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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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liegen, den äußern Erfolg eines Schauspiels bei der ersten Aufführung unge¬
fähr so bestimmt, wie die Kurse an der Börse durch das jeweilig die Obmacht
führende Konsortium von Geldmäunern "notirt" werden. Dieses Publikum,
das in seiner Mehrheit von sklavischer Unterthänigkeit vor allem Fremdländischen
überfließt und selbst die schmachvollsten Zumutungen, die von dem litterarischen
Zigeunertum des Auslandes um die Empfindlichkeit des deutschen Geistes ge¬
stellt werde", mit dem ständig gewordenen Beiwort "hochinteressant" beschönigt,
hat denn auch die Zuversicht des Direktors des Lessingtheaters nicht getäuscht.
Mit jubelnden Beifall ist von diesem Publikum ein Schauspiel aufgenommen
worden, das ans der niedrigsten Stufe dichterischer Kunst steht, und nur nach
dem vierten, dem letzten Akte erhoben sich schüchtern einige Stimmen, die sich
verwahren wollten gegen die Vergewaltigung des guten Geschmackes und des
gefunden Menschenverstandes, die stärker und verächtlicher ist, als die
"Tyrannei der Kanaillen," gegen die der Verfasser im ersten Akt einen seiner
nnter dem Drucke der Schreckensmänner seufzenden Helden donnern läßt.

Wir Deutschen sind, trotz der eifrigen Bemühungen einiger Modephilosophen
und der uus aus dein Auslande aufgezwungenen "führenden Geister" im Stile
von Ibsen, Tolstoi und Genossen, immer noch nicht pessimistisch genug gestimmt
worden, n"> an der ausgleichenden Gerechtigkeit ganz zu verzweifeln. Hier
kommt uns die Geduld zu Nutze, die uns sonst zum Schaden gereicht. Wenn
auch jetzt, wo diese Zeilen geschrieben werden, noch kein Urteil über den weitern
äußern Erfolg des Sardouscheu Schauspiels in Berlin gesprochen werden
kaun, so liegt doch schon eine Äußerung Sardous vor: er spricht in einem
Briefe an eine Pariser Zeitung dem Direktor Blumenthal, der uach dem
dritten Akte für die dem französischen Dichter erwiesene Gastfreundschaft
dankte, das Recht zu dieser Danksagung ab, weil er an der Berliner Auf¬
führung keinen Anteil genommen habe. Sardon hat also selbst Justiz geübt
an denen, die ihm nachgelaufen sind. Wir überlassen sie dem Schicksal, das
sie sich selbst bereitet haben; denn das elende Machwerk Sardons ist nicht
wert, daß sich weitere .Kreise in Deutschland darüber ereifern. Wir sind überdies
an die Erfahrung gewöhnt, daß das empfindsamste Volk der Welt nicht auch
das empfindlichste ist.

Unabhängig aber von dem Urteil, das der Tag, die Laune einer zügel¬
losen Menge und unberechenbare Zwischenfälle über ein politisches oder mit
politischen Vorgängen verknüpftes Theaterstück sprechen, ist das der ästhetischen
Kritik, und dieses Urteil hat ein bei weitem schwereres Gewicht als die chau¬
vinistische Erregung, die eine Woche lang Paris durchzittert und die Zeitungen
Europas mit ihrem Widerhall erfüllt. Sardous "Thermidor" ist ein Schau¬
spiel, das vielleicht sogar auf das dichterische Schaffen wie auf die litterarische
Kritik in Deutschland eine heilsame Wirkung ausüben wird. Die Anhänger
der alten Ästhetik und die kritischen Vorkämpfer des Realismus und Natura-


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liegen, den äußern Erfolg eines Schauspiels bei der ersten Aufführung unge¬
fähr so bestimmt, wie die Kurse an der Börse durch das jeweilig die Obmacht
führende Konsortium von Geldmäunern „notirt" werden. Dieses Publikum,
das in seiner Mehrheit von sklavischer Unterthänigkeit vor allem Fremdländischen
überfließt und selbst die schmachvollsten Zumutungen, die von dem litterarischen
Zigeunertum des Auslandes um die Empfindlichkeit des deutschen Geistes ge¬
stellt werde», mit dem ständig gewordenen Beiwort „hochinteressant" beschönigt,
hat denn auch die Zuversicht des Direktors des Lessingtheaters nicht getäuscht.
Mit jubelnden Beifall ist von diesem Publikum ein Schauspiel aufgenommen
worden, das ans der niedrigsten Stufe dichterischer Kunst steht, und nur nach
dem vierten, dem letzten Akte erhoben sich schüchtern einige Stimmen, die sich
verwahren wollten gegen die Vergewaltigung des guten Geschmackes und des
gefunden Menschenverstandes, die stärker und verächtlicher ist, als die
„Tyrannei der Kanaillen," gegen die der Verfasser im ersten Akt einen seiner
nnter dem Drucke der Schreckensmänner seufzenden Helden donnern läßt.

Wir Deutschen sind, trotz der eifrigen Bemühungen einiger Modephilosophen
und der uus aus dein Auslande aufgezwungenen „führenden Geister" im Stile
von Ibsen, Tolstoi und Genossen, immer noch nicht pessimistisch genug gestimmt
worden, n»> an der ausgleichenden Gerechtigkeit ganz zu verzweifeln. Hier
kommt uns die Geduld zu Nutze, die uns sonst zum Schaden gereicht. Wenn
auch jetzt, wo diese Zeilen geschrieben werden, noch kein Urteil über den weitern
äußern Erfolg des Sardouscheu Schauspiels in Berlin gesprochen werden
kaun, so liegt doch schon eine Äußerung Sardous vor: er spricht in einem
Briefe an eine Pariser Zeitung dem Direktor Blumenthal, der uach dem
dritten Akte für die dem französischen Dichter erwiesene Gastfreundschaft
dankte, das Recht zu dieser Danksagung ab, weil er an der Berliner Auf¬
führung keinen Anteil genommen habe. Sardon hat also selbst Justiz geübt
an denen, die ihm nachgelaufen sind. Wir überlassen sie dem Schicksal, das
sie sich selbst bereitet haben; denn das elende Machwerk Sardons ist nicht
wert, daß sich weitere .Kreise in Deutschland darüber ereifern. Wir sind überdies
an die Erfahrung gewöhnt, daß das empfindsamste Volk der Welt nicht auch
das empfindlichste ist.

Unabhängig aber von dem Urteil, das der Tag, die Laune einer zügel¬
losen Menge und unberechenbare Zwischenfälle über ein politisches oder mit
politischen Vorgängen verknüpftes Theaterstück sprechen, ist das der ästhetischen
Kritik, und dieses Urteil hat ein bei weitem schwereres Gewicht als die chau¬
vinistische Erregung, die eine Woche lang Paris durchzittert und die Zeitungen
Europas mit ihrem Widerhall erfüllt. Sardous „Thermidor" ist ein Schau¬
spiel, das vielleicht sogar auf das dichterische Schaffen wie auf die litterarische
Kritik in Deutschland eine heilsame Wirkung ausüben wird. Die Anhänger
der alten Ästhetik und die kritischen Vorkämpfer des Realismus und Natura-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/576>, abgerufen am 23.07.2024.