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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Mischen Gemeingefühl des Menschen hat er seine psychische Grundlage, und
dieses hat er zunächst zu befriedigen. Sodann ergeben sich aber auch daraus
die Folgerungen für die Aufgaben der Wissenschaft und ihren Betrieb
selbst. Alles i" der Welt hat ja seine Geschichte, jedes Stuck mu so¬
zialen Leibe, jede Form menschlicher Arbeit, der Hände- und der Geistesarbeit,
jedes Handwerk, jede Kunst, jede Wissenschaft hat ihre Geschichte, und diese
Geschichte wird von jeder Einzelwissenschaft gepflegt und erzählt. Was bleibt
dann uun übrig für jene Wissenschaft, die nur im engeren Sinne als Geschichte
schlechtweg zu bezeichnen Pflegen? Nichts andres als die Geschichte des poli¬
tischen Werdens, der politische" Bildung und der Schicksale der Staatsbürger,
der Volker. Die Geschichte als solche ist wesentlich politische Geschichte, und
daraus muß von selbst ihre Methode folgen. Als Geschichte der politischen
Gcstaltniigen und Wandlungen im Vaterlande und in der ganzen Welt ist sie
eine Geschichte von den Handlungen der Menschen, die vor uns in der un¬
übersehbar langen Vergangenheit gelebt haben. Der Geschichtsforscher und
Geschichtsschreiber muß demnach den Menschen von seiner handelnden, thätigen
Seite erfassen; er darf sich nicht, wie der Geschichtschreiber der Philosophie
oder Kunst, uur auf die Betrachtung der Entwicklung der Ideen verlegen,
sondern muß den ganzen Menschen als thätiges Wesen zu begreifen suchen,
er muß die einzelnen Persönlichkeiten des politischen Lebens nach ihrem
Charakter, nach ihrer Bildung, nach ihrer äußeren Stellung in der Welt,
nach ihrer Abhängigkeit von den verschiedenen Beeinflussungen, denen sich
kein Mensch entziehen kann, nach ihrer Erziehung und uach ihren ererbten
Eigenschaften betrachte" und begreifen. Nur so wird er ihre Handlungen
verstehen und richtig beurteilen können, denn alles, was wir in unsern
Politischen Zuständen um uns sehen, ist ja die Leistung unsrer handelnden
Vorfahren. Der Historiker muß also die Fähigkeit der Individualisirung, der
feinsten Nachempfindung der verschiedenartigsten Mensche" und ihrer Charaktere
haben; er in"ß nicht bloß alte Urkunden lesen und prüfe" können, sondern
mit der Gestaltungskraft des Dichters die in jenen Urkunden verzeichneten
Handlanger, die hinter ihnen stehenden Menschen lebensvoll anschauen und
uachschaffe" könne", er muß einen große" Blick und hervorragende" politische"
Sinn besitzen, um die Meister der Politik, die in den verschiedenen Jahr¬
hunderten gelebt haben, zu verstehe", ""d er muß auch den Mut zum Urteilen
haben. Denn natürlich stellt sich jeder Mensch die andern Menschen ziemlich
subjektiv vor; jeder Mensch versteht von deu andern Menschen gerade nnr
so viel, als er in sich selbst ein Wissen von der menschlichen Natur trägt.
Die geschriebenen Überlieferungen, die der Gegenstand der Geschichtsforschung
sind, könne" sich nicht an Selbstverständlichkeit und unmittelbar einleuchtender
Kraft mit den Objekten der Naturwissenschaft vergleichen, die jeden Mann,
der sei"e gesunden fünf Sinne beisammen hat, unmittelbar von ihrem Dasein


Mischen Gemeingefühl des Menschen hat er seine psychische Grundlage, und
dieses hat er zunächst zu befriedigen. Sodann ergeben sich aber auch daraus
die Folgerungen für die Aufgaben der Wissenschaft und ihren Betrieb
selbst. Alles i» der Welt hat ja seine Geschichte, jedes Stuck mu so¬
zialen Leibe, jede Form menschlicher Arbeit, der Hände- und der Geistesarbeit,
jedes Handwerk, jede Kunst, jede Wissenschaft hat ihre Geschichte, und diese
Geschichte wird von jeder Einzelwissenschaft gepflegt und erzählt. Was bleibt
dann uun übrig für jene Wissenschaft, die nur im engeren Sinne als Geschichte
schlechtweg zu bezeichnen Pflegen? Nichts andres als die Geschichte des poli¬
tischen Werdens, der politische» Bildung und der Schicksale der Staatsbürger,
der Volker. Die Geschichte als solche ist wesentlich politische Geschichte, und
daraus muß von selbst ihre Methode folgen. Als Geschichte der politischen
Gcstaltniigen und Wandlungen im Vaterlande und in der ganzen Welt ist sie
eine Geschichte von den Handlungen der Menschen, die vor uns in der un¬
übersehbar langen Vergangenheit gelebt haben. Der Geschichtsforscher und
Geschichtsschreiber muß demnach den Menschen von seiner handelnden, thätigen
Seite erfassen; er darf sich nicht, wie der Geschichtschreiber der Philosophie
oder Kunst, uur auf die Betrachtung der Entwicklung der Ideen verlegen,
sondern muß den ganzen Menschen als thätiges Wesen zu begreifen suchen,
er muß die einzelnen Persönlichkeiten des politischen Lebens nach ihrem
Charakter, nach ihrer Bildung, nach ihrer äußeren Stellung in der Welt,
nach ihrer Abhängigkeit von den verschiedenen Beeinflussungen, denen sich
kein Mensch entziehen kann, nach ihrer Erziehung und uach ihren ererbten
Eigenschaften betrachte» und begreifen. Nur so wird er ihre Handlungen
verstehen und richtig beurteilen können, denn alles, was wir in unsern
Politischen Zuständen um uns sehen, ist ja die Leistung unsrer handelnden
Vorfahren. Der Historiker muß also die Fähigkeit der Individualisirung, der
feinsten Nachempfindung der verschiedenartigsten Mensche» und ihrer Charaktere
haben; er in»ß nicht bloß alte Urkunden lesen und prüfe» können, sondern
mit der Gestaltungskraft des Dichters die in jenen Urkunden verzeichneten
Handlanger, die hinter ihnen stehenden Menschen lebensvoll anschauen und
uachschaffe» könne», er muß einen große» Blick und hervorragende» politische»
Sinn besitzen, um die Meister der Politik, die in den verschiedenen Jahr¬
hunderten gelebt haben, zu verstehe», »»d er muß auch den Mut zum Urteilen
haben. Denn natürlich stellt sich jeder Mensch die andern Menschen ziemlich
subjektiv vor; jeder Mensch versteht von deu andern Menschen gerade nnr
so viel, als er in sich selbst ein Wissen von der menschlichen Natur trägt.
Die geschriebenen Überlieferungen, die der Gegenstand der Geschichtsforschung
sind, könne» sich nicht an Selbstverständlichkeit und unmittelbar einleuchtender
Kraft mit den Objekten der Naturwissenschaft vergleichen, die jeden Mann,
der sei»e gesunden fünf Sinne beisammen hat, unmittelbar von ihrem Dasein


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/143>, abgerufen am 24.07.2024.