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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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und zu vertreten sucht. Zum Religionsunterricht wäre hinzuweisen ans wichtige
Bemerkungen des Pastors von Vodclschwingh (S. 584), des Schulrath Deiters
(S. 59!S), auf goldne Worte Paniscus von abfragbaren und unnbfragbaren
Dingen (S. 595). Mit dem formalistischen Plunder der alten und der neuen
(der Moritz-Seyffertschen) Lateinschule wird nun endlich gründlicher aufgeräumt
werden (Hornemann S. 175; Volkmann S. 198). Daraus folgt aber keineswegs,
wie mehrfach angenommen wird, Verbannung des guten Cieero aus der Gymnnsial-
lektüre. Auf den völlig neuen Zug, der durch die schriftliche Übersetzung griechischer
Texte hineingekommen ist, hat mit Recht Volkmann aufmerksam gemacht (S. 198).
Nur die lebenden fremden Sprachen soll der Schiller in freiem, mündlichem
und schriftlichein Gebrauche handhaben lernen. Englisch soll an allen Schulen
gelehrt werden, an den Gymnasien fakultativ oder obligatorisch "je nach
örtlichen Verhältnissen." In der Mathematik warnen gerade Mathematiker
vor Übertreibung. Überall sind ja die Kenner maßvoll und die Halbwisser
fanatisch (dies gegen Kropatschek S. 222). Wie schlicht und wie einleuchtend
ist Helmholtzens Forderung beim physikalischen Unterricht (S. 209): Einsicht
in das Wesen und die Fülle der Anwendungen der einfachsten Naturgesetze.
Den Fehler, die Jugend sozusagen mit absoluten Maßstäben zu messen, machen
freilich auch große Sachkenner, wenn sie nicht zugleich in Vezng ans das
Werden des jugendlichen Geistes ein wenig Sachkenner sind; so Virchow mit
seinein Urteil, unsre jungen Mediziner könnten nicht sehen, nicht fühlen, nicht
hören, nicht riechen (S. 120). Das ist gewiß: der bücherwälzende, karten¬
dreschende, klemmertragende und, mit Engländern und Amerikanern verglichen,
luft- und wasserscheue Typus des jungen Deutschen ist der Veredlung dringend
bedürftig. Dafür wird in Zukunft durch eine ganz andre Ausbildung des
Körpers und der Sinne gesorgt werden, insbesondre des Auges und der Hand
im Zeichenunterricht (obligatorisch von V bis Unter-II).

Wie hat sich die Konferenz zu der Forderung des Kaisers Verhalten, das
Deutsche in den Mittelpunkt des ganzen Unterrichts zu stellen? Hören wir
zuerst die NichtPhilologen: Helmholtz, dessen zwei Reden (S. 202 und 764)
ich am liebsten. Wort für Wort herschriebe, führt bittere Klage über das Deutsch
seiner jungen Physiker (nebenbei auch der alten). Es waren ausgesuchte Leute,
und doch war es für ihn immer eine Art von Strafe, wenn am Ende des
Semesters die schriftlichen Arbeiten einliefen. Er hat diese Ausarbeitungen
oft zwei-, drei-, viermal zurückgeben müssen, so gering war die Übung, die
gefundenen Thatsachen zu ordnen und unzweideutig und scharf auszusprechen!
"Sie hatten soviel Ungezogenheiten und Nachlässigkeiten in: deutschen Ausdruck,
daß ich immer erstaunt gewesen bin." Namentlich klagt er über den Einfluß der
Leitartikelschreiber, über die bedeutsam klingenden abstrakten Worte, bei denen man
sich nichts bestimmtes denken könne, und über die schönen Einleitungen. Den
lateinischen Aufsatz bezeichnet er als den obersten aller Leitartikel, bekennt


und zu vertreten sucht. Zum Religionsunterricht wäre hinzuweisen ans wichtige
Bemerkungen des Pastors von Vodclschwingh (S. 584), des Schulrath Deiters
(S. 59!S), auf goldne Worte Paniscus von abfragbaren und unnbfragbaren
Dingen (S. 595). Mit dem formalistischen Plunder der alten und der neuen
(der Moritz-Seyffertschen) Lateinschule wird nun endlich gründlicher aufgeräumt
werden (Hornemann S. 175; Volkmann S. 198). Daraus folgt aber keineswegs,
wie mehrfach angenommen wird, Verbannung des guten Cieero aus der Gymnnsial-
lektüre. Auf den völlig neuen Zug, der durch die schriftliche Übersetzung griechischer
Texte hineingekommen ist, hat mit Recht Volkmann aufmerksam gemacht (S. 198).
Nur die lebenden fremden Sprachen soll der Schiller in freiem, mündlichem
und schriftlichein Gebrauche handhaben lernen. Englisch soll an allen Schulen
gelehrt werden, an den Gymnasien fakultativ oder obligatorisch „je nach
örtlichen Verhältnissen." In der Mathematik warnen gerade Mathematiker
vor Übertreibung. Überall sind ja die Kenner maßvoll und die Halbwisser
fanatisch (dies gegen Kropatschek S. 222). Wie schlicht und wie einleuchtend
ist Helmholtzens Forderung beim physikalischen Unterricht (S. 209): Einsicht
in das Wesen und die Fülle der Anwendungen der einfachsten Naturgesetze.
Den Fehler, die Jugend sozusagen mit absoluten Maßstäben zu messen, machen
freilich auch große Sachkenner, wenn sie nicht zugleich in Vezng ans das
Werden des jugendlichen Geistes ein wenig Sachkenner sind; so Virchow mit
seinein Urteil, unsre jungen Mediziner könnten nicht sehen, nicht fühlen, nicht
hören, nicht riechen (S. 120). Das ist gewiß: der bücherwälzende, karten¬
dreschende, klemmertragende und, mit Engländern und Amerikanern verglichen,
luft- und wasserscheue Typus des jungen Deutschen ist der Veredlung dringend
bedürftig. Dafür wird in Zukunft durch eine ganz andre Ausbildung des
Körpers und der Sinne gesorgt werden, insbesondre des Auges und der Hand
im Zeichenunterricht (obligatorisch von V bis Unter-II).

Wie hat sich die Konferenz zu der Forderung des Kaisers Verhalten, das
Deutsche in den Mittelpunkt des ganzen Unterrichts zu stellen? Hören wir
zuerst die NichtPhilologen: Helmholtz, dessen zwei Reden (S. 202 und 764)
ich am liebsten. Wort für Wort herschriebe, führt bittere Klage über das Deutsch
seiner jungen Physiker (nebenbei auch der alten). Es waren ausgesuchte Leute,
und doch war es für ihn immer eine Art von Strafe, wenn am Ende des
Semesters die schriftlichen Arbeiten einliefen. Er hat diese Ausarbeitungen
oft zwei-, drei-, viermal zurückgeben müssen, so gering war die Übung, die
gefundenen Thatsachen zu ordnen und unzweideutig und scharf auszusprechen!
„Sie hatten soviel Ungezogenheiten und Nachlässigkeiten in: deutschen Ausdruck,
daß ich immer erstaunt gewesen bin." Namentlich klagt er über den Einfluß der
Leitartikelschreiber, über die bedeutsam klingenden abstrakten Worte, bei denen man
sich nichts bestimmtes denken könne, und über die schönen Einleitungen. Den
lateinischen Aufsatz bezeichnet er als den obersten aller Leitartikel, bekennt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/135>, abgerufen am 24.07.2024.