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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Der Nationalismus

nationale Widerstand sehr zähe gewesen, freilich macht sich der Freiheitsdrang
der Bergvölker gerade heute dort wieder sehr bemerkbar, es ist eine wachsende
nationale Auflehnung zu spüren; aber sie wird hervorgerufen nicht dnrch
Neuerungen der Kultur, sondern durch die rohe Vergewaltigung der dortigen
Stämme, die in der Unterdrückung ihrer Sprache, in der Verfolgung ihres
Glaubens und ihrer Sitten besteht.

Anders ist die Stellung Rußlands nach Westen hin. Die seit Peter I.
ins Werk gesetzte Eroberung europäischer Kulturländer, die zur Vergewalti¬
gung dieser Länder auch in ihrem innern Volksleben hinführt, war und
ist eine Sünde an der Kultur, die sich über kurz oder laug rächen wird.
Sie machte sich weniger fühlbar, solange als Moskau die Unterworfenen sich
selbst überließ und sich mit der lockern Oberhoheit begnügte. Mit dem Allgen¬
blick aber und überall, wo das nationale Bewußtsein Moskans sich zu dein
von Slonimski lind Solowjew gekennzeichneten gewaltthätigen Nationalismus
steigerte, wurde die Herrschaft in diesen Westländern zur Knechtung. Die
Mißachtung fremder und besonders unterworfener Nationalitäten ist erträglich,
wenn sie Tscherenüssen oder Baschkiren trifft, unerträglich gegenüber Schweden,
Deutschen, Polen, Ruteuen oder Bulgaren; am unerträglichsten für die in der Kultur
am höchsten stehenden unter diesen fremden Völkern, eben weil sie, von einem
niedern Volk gegen ein höheres geübt, an Gehässigkeit zunimmt im Verhältnis
zu der Verschiedenheit in der Kulturstufe des Herrschers zum Unterworfenen.

Der Fortschritt der Kultur ist ein stetiges Verzweige" der Bedürfnisse
und der Kräfte des Volkes; dem Baume gleich, dessen Stamm Ast um Ast
ausstreckt, dessen Äste nach allen Seiten Zweig um Zweig bilden, mannichfaltig
im einzelnen und doch einheitlich im ganzen, so wächst das Volk seine Bedürf¬
nisse aus in immer neue Formen des Schaffens. Je höher die Kultur, umso
zusammengesetzter der Volkskörper, um so mannichfaltiger und feiner die Be¬
dürfnisse und die Mittel zu ihrer Befriedigung. Eine unendliche Reihe von
äußern und innern Ursache" ist thätig, um in einem Volk seine Eigenart zu
entwickeln; der ererbte Charakter des Stammes, der Boden, das Klima, die
äußere Geschichte, die Sprache, der Zusammenhang mit andern Völkern, das
alles sind reichfließeude Quellen von Wirkungen, die zusammen das Volkstum
ausmachen und mit zunehmender Kultur immer mehr die Empfindlichkeit gegen
äußere gewaltsame Eingriffe steigern. Es giebt in Europa eine Gemeinsamkeit
des Volkstums, die sich aus der Ähnlichkeit von Boden und Klima, ferner
aus der Verwandtschaft des Stammes, endlich aus dem historischen Zusammen¬
hange ergeben hat: wir leben in gemäßigter Zone, wir sind Indoger-
manen, wir haben unsre in Rom und Athen wurzelnde Kultur. Aber inner¬
halb dieses Kreises steht die römisch-katholische Welt dem byzantinisch-slawischen
Osten so fremd gegenüber, wie sich Romanen und Germanen niemals gegen¬
über gestanden haben. Der Osten ist das Land der Nomaden von jeher ge-


Der Nationalismus

nationale Widerstand sehr zähe gewesen, freilich macht sich der Freiheitsdrang
der Bergvölker gerade heute dort wieder sehr bemerkbar, es ist eine wachsende
nationale Auflehnung zu spüren; aber sie wird hervorgerufen nicht dnrch
Neuerungen der Kultur, sondern durch die rohe Vergewaltigung der dortigen
Stämme, die in der Unterdrückung ihrer Sprache, in der Verfolgung ihres
Glaubens und ihrer Sitten besteht.

Anders ist die Stellung Rußlands nach Westen hin. Die seit Peter I.
ins Werk gesetzte Eroberung europäischer Kulturländer, die zur Vergewalti¬
gung dieser Länder auch in ihrem innern Volksleben hinführt, war und
ist eine Sünde an der Kultur, die sich über kurz oder laug rächen wird.
Sie machte sich weniger fühlbar, solange als Moskau die Unterworfenen sich
selbst überließ und sich mit der lockern Oberhoheit begnügte. Mit dem Allgen¬
blick aber und überall, wo das nationale Bewußtsein Moskans sich zu dein
von Slonimski lind Solowjew gekennzeichneten gewaltthätigen Nationalismus
steigerte, wurde die Herrschaft in diesen Westländern zur Knechtung. Die
Mißachtung fremder und besonders unterworfener Nationalitäten ist erträglich,
wenn sie Tscherenüssen oder Baschkiren trifft, unerträglich gegenüber Schweden,
Deutschen, Polen, Ruteuen oder Bulgaren; am unerträglichsten für die in der Kultur
am höchsten stehenden unter diesen fremden Völkern, eben weil sie, von einem
niedern Volk gegen ein höheres geübt, an Gehässigkeit zunimmt im Verhältnis
zu der Verschiedenheit in der Kulturstufe des Herrschers zum Unterworfenen.

Der Fortschritt der Kultur ist ein stetiges Verzweige« der Bedürfnisse
und der Kräfte des Volkes; dem Baume gleich, dessen Stamm Ast um Ast
ausstreckt, dessen Äste nach allen Seiten Zweig um Zweig bilden, mannichfaltig
im einzelnen und doch einheitlich im ganzen, so wächst das Volk seine Bedürf¬
nisse aus in immer neue Formen des Schaffens. Je höher die Kultur, umso
zusammengesetzter der Volkskörper, um so mannichfaltiger und feiner die Be¬
dürfnisse und die Mittel zu ihrer Befriedigung. Eine unendliche Reihe von
äußern und innern Ursache» ist thätig, um in einem Volk seine Eigenart zu
entwickeln; der ererbte Charakter des Stammes, der Boden, das Klima, die
äußere Geschichte, die Sprache, der Zusammenhang mit andern Völkern, das
alles sind reichfließeude Quellen von Wirkungen, die zusammen das Volkstum
ausmachen und mit zunehmender Kultur immer mehr die Empfindlichkeit gegen
äußere gewaltsame Eingriffe steigern. Es giebt in Europa eine Gemeinsamkeit
des Volkstums, die sich aus der Ähnlichkeit von Boden und Klima, ferner
aus der Verwandtschaft des Stammes, endlich aus dem historischen Zusammen¬
hange ergeben hat: wir leben in gemäßigter Zone, wir sind Indoger-
manen, wir haben unsre in Rom und Athen wurzelnde Kultur. Aber inner¬
halb dieses Kreises steht die römisch-katholische Welt dem byzantinisch-slawischen
Osten so fremd gegenüber, wie sich Romanen und Germanen niemals gegen¬
über gestanden haben. Der Osten ist das Land der Nomaden von jeher ge-


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[0174] Der Nationalismus nationale Widerstand sehr zähe gewesen, freilich macht sich der Freiheitsdrang der Bergvölker gerade heute dort wieder sehr bemerkbar, es ist eine wachsende nationale Auflehnung zu spüren; aber sie wird hervorgerufen nicht dnrch Neuerungen der Kultur, sondern durch die rohe Vergewaltigung der dortigen Stämme, die in der Unterdrückung ihrer Sprache, in der Verfolgung ihres Glaubens und ihrer Sitten besteht. Anders ist die Stellung Rußlands nach Westen hin. Die seit Peter I. ins Werk gesetzte Eroberung europäischer Kulturländer, die zur Vergewalti¬ gung dieser Länder auch in ihrem innern Volksleben hinführt, war und ist eine Sünde an der Kultur, die sich über kurz oder laug rächen wird. Sie machte sich weniger fühlbar, solange als Moskau die Unterworfenen sich selbst überließ und sich mit der lockern Oberhoheit begnügte. Mit dem Allgen¬ blick aber und überall, wo das nationale Bewußtsein Moskans sich zu dein von Slonimski lind Solowjew gekennzeichneten gewaltthätigen Nationalismus steigerte, wurde die Herrschaft in diesen Westländern zur Knechtung. Die Mißachtung fremder und besonders unterworfener Nationalitäten ist erträglich, wenn sie Tscherenüssen oder Baschkiren trifft, unerträglich gegenüber Schweden, Deutschen, Polen, Ruteuen oder Bulgaren; am unerträglichsten für die in der Kultur am höchsten stehenden unter diesen fremden Völkern, eben weil sie, von einem niedern Volk gegen ein höheres geübt, an Gehässigkeit zunimmt im Verhältnis zu der Verschiedenheit in der Kulturstufe des Herrschers zum Unterworfenen. Der Fortschritt der Kultur ist ein stetiges Verzweige« der Bedürfnisse und der Kräfte des Volkes; dem Baume gleich, dessen Stamm Ast um Ast ausstreckt, dessen Äste nach allen Seiten Zweig um Zweig bilden, mannichfaltig im einzelnen und doch einheitlich im ganzen, so wächst das Volk seine Bedürf¬ nisse aus in immer neue Formen des Schaffens. Je höher die Kultur, umso zusammengesetzter der Volkskörper, um so mannichfaltiger und feiner die Be¬ dürfnisse und die Mittel zu ihrer Befriedigung. Eine unendliche Reihe von äußern und innern Ursache» ist thätig, um in einem Volk seine Eigenart zu entwickeln; der ererbte Charakter des Stammes, der Boden, das Klima, die äußere Geschichte, die Sprache, der Zusammenhang mit andern Völkern, das alles sind reichfließeude Quellen von Wirkungen, die zusammen das Volkstum ausmachen und mit zunehmender Kultur immer mehr die Empfindlichkeit gegen äußere gewaltsame Eingriffe steigern. Es giebt in Europa eine Gemeinsamkeit des Volkstums, die sich aus der Ähnlichkeit von Boden und Klima, ferner aus der Verwandtschaft des Stammes, endlich aus dem historischen Zusammen¬ hange ergeben hat: wir leben in gemäßigter Zone, wir sind Indoger- manen, wir haben unsre in Rom und Athen wurzelnde Kultur. Aber inner¬ halb dieses Kreises steht die römisch-katholische Welt dem byzantinisch-slawischen Osten so fremd gegenüber, wie sich Romanen und Germanen niemals gegen¬ über gestanden haben. Der Osten ist das Land der Nomaden von jeher ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/174>, abgerufen am 24.07.2024.