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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Alleihand Sprachdunmiheiten

Die schönen weißen Wolken ziehn dusin
Durchs tiefe Blau wie schöne stille Triimne;
Mir ist, mis ob ich längst gestorben bin (!)
Und ziehe (!) selig mit durch ewge Räume.

Das bringt man doch beim Singen kaum über die Lippen!

Leider wird die klägliche Unsicherheit im Gebrauche der Modi im Deutschen
noch durch zweierlei befördert: erstens durch die abscheuliche Unsitte, in Nebensätzen
das sogenannte Hilfszeitwort wegzulassen, zweitens durch den von Österreich und
Süddeutschland ans sich immer mehr verbreitenden widerwärtigen Provinzialismus,
den Konjunktiv des Imperfekts durch würde und den Infinitiv zu umschreiben.
Das; uns die erste Unsitte unsern ganzen Satzbau mehr und mehr ins Wanken
bringt, habe ich schon früher bei andrer Gelegenheit gesagt. Wo soll das
Gefühl oder gar das Bewußtsein von der Bedeutung der Tempora und
Modi herkommen, wenn neun Zehntel aller Schreibenden jedes ist, sei, war,
wäre, hat, habe, hatte, hätte am Eude der Nebensätze unterdrücken und
dem Leser nach Belieben zu ergänzen überlassen? In den meisten Fällen ist
dieses Unterdrücken des verächtlicherweise so genannten Hilfszeitwortes nichts
als ein bequemes Mittel, sein Ungeschick oder seine Unwissenheit zu verbergen.

Freilich ist es sehr bequem, zu schreiben: Daß viele Glieder der ersten
Gemeinde arm gewesen, ist zweifellos, daß es alle gewesen, ist sehr zu be¬
zweifeln oder: wenn man nicht annehmen will, daß seine Genialität ihm ge¬
offenbart, was andre vorher schon gefunden. Die Herren würden in schöne
Verlegenheit kommen, wenn man sie nötigen wollte, die unfertigen Sätze einmal
gefälligst fertig zu machen. Hätten sie gewußt, daß es heißen muß: daß viele
Glieder der Gemeinde arm gewesen sind, ist zweifellos, daß es alle ge¬
wesen seien, ist sehr zu bezweifeln, und: wenn man nicht annehmen will,
daß seine Genialität ihm geoffenbart habe, was andre schon vorher ge¬
funden hatten -- so hätten sie es ganz gewiß hingeschrieben. Aber man weiß
eben nichts, und da man sich doch durch Hiueintappeu in den falschen Modus
uicht blamiren will, überdies das Abdanken der Satzschwänze allgemein als
besondre Sprachschönheit gilt, so ist die Sache ja sehr einfach, man schreibt:
schon die Enkel Chlodwigs beklagten sich, daß die Kirche jetzt habe, was
einst deu Königen gehört -- die französische Presse hatte die Hoffnung
ausgesprochen, daß Straßburg die Scharte auswetzen würde, die der Patrio¬
tismus der Stadt durch die Zwischeuwahl erlitten -- Virchow meinte, wir
könnten zufrieden sein, daß wir mit einer so kleinen Niederlage davongekommen
-- Goethe stellte im Götz von Verlichingen seinem Volke dar, was es früher
gewesen und wie es durch die Herrschaft der Fremden verdorben worden --
und überläßt es dem Leser, ob er sich die unfertigen Satze aus dem Sinne
des Schreibende"! heraus oder ans dem Sinne des regierenden Subjekts heraus
(beklagte sich, hatte die Hoffnung ausgesprochen, meinte, stellte dar)


Alleihand Sprachdunmiheiten

Die schönen weißen Wolken ziehn dusin
Durchs tiefe Blau wie schöne stille Triimne;
Mir ist, mis ob ich längst gestorben bin (!)
Und ziehe (!) selig mit durch ewge Räume.

Das bringt man doch beim Singen kaum über die Lippen!

Leider wird die klägliche Unsicherheit im Gebrauche der Modi im Deutschen
noch durch zweierlei befördert: erstens durch die abscheuliche Unsitte, in Nebensätzen
das sogenannte Hilfszeitwort wegzulassen, zweitens durch den von Österreich und
Süddeutschland ans sich immer mehr verbreitenden widerwärtigen Provinzialismus,
den Konjunktiv des Imperfekts durch würde und den Infinitiv zu umschreiben.
Das; uns die erste Unsitte unsern ganzen Satzbau mehr und mehr ins Wanken
bringt, habe ich schon früher bei andrer Gelegenheit gesagt. Wo soll das
Gefühl oder gar das Bewußtsein von der Bedeutung der Tempora und
Modi herkommen, wenn neun Zehntel aller Schreibenden jedes ist, sei, war,
wäre, hat, habe, hatte, hätte am Eude der Nebensätze unterdrücken und
dem Leser nach Belieben zu ergänzen überlassen? In den meisten Fällen ist
dieses Unterdrücken des verächtlicherweise so genannten Hilfszeitwortes nichts
als ein bequemes Mittel, sein Ungeschick oder seine Unwissenheit zu verbergen.

Freilich ist es sehr bequem, zu schreiben: Daß viele Glieder der ersten
Gemeinde arm gewesen, ist zweifellos, daß es alle gewesen, ist sehr zu be¬
zweifeln oder: wenn man nicht annehmen will, daß seine Genialität ihm ge¬
offenbart, was andre vorher schon gefunden. Die Herren würden in schöne
Verlegenheit kommen, wenn man sie nötigen wollte, die unfertigen Sätze einmal
gefälligst fertig zu machen. Hätten sie gewußt, daß es heißen muß: daß viele
Glieder der Gemeinde arm gewesen sind, ist zweifellos, daß es alle ge¬
wesen seien, ist sehr zu bezweifeln, und: wenn man nicht annehmen will,
daß seine Genialität ihm geoffenbart habe, was andre schon vorher ge¬
funden hatten — so hätten sie es ganz gewiß hingeschrieben. Aber man weiß
eben nichts, und da man sich doch durch Hiueintappeu in den falschen Modus
uicht blamiren will, überdies das Abdanken der Satzschwänze allgemein als
besondre Sprachschönheit gilt, so ist die Sache ja sehr einfach, man schreibt:
schon die Enkel Chlodwigs beklagten sich, daß die Kirche jetzt habe, was
einst deu Königen gehört — die französische Presse hatte die Hoffnung
ausgesprochen, daß Straßburg die Scharte auswetzen würde, die der Patrio¬
tismus der Stadt durch die Zwischeuwahl erlitten — Virchow meinte, wir
könnten zufrieden sein, daß wir mit einer so kleinen Niederlage davongekommen
— Goethe stellte im Götz von Verlichingen seinem Volke dar, was es früher
gewesen und wie es durch die Herrschaft der Fremden verdorben worden —
und überläßt es dem Leser, ob er sich die unfertigen Satze aus dem Sinne
des Schreibende»! heraus oder ans dem Sinne des regierenden Subjekts heraus
(beklagte sich, hatte die Hoffnung ausgesprochen, meinte, stellte dar)


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[0621] Alleihand Sprachdunmiheiten Die schönen weißen Wolken ziehn dusin Durchs tiefe Blau wie schöne stille Triimne; Mir ist, mis ob ich längst gestorben bin (!) Und ziehe (!) selig mit durch ewge Räume. Das bringt man doch beim Singen kaum über die Lippen! Leider wird die klägliche Unsicherheit im Gebrauche der Modi im Deutschen noch durch zweierlei befördert: erstens durch die abscheuliche Unsitte, in Nebensätzen das sogenannte Hilfszeitwort wegzulassen, zweitens durch den von Österreich und Süddeutschland ans sich immer mehr verbreitenden widerwärtigen Provinzialismus, den Konjunktiv des Imperfekts durch würde und den Infinitiv zu umschreiben. Das; uns die erste Unsitte unsern ganzen Satzbau mehr und mehr ins Wanken bringt, habe ich schon früher bei andrer Gelegenheit gesagt. Wo soll das Gefühl oder gar das Bewußtsein von der Bedeutung der Tempora und Modi herkommen, wenn neun Zehntel aller Schreibenden jedes ist, sei, war, wäre, hat, habe, hatte, hätte am Eude der Nebensätze unterdrücken und dem Leser nach Belieben zu ergänzen überlassen? In den meisten Fällen ist dieses Unterdrücken des verächtlicherweise so genannten Hilfszeitwortes nichts als ein bequemes Mittel, sein Ungeschick oder seine Unwissenheit zu verbergen. Freilich ist es sehr bequem, zu schreiben: Daß viele Glieder der ersten Gemeinde arm gewesen, ist zweifellos, daß es alle gewesen, ist sehr zu be¬ zweifeln oder: wenn man nicht annehmen will, daß seine Genialität ihm ge¬ offenbart, was andre vorher schon gefunden. Die Herren würden in schöne Verlegenheit kommen, wenn man sie nötigen wollte, die unfertigen Sätze einmal gefälligst fertig zu machen. Hätten sie gewußt, daß es heißen muß: daß viele Glieder der Gemeinde arm gewesen sind, ist zweifellos, daß es alle ge¬ wesen seien, ist sehr zu bezweifeln, und: wenn man nicht annehmen will, daß seine Genialität ihm geoffenbart habe, was andre schon vorher ge¬ funden hatten — so hätten sie es ganz gewiß hingeschrieben. Aber man weiß eben nichts, und da man sich doch durch Hiueintappeu in den falschen Modus uicht blamiren will, überdies das Abdanken der Satzschwänze allgemein als besondre Sprachschönheit gilt, so ist die Sache ja sehr einfach, man schreibt: schon die Enkel Chlodwigs beklagten sich, daß die Kirche jetzt habe, was einst deu Königen gehört — die französische Presse hatte die Hoffnung ausgesprochen, daß Straßburg die Scharte auswetzen würde, die der Patrio¬ tismus der Stadt durch die Zwischeuwahl erlitten — Virchow meinte, wir könnten zufrieden sein, daß wir mit einer so kleinen Niederlage davongekommen — Goethe stellte im Götz von Verlichingen seinem Volke dar, was es früher gewesen und wie es durch die Herrschaft der Fremden verdorben worden — und überläßt es dem Leser, ob er sich die unfertigen Satze aus dem Sinne des Schreibende»! heraus oder ans dem Sinne des regierenden Subjekts heraus (beklagte sich, hatte die Hoffnung ausgesprochen, meinte, stellte dar)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/621>, abgerufen am 23.07.2024.