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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Geschichlsphilosophische Gedanken

und Stimmung der Urchristen aus, die das jenseitige Ziel unmittelbar bevor¬
stehend wähnten und es kaum der Mühe wert erachteten, sich noch mit den
diesseitigen Dingen zu befassen. Schon Paulus jedoch machte die Erfahrung,
daß es hienieden auch für die Christen, und gerade sür die Christen, noch
vielerlei zu thun gebe; in seinen Briefen schwebt nicht die reine christliche Idee
friedlich einher, sondern tobt der Kampf um ihre Verwirklichung in einer
widerstrebende" Welt, daher sie im Gegensatz zu der göttlichen, beinahe heitern
Ruhe der Evangelien voll unruhiger Bewegung sind. In den Zeiten der
Christenverfolgungen, dann der Völkerwanderung, wo die römische Kirche er¬
starkte, blieb der Blick der Frommen aufs Jenseits gerichtet, weil das Dies¬
seits in dem ersten dieser beiden Zeitabschnitte den Christen feindlich, im zweiten
aber in der Auflösung begriffen und wertlos erschien; wurde doch jede Neu¬
bildung, nachdem sie kaum mit vieler Mühe über ihre ersten Anfänge hinauf¬
gebracht war, sofort durch einen neuen Sturm wieder über den Haufen ge¬
worfen. So lebte man, Nothütten für den Augenblick errichtend, in Erwartung
des nahen Weltendes bis zum Jahre 1000; und nun erst, nachdem diese
Erwartung getäuscht worden war, und bei der mittlerweile errungnen größern
Daseinssicherheit die Beschäftigung mit den irdischen Dingen der Mühe zu
lohnen schien, richtete 'man sich häuslich ein ans Erden und begann mit der
Erbauung gewaltiger Kathedralen. Der wachsende Reichtum reizte mehr und
mehr die Genußsucht, und als im fünfzehnten Jahrhundert das alte heitere
Heidentum wieder auflebte, während sich gleichzeitig die Schätze des Orients,
bald auch die der neuen Welt über Europa ergossen, da kannte die Welt¬
freude keine Grenzen mehr; heidnische Ausschweifung, weltliche Kunst, wissen¬
schaftliche Forschung, wetteifernde Gewerbe, kaufmännische Spekulation und
asketische Weltflucht spielten in einander; an eine innere Vermittlung der un¬
vereinbar scheinenden Gegensätze wurde kaum gedacht, und nicht wenige
taumelten in abwechselnden Ausschweifungen und Bußübungen zwischen beiden
hin und her.

Daß es ein bedenkliches und nicht selten gefährliches Unternehmen sei,
an seiner Seele zu ihrer Vervollkommnung unmittelbar herumzuarbeiten, wie
das heute wiederum sehr eifrig in der katholischen Kirche betrieben wird, nach¬
dem die Jesuiten durch ihre exerolliÄ sMwlüm Methode in die Sache gebracht
haben, daß vielmehr das Heil in der treuen Erfüllung der weltlichen Pflichten
zu suchen sei, wie sie der Tag mit sich bringt, das war keine neue Entdeckung
Luthers; aber dieser Ansicht zuerst bei den protestantischen Völkern allgemeine
Geltung verschafft zu haben, ist ein unbestreitbares Verdienst der Reformatoren.
Sie hat seitdem auch bei den katholischen allgemein Eingang gefunden und
sozusagen ein Medium geschaffen für eine gemeinsame Wirksamkeit der Kon¬
fessionen und der Konfessionslosen. Der moderne Mensch greift die Dinge
herzhaft an auf dem Flecke, wohin ihn Gott gestellt hat, glaubt eben dadurch


Geschichlsphilosophische Gedanken

und Stimmung der Urchristen aus, die das jenseitige Ziel unmittelbar bevor¬
stehend wähnten und es kaum der Mühe wert erachteten, sich noch mit den
diesseitigen Dingen zu befassen. Schon Paulus jedoch machte die Erfahrung,
daß es hienieden auch für die Christen, und gerade sür die Christen, noch
vielerlei zu thun gebe; in seinen Briefen schwebt nicht die reine christliche Idee
friedlich einher, sondern tobt der Kampf um ihre Verwirklichung in einer
widerstrebende» Welt, daher sie im Gegensatz zu der göttlichen, beinahe heitern
Ruhe der Evangelien voll unruhiger Bewegung sind. In den Zeiten der
Christenverfolgungen, dann der Völkerwanderung, wo die römische Kirche er¬
starkte, blieb der Blick der Frommen aufs Jenseits gerichtet, weil das Dies¬
seits in dem ersten dieser beiden Zeitabschnitte den Christen feindlich, im zweiten
aber in der Auflösung begriffen und wertlos erschien; wurde doch jede Neu¬
bildung, nachdem sie kaum mit vieler Mühe über ihre ersten Anfänge hinauf¬
gebracht war, sofort durch einen neuen Sturm wieder über den Haufen ge¬
worfen. So lebte man, Nothütten für den Augenblick errichtend, in Erwartung
des nahen Weltendes bis zum Jahre 1000; und nun erst, nachdem diese
Erwartung getäuscht worden war, und bei der mittlerweile errungnen größern
Daseinssicherheit die Beschäftigung mit den irdischen Dingen der Mühe zu
lohnen schien, richtete 'man sich häuslich ein ans Erden und begann mit der
Erbauung gewaltiger Kathedralen. Der wachsende Reichtum reizte mehr und
mehr die Genußsucht, und als im fünfzehnten Jahrhundert das alte heitere
Heidentum wieder auflebte, während sich gleichzeitig die Schätze des Orients,
bald auch die der neuen Welt über Europa ergossen, da kannte die Welt¬
freude keine Grenzen mehr; heidnische Ausschweifung, weltliche Kunst, wissen¬
schaftliche Forschung, wetteifernde Gewerbe, kaufmännische Spekulation und
asketische Weltflucht spielten in einander; an eine innere Vermittlung der un¬
vereinbar scheinenden Gegensätze wurde kaum gedacht, und nicht wenige
taumelten in abwechselnden Ausschweifungen und Bußübungen zwischen beiden
hin und her.

Daß es ein bedenkliches und nicht selten gefährliches Unternehmen sei,
an seiner Seele zu ihrer Vervollkommnung unmittelbar herumzuarbeiten, wie
das heute wiederum sehr eifrig in der katholischen Kirche betrieben wird, nach¬
dem die Jesuiten durch ihre exerolliÄ sMwlüm Methode in die Sache gebracht
haben, daß vielmehr das Heil in der treuen Erfüllung der weltlichen Pflichten
zu suchen sei, wie sie der Tag mit sich bringt, das war keine neue Entdeckung
Luthers; aber dieser Ansicht zuerst bei den protestantischen Völkern allgemeine
Geltung verschafft zu haben, ist ein unbestreitbares Verdienst der Reformatoren.
Sie hat seitdem auch bei den katholischen allgemein Eingang gefunden und
sozusagen ein Medium geschaffen für eine gemeinsame Wirksamkeit der Kon¬
fessionen und der Konfessionslosen. Der moderne Mensch greift die Dinge
herzhaft an auf dem Flecke, wohin ihn Gott gestellt hat, glaubt eben dadurch


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[0597] Geschichlsphilosophische Gedanken und Stimmung der Urchristen aus, die das jenseitige Ziel unmittelbar bevor¬ stehend wähnten und es kaum der Mühe wert erachteten, sich noch mit den diesseitigen Dingen zu befassen. Schon Paulus jedoch machte die Erfahrung, daß es hienieden auch für die Christen, und gerade sür die Christen, noch vielerlei zu thun gebe; in seinen Briefen schwebt nicht die reine christliche Idee friedlich einher, sondern tobt der Kampf um ihre Verwirklichung in einer widerstrebende» Welt, daher sie im Gegensatz zu der göttlichen, beinahe heitern Ruhe der Evangelien voll unruhiger Bewegung sind. In den Zeiten der Christenverfolgungen, dann der Völkerwanderung, wo die römische Kirche er¬ starkte, blieb der Blick der Frommen aufs Jenseits gerichtet, weil das Dies¬ seits in dem ersten dieser beiden Zeitabschnitte den Christen feindlich, im zweiten aber in der Auflösung begriffen und wertlos erschien; wurde doch jede Neu¬ bildung, nachdem sie kaum mit vieler Mühe über ihre ersten Anfänge hinauf¬ gebracht war, sofort durch einen neuen Sturm wieder über den Haufen ge¬ worfen. So lebte man, Nothütten für den Augenblick errichtend, in Erwartung des nahen Weltendes bis zum Jahre 1000; und nun erst, nachdem diese Erwartung getäuscht worden war, und bei der mittlerweile errungnen größern Daseinssicherheit die Beschäftigung mit den irdischen Dingen der Mühe zu lohnen schien, richtete 'man sich häuslich ein ans Erden und begann mit der Erbauung gewaltiger Kathedralen. Der wachsende Reichtum reizte mehr und mehr die Genußsucht, und als im fünfzehnten Jahrhundert das alte heitere Heidentum wieder auflebte, während sich gleichzeitig die Schätze des Orients, bald auch die der neuen Welt über Europa ergossen, da kannte die Welt¬ freude keine Grenzen mehr; heidnische Ausschweifung, weltliche Kunst, wissen¬ schaftliche Forschung, wetteifernde Gewerbe, kaufmännische Spekulation und asketische Weltflucht spielten in einander; an eine innere Vermittlung der un¬ vereinbar scheinenden Gegensätze wurde kaum gedacht, und nicht wenige taumelten in abwechselnden Ausschweifungen und Bußübungen zwischen beiden hin und her. Daß es ein bedenkliches und nicht selten gefährliches Unternehmen sei, an seiner Seele zu ihrer Vervollkommnung unmittelbar herumzuarbeiten, wie das heute wiederum sehr eifrig in der katholischen Kirche betrieben wird, nach¬ dem die Jesuiten durch ihre exerolliÄ sMwlüm Methode in die Sache gebracht haben, daß vielmehr das Heil in der treuen Erfüllung der weltlichen Pflichten zu suchen sei, wie sie der Tag mit sich bringt, das war keine neue Entdeckung Luthers; aber dieser Ansicht zuerst bei den protestantischen Völkern allgemeine Geltung verschafft zu haben, ist ein unbestreitbares Verdienst der Reformatoren. Sie hat seitdem auch bei den katholischen allgemein Eingang gefunden und sozusagen ein Medium geschaffen für eine gemeinsame Wirksamkeit der Kon¬ fessionen und der Konfessionslosen. Der moderne Mensch greift die Dinge herzhaft an auf dem Flecke, wohin ihn Gott gestellt hat, glaubt eben dadurch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/597>, abgerufen am 23.07.2024.