermögens wurden (wie es denn in der Natur jeder Gesellschaft liegt, daß, je größer und verwickelter sie wird, ihre Verwaltung mehr und mehr in die Hände von Fach¬ leuten und angestellten Beamten übergeht), erschien das Christentum nach dieser Seite hin in sein Gegenteil verkehrt. Da aber die Idee der Armut uicht verloren gegangen war, wurden zu ihrer Verwirklichung allerlei Kloster¬ orden gegründet. Doch auch sie unterliegen fast alle demselben Lebensgesetze. Arm fängt ein solcher Orden an; nach und nach wird er reich, teils durch eigne Arbeit, teils durch die Gaben, die ihm das rechtschaffen verdiente Ver¬ trauen der Gläubigen einbringt, und endlich macht er sich durch gänzlichen auch innerlichen Abfall von seiner Idee des erworbenen Vertrauens unwert und schreitet wohl bis zur cynischen Selbstverspottung fort, wie jener neapoli¬ tanische Abt in Zimmermanns „Einsamkeit," der berichtet, was ihm die drei

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/234>, abgerufen am 24.07.2024.